Das Buch eines Autors, der „nach Kräften von Wertungen Abstand“ nehmen wollte
Michael Schröter ist mit „Auf eigenem Weg – Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945“ an seinem selbstformulierten Anspruch gescheitert
Von Bernd Nitzschke
„Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen“, meinte Mark Twain. Der Titel von Michael Schröters Buch besteht nun aber aus drei Wörtern, die beim Leser sofort ,falsche‘ Erwartungen wecken. Denn der größte Teil des Materials, das der Autor aus teils sehr entlegenen Quellen geschöpft und detailliert dargestellt hat, betrifft nicht die „Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland“ (mit Ausnahme der Zeit vor, im und nach dem ,Dritten Reich‘ – auf die ich genauer eingehen werde), sondern die generelle Geschichte der Psychoanalyse.
Die frühe Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland ist untrennbar mit den damaligen Zentren der Psychoanalyse in Wien und Zürich verbunden. Schröter muss deshalb auch immer wieder ausführlich auf die Ereignisse im „deutschsprachigen Ausland“ eingehen (479 ff.)[1] – sprich: auf die Ereignisse in Österreich und in der Schweiz. Die „Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945“ ist wiederum weitgehend identisch mit der Geschichte des Berliner Psychoanalytischen Instituts (BPI), das sich ab 1926 selbstbewusst als Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) vorstellte, obgleich es damals auch noch andere Ortsgruppen gab, etwa in München, Leipzig, Frankfurt oder Hamburg (siehe dazu vor allem Teil III des Buches).
Schröter schreibt also auf weiten Strecken die allgemeine Geschichte der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), in die er die Besonderheiten der Geschichte der deutschen Zweigvereinigung eingebettet hat. Diese Organisations-, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte breitet er auf über 850 Seiten aus. Seine mäandernde Darstellung wird interessierte Laien rasch ermüden, während Lesern, die mit den bereits andernorts publizierten Beiträgen des Autors vertraut sind, hier längst Bekanntes – manchmal ausführlicher, manchmal verkürzt – noch einmal vor Augen geführt wird. Die entsprechenden Fußnoten lauten dann etwa: „… die beiden folgenden Kapitel wurden als Aufsatz veröffentlicht“ (257, Anm. 584); die „nachfolgende Darstellung dieser beiden Episoden ist über weite Strecken ein Destillat aus einem längeren, gründlich belegten Aufsatz“ (328 Anm. 272); das „Folgende ist angelehnt an“ (279, Anm. 22); „nachfolgende Ausführungen sind über weite Strecken ein Destillat aus einem längeren, ausgiebiger belegten Aufsatz“ (349, Anm. 361); und so weiter.
Was Schröter im engeren Sinne mit dem „eigenen Weg“ der Psychoanalyse (nicht nur in Deutschland) meint, wird in Teil II des Buches genauer beschrieben: Es geht um die Etablierung der „Freud-Schule“ (139 ff.) mit eigener Begrifflichkeit, eigenen Vereinen, eigenen Zeitschriften und eigenen Kongressen. Quo vadis? Die Beschränkung der ,Schüler‘ Freuds auf eine sich selbst genügende In-group führte zur freiwilligen Isolation und behinderte den Austausch mit der übrigen Wissenschaftscommunity. Dieser Rückzug auf das Eigene unter Ausschluss des als störend erlebten Fremden begann allerdings schon zu einer Zeit, in der Freud noch gar keine eigene ,Schule‘ gegründet hatte. Weil er sich zu Unrecht kritisiert fühlte, zog er sich in eine Privatwelt (Privatpraxis) zurück und beschäftigte sich hinfort nicht mehr nur mit den seelischen Leiden anderer Menschen (das waren zunächst fast ausschließlich Patientinnen), sondern ausgiebig auch mit sich selbst (Stichwort: ,Selbstanalyse‘), seinen Stimmungen (die er bevorzugt in den Briefen an Wilhelm Fließ ausbreitete) sowie mit seinen eigenen Phantasien und Träumen (Stichwort: ,Traumdeutung‘).
