Der andere deutsche Buchmarkt

Die ersten zwei Teile zur Geschichte des Buchhandels in der DDR sind erschienen

Von Günther FetzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Fetzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eduard Brockhaus, der Enkel des großen Lexikonverlegers Friedrich Arnold Brockhaus, schlug 1875 anlässlich des 50. Jahrestags der Gründung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler (heute Börsenverein des Deutschen Buchhandels) vor, eine Geschichte des deutschen Buchhandels in Angriff zu nehmen und initiierte ein Jahr später die Historische Kommission des Börsenvereins. In ihrem Auftrag erschienen im Verlag des Börsenvereins zwischen 1886 und 1913 vier Bände Geschichte des Deutschen Buchhandels, der sogenannte „Kapp/Goldfriedrich“. Das Werk reichte von der Erfindung des Buchdrucks bis zum Kaiserreich.  Der erste Band, der den Zeitraum bis in das 17. Jahrhundert abdeckte, wurde von Friedrich Kapp verfasst. Nach dessen Tod im Jahr 1884 übernahm nach einigen Verzögerungen und Umwegen Johann Goldfriedrich die folgenden Bände.  Band 2 („bis zum Beginn der klassischen Literaturperiode“) erschien 1908, also mehr als zwanzig Jahre nach dem ersten. Bereits ein Jahr danach wurde der dritte Band („bis zum Beginn der Fremdherrschaft [unter Napoleon]“ veröffentlicht und kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit dem vierten Band („bis zur Reform des Börsenvereins im neuen Deutschen Reiche“) 1913 abgeschlossen. Zehn Jahre später erschien der Registerband, so dass es fast vier Jahrzehnte brauchte, bis das Gesamtwerk vorlag.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Historische Kommission wieder ins Leben gerufen. Doch erst 1984 bewilligte der Börsenverein entsprechende Mittel für die Vorarbeiten zu einer neuen Buchhandelsgeschichte. Diese Vorarbeiten erwiesen sich als so schwierig und langwierig, dass es bis zum Jahr 2001 dauerte, bis die erste Publikation vorgelegt werden konnte. Es war Teil 1 des ersten Bands, der das Kaiserreich 1870 bis 1918 behandelt. Laut einer Übersicht auf der Website des Börsenvereins liegen derzeit alle Bände der neuen Geschichte des deutschen Buchhandels bis 1945 vor, dazu die beiden ersten Teile zur DDR. Der dritte soll laut Börsenverein noch 2024 erscheinen ebenso wie der erste Teil zur Bundesrepublik. Wann die Geschichte des deutschen Buchhandels abgeschlossen sein wird, steht in den Sternen. Man hofft, noch in den 2020er Jahren.

2022 und 2023 erschienen zwei Teile der DDR-Buchhandelsgeschichte. Der erste Teil, wegen des Umfangs von über 800 Seiten bindetechnisch in zwei separate Teilbände aufgespalten, beschreibt in Großkapiteln die Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Viersektorenstadt Berlin, die Literatur- und Autorenpolitik, die Institutionen des Literaturbetriebs sowie die Berufsorganisation und umfasst zudem die Einzeldarstellungen zu den Belletristikverlagen sowie zum Taschenbuch. Im zweiten, 600 Seiten starken Teilband sind in Großkapiteln die Kinder- und Jugendbuchverlage, der Schulbuchverlag Volk und Wissen, die Kunst- und Theaterverlage, die Musikverlage, die Fach- und Sachbuchverlage, die Wissenschaftsverlage, die Verlage von Parteien und Organisationen sowie die Kirchenverlage Gegenstand der Darstellung.

Es war für den Rezensenten nicht ohne Mühe möglich, die Gliederung mit bis zu drei Unterpunkten beschreibend nachzuvollziehen, da das Inhaltsverzeichnis typografisch völlig unübersichtlich ist. Alle Überschriften, ob Großkapitel, Kleinkapitel oder Kleinkleinkapitel, sind in der gleichen Schriftgröße und in halbfett gesetzt.

Der dritte Teil soll die Schwerpunkte bei der Buchherstellung, dem Zwischenbuchhandel, dem Sortimentsbuchhandel und dem Bibliothekswesen haben. Auch die Buchgemeinschaften, der Außenhandel, die literarischen Zeitschriften und der Postzeitungsvertrieb werden vorgestellt. Schließlich wird eine Statistik zum gesamten Buchmarkt der DDR in Aussicht gestellt.

