Von der Lust des philologischen Mikroskopierens
Der Literaturwissenschaftler Wolfram Groddeck ist ein Experte in Sachen Robert Walser und bilanziert nun in der Aufsatzsammlung „Meine Bemühungen“, was er auf verschlungensten Pfaden alles gefunden hat
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWolfram Groddeck gibt zusammen mit Barbara von Reibnitz seit vielen Jahren die Robert-Walser-Werkausgabe im Schwabe Verlag (Basel) heraus, die gemächlich weiterwächst, inzwischen schon einen stattlichen Umfang angenommen hat, aber noch lange nicht vollständig ist. Am Ende werden es fast fünfzig Bände sein – eine Zahl, die schon deshalb staunen macht, weil Walser neben seinen quantitativ überschaubar zu nennenden Buchpublikationen vor allem ein Meister des kleinen und kleinsten Formats war. Wie konnte da nur so viel zusammenkommen? Klar, die werkgenetischen Erkenntnisse wollen naturgemäß mit hinein und die haben in solchen Fällen einen unbestreitbaren „Blähfaktor“. Wogegen freilich nichts einzuwenden ist, weil sie uns im konkreten Fall mit einer tadellosen Werkedition zugleich den aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschungsstand mitliefern.
Nebenbei gefragt: Wie ist das eigentlich, färbt die Beschäftigung mit einem bestimmten Autor oder einer Autorin beim Schreiben über sie ab? Klingen Aufsätze über Goethe anders als solche über Beckett oder Woolf oder Morrison, weil darin deren „Tonlage“ gleichsam mitschwingt? Eine allgemeine Aussage kann ich dazu zwar nicht treffen, zumindest aber feststellen – um hier zu Groddecks Aufsatzsammlung zu kommen –, dass Empathie in der literaturwissenschaftlichen Spurensuche erkenntnisfördernd wirkt. Denn man muss sich ganz einfach auf das Denken eines anderen einlassen können. Am Ende geht es um die minutiöse Sammlung von Indizien und Beweisen. Und genau da erweist sich Groddeck als höchst verlässlich.
Walser nannte sich selbst einen „Prosastückeschreiber“ und Groddeck macht es ihm nach und präsentiert sich als Aufsatzschreiber, fügt dabei zusammen, was im Laufe der Jahre für diesen oder jenen Anlass zu Papier gebracht wurde. Ein Gesamtbild wird daraus nicht, aber die Fragmente sind jedes für sich in ihren präzisen Beobachtungen und Vernetzungen wertvoll und lehrreich. Mir fällt da Roland Barthes ein, der sich sein ganzes Leben lang mit Marcel Proust beschäftigte und sich und uns Leser*innen die Quintessenz seiner Beschäftigung schuldig blieb, um es am Ende bei einzelnen Facetten zu belassen.
Man erfährt viel über Walsers eigenwillige, geradezu pedantische Arbeitsweise, über sein schriftstellerisches Selbstverständnis und seine künstlerische Persönlichkeit und ebenso über die Bedeutung der Schrift (Stichwort „Mikrogramme“), die das Schreiben für Walser im wortwörtlichen Sinne zum Handwerk werden ließ. Die „Mikrogramme“, diese auf Zettelchen in winziger Schrift notierten Textentwürfe und Gedichte, entwickeln als Objekte selbst eine „unmittelbar künstlerische Wirkung“. Die Handschrift wird so „essentieller Teil schriftstellerischen Tuns“, bemerkt Groddeck. Unversehens wird noch das Schreiben selbst zum Thema des Schreibens. Walser spricht in diesem Zusammenhang von sich als „Inhaber eines Nachrichtenetablissements“, der mit Geschriebenem handelt und es unentwegt hervorbringt:
Der Autor Walser, der geschäftige Feuilletonist, empfiehlt sich, als „wäre [er] ein Kurt vom Walde“, und bleibt bei seiner Identität als „flinker Handelsreisender“ im „Blätterwald“. Sein Erzählen ist also notwendig kurz, es breitet sich aber aus wie ein Wald und beglückt mit dem Spiel der literarischen Selbstähnlichkeiten.
Einer der Aufsätze befasst sich mit Walsers Verhältnis zu Paul Verlaine, mit dem er damals gerne verglichen wurde, indem man ihn den „deutschen Verlaine“ nannte. Walser hat nur in wenigen Texten darauf Bezug genommen, in denen allerdings die Abwehr dominiert, wie uns Groddeck wissen lässt. Diese Abwehr erkläre sich aus seiner Abneigung gegen die etablierte „hohe Literatur“: „Erst der Spott auf die Verlaine-Übersetzung und den lyrischen Habitus eines Stefan Zweig öffnet Walser einen eigenen Zugang zu Verlaines Lyrik […].“ Denn deren Wert erkannte er sehr wohl.
Groddeck betont zu Recht Walsers Modernität, die mit einer neuen poetischen Sprache beispielsweise auf den „inneren Monolog“ setzt, wie ihn Arthur Schnitzler schon zuvor in der Erzählung „Leutnant Gustl“ verwendete. Bei Walser kommt die Vorliebe für Tagträume hinzu und überhaupt ein Hang zum Experimentellen. Was Walsers Texte von einer realistischen Literaturauffassung unterscheide, das sei die Lust am Unbewussten des Schreibens. Christian Morgenstern, der im Fall von Walsers Romandebüt „Geschwister Tanner“ als Lektor tätig wurde, sprach gar vom „Somnambulen“, als ob sich der Roman gewissermaßen selbst geschrieben habe.
Groddeck schärft mit seinen Aufsätzen die Wahrnehmung für Walsers charakteristische Arbeit an und mit der Metapher, die ein Grundbaustein seines Denkens und Schreibens ist. Er bringe es gar noch fertig, das metaphorische Schreiben weiter zu metaphorisieren, um schließlich in und mit seinen Texten sozusagen Metaphern in Potenz hervorzubringen. Faszinierend auch, wo immer Groddeck Walsers Bemühungen um „eine unbekannte Lebendigkeit in der Sprache“ auf der Spur ist. Eine akribische Lektüre ist dafür ebenso erforderlich wie die Empathie, von der am Anfang die Rede war. Beides begegnet uns in den Aufsätzen, die bestätigen, dass die besten Nacherzählungen, von denen Groddeck immer wieder Gebrauch macht, diejenigen sind, die auch noch beschreiben, was sich hinter den Worten verbirgt.
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