Dass der Rückzug von der Außenwelt infolge einer Kränkung unter ungünstigen Umständen auch zu anhaltender Krankheit führen kann, hat Freud in einer späteren Arbeit genauer beschrieben (Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, 1924). Schröter nennt für Freuds Rückzug folgenden Anlass: „Die Abfuhr, die er im April 1896 bei seinem Vortrag ,Zur Ätiologie der Hysterie‘ erlebt hatte, veranlasste Freud, in eine, wie er später sagte, ,splendid isolation‘ einzutreten. Das heißt, er begann weitgehend darauf zu verzichten, seine Thesen im direkten Verkehr oder in der Auseinandersetzung mit Fachkollegen“ zu diskutieren. Das war, wie Freud im Rückblick schreiben wird, eine „schöne heroische Zeit“, die Zeit der „splendid isolation“, die „nicht ihrer Vorzüge und Reize“ entbehrte. Allerdings begann diese Zeit – anders als Schröter behauptet – bereits zehn Jahre früher. Im Oktober 1886 hatte Freud vor der Gesellschaft der Ärzte in Wien Über männliche Hysterie gesprochen. Dieser Vortrag wurde von mehreren Hörern kritisch aufgenommen. Man bat Freud daher, seine Thesen noch etwas genauer zu belegen. Das versuchte Freud in einem zweiten Vortrag, den er im November 1886 hielt. In seiner 1925 erschienenen „Selbstdarstellung“ heißt es dazu: „Diesmal klatschte man mir Beifall, nahm aber weiter kein Interesse an mir. Der Eindruck, daß die großen Autoritäten meine Neuigkeiten abgelehnt hätten, blieb unerschüttert.“ Wegen der fehlenden Anerkennung zog sich Freud gekränkt „aus dem akademischen und Vereinsleben zurück.“
Schröters Buch beginnt mit einem Abschnitt, den er mit „Präludium“ überschrieben hat. Darin ist, wie könnte es auch anders sein, ausführlich von Freud als „Pionier der nervenärztlichen Spezialpraxis“ (30 ff.) die Rede. In Teil I des Buches werden sodann die vielfachen Anfänge der – später ,Psychoanalyse‘ genannten – Freudschen Theorie- und Therapiekonzeption erörtert. Bald stellten sich erste Interessenten ein, mit denen sich Freud – von der übrigen Welt weitgehend abgeschottet – in einer „eigenen“ Gesellschaft wiederfand. Dazu gehörte die innige Zweisamkeit, die Freud mit dem Berliner Hals-Nasen-Ohrenarzt Wilhelm Fließ verband. Sie wurde erst nach dem Erscheinen der Traumdeutung (1900) mit Hilfe eines von beiden Seiten paranoid gefärbten Streits wieder aufgelöst. Auch der Neurologe Felix Gattel war aus Berlin gekommen, um an der Wiener Universität die Vorlesungen zu hören, die der Privatdozenten für Neuropathologie Sigmund Freud dort hielt. Bei Schröter heißt es: „Der Gipfel der persönlichen Beziehung war, dass Freud Gattel auf eine Ferienreise nach Italien mitnahm“ (74).
