Das Warten verlebendigen
In Sherko Fatahs Roman ist es „Der große Wunsch“ des Vaters, den seiner Tochter zu verstehen
Von Frank Riedel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer siebte, nach Das dunkle Schiff (2008) der zweite für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman des literarischen Grenzgängers Sherko Fatah führt einmal mehr in das Gebiet, das die Türkei, Syrien und den Irak trennt – oder verbindet. Die Hauptfigur Murad wird von einem Lastwagen an diesen „Ort im Nirgendwo“ in einer „gottverlassenen Gegend“ gebracht. Der Grund, aus Berlin in die Region zu reisen, in der er als Kind lebte und für die er heute längst kein Heimatgefühl mehr entwickeln kann, ist dramatisch: Seine Tochter Naima war ohne ein Abschiedswort einem Glaubenskrieger nach Syrien gefolgt, hatte ihn geheiratet und sich dem Islamischen Staat angeschlossen. Der Vater, der sich rasend schnell im Westen eingelebt und angepasst hat, sodass sogar sein Magen auf das dortige Wasser und Essen nun mit Durchfall reagiert, muss für sich entsprechend schmerzhaft feststellen: „Migration verändert Menschen, vor allem aber deren Kinder.“ Wie es bei seiner noch sehr jungen Tochter zu einem solchen „Rückfall“ kommen konnte, ist ihm schleierhaft und völlig unbegreiflich. Es erscheint ihm „wie der hoffnungslose Versuch, zurückzukehren in eine Welt, die sie kaum kannte.“ So etwas kann doch nicht nur aus Abenteuerlust geschehen, um aus einem reizlosen Alltag in Deutschland auszubrechen.
Um die Spur zu seiner abtrünnigen, für ihn unerreichbaren, rebellierenden Tochter auch nur finden zu können, ist Murad auf die Hilfe Einheimischer angewiesen. Neben Geduld, Geld und Optimismus verlangt sein Unterfangen auch ein riesiges Vertrauen in die Menschen, gegenüber denen jede Form von Skepsis durchaus angebracht wäre.
Abbas und Alija, bei denen Murad gegen gute Bezahlung im Grenzgebiet unterkommt, sind neugierig, woher er so viel Geld hat, sein Freund und Geschäftspartner in Berlin, der Freelance-Kriegsberichterstatter Aziz, verspricht hinzuzukommen, und der irakische Student Adnan kutschiert ihn gegen Bares überall hin. Er fährt ihn auch zu den sehnsüchtig erwarteten Treffen mit Aram, dem Boten, Schleuser oder Informanten, und seinen zwielichtigen Freunden, von denen Murad häppchenweise ominöse Audiofiles, auf denen angeblich Naima spricht, und Fotos einer verschleierten Frau erhält, bei der es sich ebenfalls um die Gesuchte handeln soll. Sie sind seine Chance, die Tochter wiederzusehen, auch wenn unklar ist, wie diese die Aktion des Vaters aufnehmen wird. In einem Audiofile heißt es von der mutmaßlichen Naima vielsagend, dass das Früher hinter ihr läge und es so gut sei. Während Murad auf Neuigkeiten wartet, ist er per Smartphone durch SMS und Anrufe auch immer wieder mit seiner ehemaligen Partnerin, Naimas Mutter Dorothee, in Kontakt.
Da das kleine Figurenensemble oft tagelang gar nicht und wenn, nur sehr knapp, miteinander kommuniziert, wandert die Hauptfigur durch das menschenfeindliche, trockene Bergland, erlebt als Eremit jede Belanglosigkeit intensiv, entschleunigt und auf das Wesentliche konzentriert. Der suchende Vater zerbricht sich den Kopf darüber, was er nun tun und glauben soll oder einst hätte anders machen können. Es passiert wirklich nicht viel in dem seitenstarken Werk, aber Fatah schafft es, das Lesepublikum auf die Seite des Protagonisten zu ziehen und ebenso gespannt wie geduldig mitwarten zu lassen. Es gelingt ihm in seiner Darstellung, die Ungewissheit, Verzweiflung und das Misstrauen seines Protagonisten ebenso nachvollziehbar zu machen, wie seine unerschöpfliche Hoffnung auf ein gutes Ende.
Während Fatah in seinen früheren Romanen aus verschiedenen Perspektiven historische, politische und gesellschaftliche Geschehnisse, Strukturen und das kriegerische und religiöse Erbe der irakisch-kurdischen Welt für ein deutschsprachiges Lesepublikum literarisch verarbeitet hat, geht es in diesem Roman um den Bruch zwischen den Einwander:innen-Generationen. Murad stellt sowohl den Zulauf des IS aus westlichen Demokratien frustriert als „[e]inen Kinderkreuzzug von wohlstandsverwahrlosten Verlierern der Migration“, als auch den Einfluss der Eltern auf das Denken und Handeln ihrer Kinder zur Diskussion. Dort, wo es dezidiert politisch wird, beleuchtet Fatah die Hintergründe des regionalen Konflikts und lässt seine Figur fremde Regime für die Taten des IS verantwortlich machen: „Die wahren Täter sitzen in Damaskus, in Teheran und in Moskau.“
Neben den gewohnt kargen, aber sprachlich faszinierend ausformulierten Landschaftsbeschreibungen gelingt es Sherko Fatah, angemessen und feinfühlig zu schildern, ja zu verlebendigen, wie ein im Westen sozialisierter Vater damit zurechtkommt oder eben daran scheitert, wenn sich sein Kind radikalisiert und einem strengreligiösen, menschenverachtenden Kalifat anschließt. Und doch steht am Ende zu unser aller Bedauern jene Frage im Raum, die einen durch die ganze Lektüre begleitet: wie man nämlich jemanden, „auch wenn man ihn noch so sehr liebt, vor dessen eigenen Wünschen“ rettet.
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