Postmigrantisches Welterleben in Miniaturen

Im Roman „A wie Ada“ wirft Dilek Güngör Schlaglichter auf die Realität einer Frau mit internationaler Familiengeschichte

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Inter- und Transkulturalität in der deutschsprachigen Literatur nimmt spätestens seit den 90er-Jahren immer mehr an Fahrt auf. Zuletzt debütierten Nilufar Karkhiran Khozani, Özge Inan und Mina Hava mit Romanen, die migrantische Herkunftsgeschichten erzählen. Auch an Namen wie Fatma Aydemir oder Anna Yeliz Schentke ist zu denken. Mehr-als-deutsches Schreiben fiktionalisiert und ästhetisiert unter anderem Erfahrungen von Vertreibung, Verbannung, Migration, politischer, kultureller und oft fehlender Zugehörigkeit. Ein solches Schreiben macht verständlich, welche Erfahrungen Menschen machen, die zwar in Deutschland aufgewachsen sind, deren Herkunftsgeschichte aber komplexer als das ist. Postmigrantisches deutschsprachiges Schreiben erzählt meist von den Realitäten jener Deutschen, deren Vorfahren zugewandert sind. Oft taucht dabei auch identitätspolitisches Denken, Partikularismus und romantische, sehnsüchtige Verklärung kultureller Herkunft, gepaart mit gleichzeitiger, kritischer Entfremdung von dem Herkunftsland der Eltern auf.

Dilek Güngör ist eine Autorin, die sicherlich auch aufgrund ihrer eigenen Herkunftsgeschichte sensibel für diese Themen ist. In Vater und ich (2021) hat sie bereits von kultureller Entfremdung und sprachlichen Barrieren zwischen Tochter und Vater geschrieben, wenn zu einer Migrationsgeschichte auch noch Bildungsunterschiede hinzutreten: Was lässt sich noch sagen, was lässt sich noch miteinander oder füreinander tun? Wie kann eine solche Vater-Tochter-Beziehung funktionieren? Auch in Ich bin Özlem (2019) hat Güngör sich bereits mit Fragen nach (post-)migrantischer Identität und Herkunft auseinandergesetzt und dabei die Klebrigkeit großer Identitätsdiskurse problematisiert, der man sich kaum entziehen kann, wenn man eine mehr-als-deutsche Herkunft hat: Wie erklären wir uns anderen, ohne ständig unsere ‚fremde‘ Herkunft ins Spiel zu bringen? Für Menschen mit internationaler Familiengeschichte ist das eine Herausforderung, weil das Gewicht der elterlichen Migrationsgeschichte schwer wiegt. Schon wenn nur ein Elternteil aus einem anderen Land kommt, ist der Sog in die oft befremdliche familiäre Vergangenheit stark.

A wie Ada ist eine episodenhafte, sehr zurückhaltend geschriebene Coming-of-Age-Geschichte eines Mädchens namens Ada und reicht bis in das Erwachsenenalter, wenn sie längst Mann und Kinder hat. Erzählt wird von alldem leicht melancholisch, dabei jedoch auch anekdotenhaft und humorvoll. Das Türkischsein der Eltern mit einer Tochter, Ada, die nun in Deutschland aufwächst, wird mal kritisch, mal liebevoll, mal lakonisch geschildert. Ist Ada Türkin oder Deutsche? Das lässt sich nicht einfach so beantworten, und darum geht es letztlich auch nicht. Es geht um Ada als Figur. Stellen, die recht neutral erzählt wirken, entfalten ein einfühlsames Bild des Innenlebens, das sich in dem Mädchen entwickelt und noch fortwirkt, bis sie über 50 Jahre alt ist.

Viele Konflikte, die Kindern aus Einwandererfamilien bekannt sein müssen, werden hier angesprochen: Ada hat strenge, getriebene, doch sehr liebevolle Eltern, Ada hat nur heimlich einen Freund, Ada will unbedingt akzeptiert und geliebt werden und anderen gefallen, Ada will gute Schulleistungen bringen und ihre Eltern stolz machen. Aber auch: Adas Türkisch ist nicht gut genug, Ada empfindet Befremden in der akademischen Welt, Ada versucht sich an deutsche Lebensgewohnheiten anzupassen, die ihre Eltern oft nicht verstehen würden, Adas Vater wird für einen Inder gehalten, Ada wäre gern wie ihre deutschen Freundinnen, Adas Herkunft wird infragestellt. Und schließlich: Ada wäre gern unsichtbar, Ada wäre gern gesehen, Ada ist schüchtern und schweigsam, Ada definiert sich über das Anderssein, Ada will doch nicht mehr dazugehören, Ada fühlt sich wie eine einsame Insel – und so heißt sie ja auch. Das ist die Bedeutung ihres Namens, das ist ihr Stempel.