Die Bände zur Buchhandelsgeschichte der DDR werden im Auftrag der Historischen Kommission von Christoph Links, Siegfried Lokatis und Klaus G. Saur in Zusammenarbeit mit Carsten Wurm herausgegeben. Links, Lokatis und Wurm sind ausgewiesene Kenner der DDR-Buchhandelslandschaft. Links hat das Standardwerk Das Schicksal der DDR-Verlage (2009) vorgelegt, Lokatis zahlreiche wissenschaftliche Beiträge vor allem zu Themen wie Zensur veröffentlicht, und Wurm hat sich mit Arbeiten zum Aufbau Verlag und Rütten & Loening ausgewiesen. Insgesamt 40 Autorinnen und Autoren – davon sind 14 nach 1980 geboren – haben zu den beiden umfangreichen Bänden beigetragen. Links und Lokatis sowie Thomas Keiderling (zwei Kapitel über Institutionen sowie über die Lexikonverlage) sind in beiden Bänden vertreten. Erfreulich, dass man Hans Altenhein, dem bedeutenden Verleger und Altmeister der Buchforschung, das erste Wort überlassen hat. Nach der Einleitung der Herausgeber schreibt er über den Aufbau des Buchhandels in der Sowjetischen Besatzungszone. 

Auf die insgesamt 52 Beiträge inhaltlich einzugehen ist bei der Vielfalt der Themen hier nicht möglich. Natürlich gibt es Wiederholungen, die aber um des Gesamtzusammenhangs vermutlich unumgänglich waren. Natürlich gibt es qualitative und stilistische Unterschiede bei den Texten, die zu einem nicht unwesentlichen Teil auf akademischen Qualifikationsarbeiten beruhen, doch die gut lesbare Wissenschaftsprosa ohne Methodenschwurbelei vermittelt eine Fülle von Details, darunter viele Befunde aus bislang nicht zugänglichem Archivmaterial, die es noch auszuschöpfen gilt. Hervorzuheben sind die über 250 Abbildungen und Tabellen. Zahlreiche der zeitgenössischen Fotos waren bislang unbekannt. Hervorzuheben sind auch die beiden Register, die Personen, Verlage, Buchhandlungen, Druckereien und Buchinstitutionen erfassen, sowie das hilfreiche Abkürzungsverzeichnis.

Fast 1000 von 1400 Seiten der beiden Bände befassen sich mit den 78 Verlagen, die nach der „Profilierung“ der Verlage zwischen 1963 und 1965 übriggeblieben sind.  Zusammenfassend schreibt Christoph Links in seinem historischen Überblick:

Die Struktur der Verlage sah in der Endphase der DDR so aus: Es gab 16 Verlage, die unter anderem belletristische Literatur verlegten (22 % des Titelaufkommens), wovon einige auf deutsche Gegenwartsliteratur, andere auf ausländische Autoren und wieder andere auf Werke der sogenannten Erbeliteratur spezialisiert waren. Des Weiteren bestanden 39 Fachverlage (zusammen mit der politischen Literatur 46 % der Titel), sieben Verlage für Kinder- und Jugendliteratur (14 % der Titel), sieben Musikverlage und fünf Kunstverlage (zusammen 7 % der Titel), drei kirchliche Verlage und ein Verlag für Blindendruckerzeugnisse.

Davon werden in Einzelporträts ausführlich abgehandelt: zehn belletristische Verlage (Aufbau, Rütten & Loening, Volksverlag Weimar, die Leipziger  Erbe-Verlagsgruppe mit Gustav Kiepenheuer, Insel, List und Dieterich, Volk und Welt, Mitteldeutscher Verlag, Greifen, Eulenspiegel, Das Neue Berlin und Reclam), der Verlag Neues Leben als Kinder- und Jugendbuchverlag, der Schulbuchverlag Volk und Wissen, die Kunst- und Theaterverlage Verlag der Kunst, Seemann und Henschel, die Fach- und Sachbuchverlage Die Wirtschaft und Militärverlag der DDR, die Wissenschaftsverlage Akademie, Böhlau sowie Volk und Gesundheit, ferner Dietz und Domowina als Verlage von Parteien und Organisationen sowie die Kirchenverlage St. Benno und Evangelische Verlagsanstalt. Vierundzwanzig Verlage von 78 werden also detailliert vorgestellt. Dazu kommen Sammelartikel über Kinder- und Jugendbuchverlage, Musikverlage, technische Fachbuchverlage, juristische Verlage, Lexikonverlage, Sachbuchverlage, Landkartenverlage, drei Verlage der Blockparteien und über das Taschenbuch.

