Ein lyrischer Rundgang
Jan Röhnert fängt in „Erdtagzeit“ in der Tradition des Nature Writing die Welt in ihrer vollen Pracht ein
Von Florian Birnmeyer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJan Röhnert, Literaturwissenschaftler, Professor für Neuere deutsche Literatur und Autor, hat im Herbst 2023 sein neues Werk Erdtagzeit in der Edition Faust veröffentlicht, das von seinem geographisch geprägten Blick auf die Welt zeugt. Der Neologismus im Titel des neuen Gedichtbandes, ein künstlich geprägter Begriff aus den drei Wörtern Erde, Tag und Zeit, kündigt bereits die Pole an, zwischen denen das lyrische Ich oszilliert, während es dichtend und schreibend die Welt erkundet.
Es ist eine Wanderung, eine Reise, auf die uns der Autor Röhnert mitnimmt, während er eine für die moderne Lyrik relativ strenge Form des Nature Writing betreibt, diese aber zugleich mit einer kulturell-ideellen Komponente anreichert, die den besonderen Reiz seiner Texte ausmacht. Der Gedichtband lebt von der Freude am Entdecken der Welt, zwischen Karst, Kairo und Kyffhäuser, zwischen Mumien, Nil und Allahu Akbar, zwischen Humus, Zikaden und Dante.
Wir bewegen uns in einer Welt voller kultureller und natürlicher Referenzen, aufgespannt von Persien über Ägypten über Italien und das Europa der frühen Neuzeit bis hin zur heutigen Vielfalt der migrierenden Kulturen, die sich auf eine noch unverständliche Weise aus all den vergangenen hochkulturellen Zentren speist, zusammenfließend zu einem Nebeneinander, Gegeneinander und Miteinander der Kulturen. Das Kulturelle ist bei Röhnert wichtig, aber nicht die Hauptsache, während im Zentrum der Beobachtung die Natur und ihre Erscheinungen stehen.
Wir durchschreiten mit dem lyrischen Ich eine Landschaft, in der Kuckuck, Schwalbe, Specht, Mauersegler, und Wiedehopf ihren Auftritt haben. Wir sehen „am Südhang des Kyffhäuser“ mit dem lyrischen Ich „Birnen Äpfel Pflaumen im Gras / östlich am Gipfelhang die Höhle / aus Marienglas, im Gestein / wachsen Hundsrose Hagebutte“. Wichtig für Röhnerts Lyrik ist auch die Farbe Blau, die in „tausend Nuancen“ auftritt, während das Licht in „Lumière“ die „Rispen, Stengel, Blätter / lichtgedreht“ durchleuchtet. Für Röhnerts Lyrik spielt die unmittelbare Wahrnehmung, das Erkennen und Schauen dessen, was vor den Augen liegt, die zentrale Rolle, während große Strömungen und theoretische Fundierungen wie die des Impressionismus für ihn nur „farbloses Divertissement“ darstellen.
Die Verse sind mal in zweizeiligen, mal in vierzeiligen, dann wieder in sechs- oder mehrzeiligen Strophen angeordnet, was eine gewisse Ordnung und Struktur suggeriert, zugleich aber die strenge Gleichförmigkeit eines klassischen Gedichtbandes unterläuft. Denn die Form ändert sich von Gedicht zu Gedicht und setzt vor allem auf einen freien, rhythmisch tönenden Vers mit Assonanzen. Dazwischen gibt es auch Gedichte, die sich in keine feste Form einordnen lassen und im Blankvers verfasst sind.
Ein Stilmittel Röhnerts ist dabei das Enjambement, das den klassischen Vers als feste Einheit mit den damit einhergehenden Beschränkungen aufbricht und zur Lektüre anregt, da man wie bei einem Cliffhanger im Kleinen am Ende jedes Verses in den nächsten Vers mitgenommen wird. So auch im Gedicht „Studie zu einem nicht ausgeführten Altar“, in dem das lyrische Ich in einer Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen die Bauernaufstände unter der Führung Thomas Münzers im 16. Jahrhundert mit dem Kampf der Ukraine gegen Russland zusammenbringt: „von früh bis spät / stirbt Thomas Münzer, sterben die Bauern / im Panoramaturm, von früh bis spät / Hellebarden, Morgenstern, Raketen über / Krim, Dnipro, Donbass“.
Röhnerts Lyrik ist ein Wagnis, eine große Wanderung durch die Zeit und den Raum, die die Leserinnen und Leser an die Hand nimmt und sie ermutigt, mit einem neuartigen, wohlwollenderen Blick auf die Welt zu blicken. Alles gilt in dieser Lyrik, alles wird wahrgenommen und erzählt. Alles hat seinen Raum, seine Zeit, seinen Platz im Tag. Von alten Kulturen über klassisches Nature Writing bis zu neuen Konflikten erhalten wir einen eigenständigen Blick auf unsere Welt, dessen wohl dosierte Mischung eine willkommene Abwechslung zu negativen Nachrichten und digitaler Reizüberflutung darstellt.
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