Unmoralische Beziehungen

Tom Crewes unterhaltsamer Debütroman „Das neue Leben“ führt den Leser in die Welt spätviktorianischer Moralvorstellungen inmitten der Moderne

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist noch gar nicht so lange her, dass man aufgrund geltender Gesetze, die von Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen einer Gesellschaft zeugen, wegen der Veröffentlichung von Büchern mit Beschlagnahmungen, Druckverboten oder gar Gefängnisstrafen rechnen musste. Und das betraf bei weitem nicht nur Bücher mit weltanschaulichem oder wissenschaftlichem Inhalt, sondern auch Texte der fiktionalen Literatur. Vom Markt genommene Bücher sind keine Spezialität vergangener vermeintlich ‚finsterer‘ und lange zurückliegender Epochen, sondern auch in der Zeit um 1900, die kultur- und literaturwissenschaftlich den Beginn der avantgardistischen Moderne-Strömungen markiert, an der Tagesordnung. So wurden die Gedichtbände des Décadence-Poeten Felix Dörmann und der Roman Die gute Schule des Spiritus Rector der Jungwiener Nervenkünstler, Hermann Bahr, beschlagnahmt und verboten und Autoren wie Arthur Schnitzler oder Oskar Panizza wurde wegen ihrer Theaterstücke der Prozess gemacht. Die Liste ließe sich mühelos um etliche Werke und Literaten erweitern.

Im Falle des als frühes wissenschaftliches Werk zur Homosexualität geltenden und 1896 zum ersten Mal publizierten Buches A problem in modern ethics. Being an inquiry into the phenomenon of sexual inversion der Verfasser John Addington Symonds (1840–1893) und Havelock Ellis (1859–1939) ist die Verbots- und Beschlagnahmungsperspektive, die am Ende von Crewes Roman steht, allerdings nur Fiktion: In Wirklichkeit erlebte die Studie bis 1915 sogar fünf weitere Auflagen. Gleichwohl heißt das nicht, dass die von Symonds und Ellis problematisierte Kriminalisierung homosexueller Handlungen unter erwachsenen Männern – Frauen waren im Gesetz gar nicht berücksichtigt und hatten also auch keine Strafen zu fürchten – im England der Jahrhundertwende nicht tatsächlich in hohem Maße Betroffene in unsägliche Gewissenskonflikte brachte, wie es Crewe am Beispiel seiner Romanfiguren John Addington und Henry Ellis demonstriert, die an den historischen Autoren und Medizinern Symonds und Ellis angelehnt sind.

Die erzählte Zeit umfasst dabei die eineinhalb Jahre vom Juni 1894 bis zum Spätjahr 1895, in denen der Leser in drei Teilen kapitelweise abwechselnd die Familienverhältnisse der beiden Hauptfiguren John und Henry, ihre gesellschaftliche Herkunft und soziale Stellung sowie ihre wissenschaftlichen und literarischen Ambitionen kennenlernt. Crewes nicht nur ungemein unterhaltsamen, sondern auch klug konzipierten und fulminant erzählten Debütroman geht es nun gerade nicht um eine historisch genaue Rekonstruktion der Ereignisse rund um die Publikation des Buches Sexual Invserion. Insofern ist der Text durchaus auch stark der Gattung des historischen Romans verpflichtet, weil er sich – wie seine Vorläufer in der Gattungsgeschichte – im Umgang mit Namen und Daten alle Freiheiten nimmt. Denn der historische John Addington Symonds starb bereits 1893, also ein Jahr, bevor die Geschichte überhaupt einsetzt, und er war seinem Mitverfasser Ellis nie persönlich begegnet. Crewes nutzt die historische Konstellation, um die Triebfedern und Spannungsfelder von Personen einzufangen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte etwas Richtiges wollen und gesetzliches Unrecht zu beseitigen beabsichtigen, doch dabei immer wieder von gesellschaftlichen Zwängen und gesetzlich beängstigenden Konsequenzen eingeholt, ja eingeschüchtert werden.

Dass die Homosexualität auch pars pro toto für eine heruntergekommene und überholte Sexual- und Sittlichkeitsvorstellung einer gesamten Gesellschaft stehen kann, wird im Erzählverlauf daran deutlich, dass alle nicht homosexuellen Personen – und das sind die meisten – im Umkreis von John Addington in moralische und gesetzliche Konflikte geraten, die nicht selten die schlechtesten Charaktereigenschaften des Menschen zutagefördern. Denn am Ende kapitulieren und resignieren alle Beteiligten angesichts des enormen Drucks und der Gefahr, das eigene Leben mit dem Eintreten für diese Sache zu ruinieren und sowohl wirtschaftliche als auch sozial unterzugehen. Die Tragik des Geschehens liegt für eine der Figuren, John, darin, dass er als einziger von der Homosexualität selbst betroffen ist und nicht einfach (wie er einmal Henry gegenüber gesteht, als dieser schon von einer möglichen Verteidigung des Buches vor Gericht zurückgetreten ist) die Zukunft abwarten will und kann, weil in dieser Zeit sein Leben vergeht, ohne dass er seine Wünsche und sinnlich-sexuelle Veranlagung öffentlich – und in diesem Falle vor allem: straffrei – hätte ausleben können.