Ihr bleibt vieles fremd: Die sehr geordnete deutsche Gesprächskultur, der akademische Habitus, die deutsche Wanderlust, aber schließlich auch die Herkunft ihrer türkischen Eltern. Wer sie selbst ist, kann sie nicht sagen. Viele kennen es aus der Kindheit: Persönlichkeitstests und Freundebücher müssen das fehlende Wissen der Eltern über die postmigrantische Identität der kleinen Ada ersetzen. Das alles wird auf nur 105 Seiten erstaunlich gut in kaleidoskopischen situativen Beschreibungen heruntergebrochen.

Zwei Aspekte des Romans sind jedoch kritikabel und erinnern bereits an frühere Texte Güngörs. Erstens wäre da die Sprache – das ist allerdings ein allgemeines Problem zeitgenössischer Literatur und nicht nur spezifisch für Güngörs Schreiben. Wie auch zahlreiche andere belletristische Neuerscheinungen der letzten 25 Jahre besteht der Roman mehrheitlich aus Hauptsätzen. Natürlich ist die Parataxe eine ästhetische Entscheidung, die etwas über die Erzählinstanz und die Figuren aussagt, aber als Leserin sucht man oft vergeblich nach (nicht nur postmigrantischer) Literatur, die sich, anstatt nur inhaltlich – fast apathisch – zu ‚erzählen‘, auch differenziert und feinfühlig mit Sprache auseinandersetzt, mit ihr zu spielen weiß, das Erzählen also erst in und mit der Sprache kultiviert und verschlüsselt. Literatur, die von ihrer eigenen Sprachlichkeit weiß und Gebrauch macht, um den Lesenden immerhin ein wenig intellektuelle Arbeit zuzumuten: Das ist es doch, was das Schreiben und Lesen zu einer interessanten, bildenden Erfahrung macht, weil eine Romanhandlung so nach innen hin ausdifferenziert, variiert und mehrdeutig entfaltet werden kann.

Die sprachlich etwas kargen Einblicke in Adas Leben sollen simple, alltägliche Situationen abbilden und möglichst authentisch und plastisch darstellen. Das funktioniert zwar. Doch mehr als ein paar platte, erzwungen wirkende Metaphern und Wortspiele lassen sich bei Güngör, wie auch schon in vorherigen Publikationen, dann doch nicht finden. Der parataktische Ton mitsamt seinen schwachen inhaltlichen Implikationen ist auf Dauer unterkomplex, unterfordernd und deshalb ermüdend. Wer sprachliche Simplizität hingegen bevorzugt, wird sich über Güngörs Buch freuen. Denn ein Vorteil dieses sehr beliebten stilistischen Minimalismus ist, dass die Erzählerin sich stark zurückhält und den Lesenden viel Raum gibt, die beschriebenen Situationen für sich zu bewerten und nachzufühlen. Das – wie viele bisherige Kritiken es zu tun pflegen – zur besonders poetischen, schön komponierten und aphoristischen Glanzleistung zu deklarieren, scheint jedoch etwas übertrieben, weil es sich letztlich einfach um einen stark verbreiteten und niedrigschwelligen Schreibstil handelt, der sich gut verkaufen lässt.

Zweitens ist problematisch, wie Deutschsein im postmigrantischen Roman gedacht und überspitzt wird. Immerhin an einer einzigen Stelle wird in A wie Ada angedeutet, dass auch Kinder deutscher Eltern sich in ihrer eigenen Familie oder Heimat fremd fühlen können. Auch sie können unter Armut leiden, traumatisiert werden und sich verloren fühlen. Im postmigrantischen Schreiben wird allerdings nicht selten – vielleicht unfreiwillig – insinuiert, dies alles seien Alleinstellungsmerkmale jener, deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden. Das wäre eine viel zu eingeschränkte, eindimensionale und sogar schädliche Perspektive auf die Bedeutung von Zugehörigkeit und Privilegien in unserer Gesellschaft. Denn was dann bliebe, wäre eine klassenblinde, identitätspolitisch bornierte Literatur der Betroffenheit mit sehr verengtem Fokus. So schlimm ist es bei Güngör nicht, aber: A wie Ada positioniert sich nur sehr verhalten dagegen.