Damit ist das zahlenmäßig schmale, inhaltlich jedoch breite Spektrum der DDR-Verlage gut repräsentiert, auch wenn bei der Strukturierung der Bände die bei weitem überwiegende Zahl der Verlage nach Programminhalten einsortiert werden, einige jedoch nach ihren Eigentumsverhältnissen, so die Verlage von Parteien und Organisationen sowie die Kirchenverlage.

 Man hätte sich gewünscht, dass das strenge, etwas korsetthafte Schema der sequentiellen Darstellung, das der gesamten Geschichte des deutschen Buchhandels zugrunde liegt, stärker durch Beiträge ergänzt wird, die Verknüpfungen, Parallelitäten und Widersprüche lieferten. Zwei Beispiele für solche Ansätze der Erweiterung und Vertiefung sind in dieser DDR-Buchhandelsgeschichte selbst enthalten. In ihrem Beitrag Der DDR-Buchhandel und der Blick nach drüben geht Julia Frohn von der These des Historikers Christoph Kleßmann aus, dass BRD und DDR durch eine „asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte“ miteinander verbunden seien. Die DDR-Geschichte sei „nur verständlich im Rahmen des ungeheuer starken Soges, den die ökonomisch mächtige und politisch attraktive Bundesrepublik in unmittelbarer Nachbarschaft ausübte“ – so Kleßmann, zitiert von Frohn. Die Autorin stellt den deutsch-deutschen Buchhandel und den deutsch-deutschen Austausch im Bereich der Belletristik am Leitfaden der folgenden theoretischen Begriffe des Historikers dar: „Chance zum Neubeginn“, Blockbildung und innere Folgen“, „Eigendynamik der beiden Staaten“, „Abgrenzung und asymmetrische Verflechtung“, „Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften“ und „Erosionserscheinungen“. Sie kommt nach detaillierter Analyse zu dem Schluss, dass der paradoxe Begriff der „asymmetrischen Verflechtung“ gut geeignet ist zu beschreiben, „dass sich die DDR wie in zahlreichen anderen Bereichen auch im Literaturbetrieb als Spiegel oder sogar als ‚Negation des Konkurrenzstaates‘“ begriff.

Ähnlich geht Anna-Maria Seemann in ihrem Beitrag Sieben wissenschaftliche Parallelverlage vor und dokumentiert solche Verflechtungen und Entflechtungen am Beispiel der Verlage Akademische Verlagsgesellschaft, Barth, Gustav Fischer, Hirzel, Steinkopff, Teubner und Thieme. Sie konzentriert sich dabei auf die Aspekte Lizenzierungsprozesse, Entstehung von Zweigstellen oder neuen Verlagen in den westlichen Besatzungszonen, Entwicklung der Eigentumsverhältnisse und Gerichtsverfahren und stellt resümierend fest, dass die jeweils beteiligten Verlage „für die Bereinigung der teilweise auftretenden Konflikte sehr unterschiedliche Strategien […] von engen Kooperationen über konfliktvermeidendes Verhalten bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen“ wählten. 

Aufs Ganze gesehen mögen das Mäkeleien seien in Relation zu dem immensen Zugewinn an Informationen, den die Bände bieten. Es liegt jetzt der kompetente Überblick über die Rahmenbedingungen und die Verlagslandschaft der DDR vor, und man darf auf den oben charakterisierten abschließenden Band gespannt sein. Laut Verlagsangaben erscheint er erst 2025 und nicht ein Jahr zuvor, wie die Historische Kommission mitteilt.

Titelbild

Siegfried Lokatis / Klaus G. Saur / Christoph Links (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 5/1. Deutsche Demokratische Republik.
De Gruyter, Berlin 2022.
397 Seiten, 159,95 EUR.
ISBN-13: 9783110470031

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Titelbild

Christoph Links / Siegfried Lokatis / Klaus G. Saur (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 5/2. Deutsche Demokratische Republik.
De Gruyter, Berlin 2023.
592 Seiten, 159,95 EUR.
ISBN-13: 9783110565294

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