Dabei ist die Gesetzeslage, die der Roman literarisiert, europäisch betrachtet ein englisches Spezifikum: Zwar waren homosexuelle Orientierung und Handlungen in jeder Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts unstatthaft und tabuisiert, doch waren sie zumindest in einigen Territorien des Deutschen Bundes, etwa den Königreichen Hannover und Bayern nach der Einführung der napoleonischen Gesetzgebung, zumindest – und immer natürlich nur unter Erwachsenen – straffrei. In England indessen kulminierte die restriktive Bestrafung von Homosexualität in dem auch im Roman thematisierten, aufsehenerregenden Prozess 1895 gegen Oscar Wilde, wenngleich die Vorgeschichte und Wildes eigenes Kalkül in seinem Vorgehen komplexer sind als es manche Zusammenfassung der Ereignisse zugestehen möchte. 

Man wird der erzählerischen Qualität, deren sprachlich-gewitzte Leichtigkeit Frank Heribert stilsicher ins Deutsche übertragen hat, nicht gerecht, reduzierte man diesen Debütroman nur auf sein Thema. Denn dieses kommt nur zur Geltung und gewinnt unser Interesse, weil Crewe es versteht, seinen Erzähler immer wieder die unterschiedlichen Perspektiven seiner Figuren einnehmen zu lassen, durch die viele der Beobachtungen und atmosphärisch dicht beschriebenen Wahrnehmungsweisen jener Wirklichkeit um 1900 vom Plot her plausibel, von der Darstellung durchaus unterhaltsam vom Leser rezipiert werden.

Der Roman beginnt im Juni 1894, indem ein Tag der Sommerleichtigkeit evoziert wird und eine Szene ungeheurer (verbotener) Intimität zwischen zwei Männern in der U-Bahn ganz aus der Perspektive Johns geschildert wird, in der höchste Sinnlichkeit und gleichzeitige äußerliche Alltäglichkeit miteinander verbunden werden – was sich dann nach einigen Seiten als Traumphantasie Johns erweisen wird. Gleichzeitig ist dieses Bild des Mannes in der Londoner U-Bahn, der sich nach körperlicher Nähe und erfüllter Leidenschaft sehnt, auch ein Symbol des modernen Menschen, gefangenen in der Massengesellschaft und der Großstadt. Damit werden jene Spannungsfelder zwischen euphorischem Aufbruch und nervöser Resignation aufgerufen, die in Texten der Moderneströmungen um 1900 von Schnitzler bis Rilke, von Benn bis Thomas Mann literarisiert wurden.

Crewe ist aber kein Epigone jener Autoren, sondern konzipiert seinen Erzähler als postmoderne Instanz, die zwischen historischer Distanz zum Erzählten und der Einnahme zeitgebundener Figurenperspektiven changiert. Letztere Technik der internen Fokalisierung, also des Erzählens aus dem Wissenshorizont einzelner Figuren heraus, führt dem heutigen Leser die Absurdität mancher Moralvorstellungen vor Augen und markiert gleichsam die aus der Sicht der Figuren historische Dringlichkeit von Veränderungen, wenn etwa ernsthaft über schwerwiegende gesundheitliche Folgen durch die Onanie sinniert wird oder man sich auch im geschützten Raum Gleichgesinnter nicht mit der Frage „Bist du schwul?“, sondern „Bist du invertiert?“ begegnete.

Es zeigt sich an Crewes Romandebüt einmal mehr, dass in der angelsächsischen Literatur Unterhaltung und Literarizität kein Widerspruch sein muss. Im Gegenteil: Crewes Roman sprüht nur so von originellen Einfällen, besticht mit einem Gespür für sprachliche Nuancen, poetische Bilder und ein Erzählverfahren, mit denen Situationen oftmals so eingefangen werden, als würde sich vor den Augen des Lesers ein impressionistisches Gemälde von Pissarro oder Monet verlebendigen. Es wäre ein Leichtes, Crewe vorzuwerfen, dass er mit der Integration von noch anderen politisch-sozialen Themen wie dem Frauenwahlrecht oder der (wissenschaftlichen) Frauenemanzipation seinen Roman überfrachtet. Bei der Leichtigkeit seines Erzählens fällt das allerdings kaum ins Gewicht, sondern illustriert einmal mehr die Janusköpfigkeit der Moderne zwischen Aufbruch und Rückwärtsgewandtheit. Es bleibt zu hoffen, dass der auch als Historiker und Essayist in Erscheinung getretene Autor nach seinem Debüt der fiktionalen Literatur treu bleiben wird.

Titelbild

Tom Crewe: Das Neue Leben.
Aus dem Englischen von Frank Heibert.
Insel Verlag, Berlin 2023.
445 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783458643876

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