So wird auch in Güngörs Roman ein Stereotyp über deutsche Familien perpetuiert, das zuletzt viel in den sozialen Medien kursierte, aber mit Vorsicht zu genießen ist: Ein von Menschen mit internationaler Familiengeschichte oft beobachtetes, teils sicher zutreffendes Phänomen ist, dass sie, wenn sie in ihrer Kindheit bei deutschen Freunden zu Besuch waren, von den deutschen Eltern kein Essen bekamen und stattdessen im Kinderzimmer des befreundeten Kindes warten mussten, bis alle gegessen hatten. Hungrig. Deutsche Gastfreundschaft für Kinder fremder Familien? Fehlanzeige. Auch in A wie Ada gibt es eine solche Szene.

Wer so etwas liest, könnte sich vor den Kopf gestoßen fühlen, weil es durchaus viele gastfreundliche, fürsorgliche deutsche Familien gibt. Das soll die postmigrantische Ausgrenzungserfahrung nicht infragestellen, zeigt aber, dass Literatur die Verantwortung trägt, anti-deutsche Klischees nicht weiterzutragen und damit kulturelle Gräben literarisch zu verbreitern. Güngörs Roman porträtiert zwar auch wunderschöne Freundschaftsverhältnisse, die keine Gräben zwischen Herkunft und Familiengeschichten kennen. Und Adas beste Freundin im Roman wirkt wie das perfekte, blond gelockte Mädchen von nebenan und ist keine negativ charakterisierte Figur. Dennoch wirkt diese Freundin in ihrem Deutschsein seltsam eindimensional. Güngörs Schreiben ist also keinesfalls anti-deutsch, aber trotzdem zuweilen von einer Aura umgeben, die unfreiwillig nahelegt, die einen hätten es einfach schwerer als die anderen.

Hier bliebe also zu wünschen, dass postmigrantische Literatur sich dieser Komplexität noch öffnen möge, anstatt ihre Protagonistinnen zu viktimisieren und in einer Entfremdung versinken zu lassen, von der immer wieder implizit nahegelegt wird, Kinder nicht-migrierter Eltern kennen sie nicht. Das wäre einfach falsch und auch als ‚bloß‘ fiktionale Behauptung problematisch. Obwohl die Autorin davon weiß, wie besessen wir von Zugehörigkeit, Indentität und ‚wahrer‘ Herkunft sind, und obwohl sie in Vater und ich und in Ich bin Özlem bereits literarisch dechiffriert, welche Identitätskonflikte postmigrantische Identitäten mit sich bringen, schafft diese Literatur es bisher noch nicht, aus ihrer identitätspolitischen Bedingtheit auszubrechen. Mit dieser Problematik ist Güngör als Autorin bei weitem nicht allein und es bleibt daher zu hoffen, dass die Zukunft postmigrantischen Schreibens eine stärkere Sensibilität und Dankbarkeit dafür birgt, dass ein Migrationshintergrund auch ebenso eine Chance, ein Glück und ein Privileg sein kann wie das ersehnte, eindeutige Heimatgefühl in Deutschland.

Die Herkunft allein sagt nichts über die Lebensrealität eines Individuums aus. Sie ist nicht das Damoklesschwert über den Köpfen postmigrantischer Identitäten, zu dem es die zeitgenössische Literatur oft erklären möchte. Im Grunde ist das etwas, worauf Güngör doch auch selbst verweist, wenn sie Ada so genau beschreibt und beobachtet: als Figur mit menschlichen Problemen, nicht einfach nur als Deutschtürkin. Und es ist außerdem etwas, worauf die Erzählerin noch im letzten Abschnitt des Romans hinweist. Darin nämlich liegt eine Pointe, die man nicht überlesen darf:

Ada hat es sich gut eingerichtet auf ihrer Insel. Gut behütet und beschirmt schläft sie unter ihrer Palme, merkt nicht, dass die Gefahr vorüber ist. […] Die Sonne scheint mild, es gibt nichts, wovor sie sich fürchten muss, nur das, wovor sich alle fürchten müssen.

Solche Textstellen machen neugierig auf die weitere Entwicklung postmigrantischen Schreibens. Ungeachtet der Kritikpunkte ist das Buch als ein zärtlicher Einblick in eine deutsche, nicht ganz so deutsche Kindheit zu verstehen, aus der sich auch das Erwachsenenleben der Protagonistin problemlos nachempfinden lässt – sprachlich schwach, aber inhaltlich eine klare Leseempfehlung!

Titelbild

Dilek Güngör: A wie Ada.
Verbrecher Verlag, Berlin 2024.
112 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957325792

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