Den wissenschaftlichen ,Gipfel‘ erreichte die Beziehung in Gattels Schrift Ueber die sexuellen Ursachen der Neurasthenie und Angstneurose (1898), in der er ausführte, was er bei Freud gelernt zu haben glaubte. Diese Abhandlung beginnt nun aber nicht mit einer Danksagung an Freud, sondern mit einem Dank an „Herrn Hofrat Professor Krafft-Ebing“: „Während eines sechsmonatigen Aufenthaltes in Wien bin ich an der psychiatrischen Klinik des allgemeinen Krankenhauses so außerordentlich liebeswürdig und gastfreundlich aufgenommen worden, dass ich dem Leiter derselben, Herrn Hofrat Professor Krafft-Ebing an dieser Stelle die Versicherung meiner aufrichtigen und dauerhaften Dankbarkeit aussprechen möchte.“
Dieser Kotau vor der wissenschaftlichen Autorität schützte Gattel nicht vor einer vernichtenden Kritik, die Paul Karplus, Assistent Krafft-Ebings, verfasste. Er kritisierte die „unsorgfältig-voreingenommenen Anamnesen“, bei denen Gattel, wie Schröter anmerkt, einer „Empfehlung Freuds“ beziehungsweise dessen „Überzeugung vom gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen bestimmten neurotischen Symptomen und einer spezifischen Ätiologie“ (75) gefolgt war. Gattel habe in die Patienten vorher das hineingefragt, was er nachher herausbekommen wollte, stellte Karplus fest. Später richteten sich entsprechende Vorwürfe gegen Freud selbst. Dessen Kritiker meinten, Freuds „Deutungskunst“ öffne „der Willkür des Deuters Tor und Tür, weil er das Material solange drehen und wenden könne, bis es zu seinen Erwartungen passe“ (216). William Stern, der Begründer der Differenziellen Psychologie, hatte in einer Besprechung von Freuds Traumdeutung (1900) daher vor einer „Traumdeuterei“ gewarnt, die „unkritischen Geistern“ den Weg „in eine völlige Mystik und unkritische Willkür“ weise. Damit ließe sich „mit allem alles beweisen“.
In Teil I des Buches referiert Schröter die vielfältigen Reaktionen der Fachkollegen auf die vor-analytischen Veröffentlichungen Freuds, wobei er dem Münchner Nervenarzt Leopold Löwenfeld eine besondere Bedeutung zuspricht (78 ff.), hatte der doch die Allgemeingültigkeit der von Freud formulierten (aber nie von ihm selbst so genannten) ,Verführungstheorie‘ infrage gestellt, ohne sich deshalb als Gegner Freuds zu profilieren. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels betrifft Josef Breuer, der das kathartische Behandlungsverfahren initiierte. Noch in seiner an der Clark University 1909 gehaltenen Vorlesung pries Freud ihn so: „Wenn es ein Verdienst ist, die Psychoanalyse ins Leben gerufen zu haben, so ist es nicht mein Verdienst. Ich bin an den ersten Anfängen derselben nicht beteiligt gewesen. Ich war Student und mit der Ablegung meiner letzten Prüfungen beschäftigt, als […] Dr. Josef Breuer dieses Verfahren zuerst an einem hysterisch erkrankten Mädchen anwendete (1880 bis 1882).“
Beendet wird Teil I des Buches mit der Schilderung der Anbindung des 1902 ins Leben gerufenen Wiener Kreises um Freud (das war die so genannte „Mittwoch-Gesellschaft“) an die Psychiatrische Universitätsklinik Burghölzli in Zürich, die Eugen Bleuler leitete (111 ff.). Dessen Assistent C. G. Jung hatte sich dem Unbewussten mit Berufung auf Pierre Janet und mit Hilfe von Assoziationsexperimenten bereits genähert. Dieses Interesse war ein Anknüpfungspunkt, um mit Sigmund Freud, dem Initiator der Methode der freien Assoziation, Kontakt aufzunehmen, der so Zugang zur akademischen Psychiatrie gewann.
Freud blieb aber auch weiterhin Verfechter eines ,eigenen‘ Weges. Dessen Richtung besprach er ab 1912 mit seinen engsten Vertrauten, den Mitgliedern des Geheimen Komitees. Schröter merkt dazu an: Die in der psychoanalytischen Geschichtsschreibung „weithin übliche Bezeichnung des Kreises als ,Geheimes Komitee‘ wird in der vorliegenden Arbeit vermieden, da sie den nebensächlichen Aspekt der Geheimhaltung […] zu sehr herausstreicht“ (161, Anm. 163). Den vermeintlich „nebensächlichen Aspekt der Geheimhaltung“ hatte nun aber Freud in einem Brief vom 1. August 1912 an Ernest Jones selbst unterstrichen: „This committee hat to be strictly secret in his existence and his actions“ (Herv. i. Orig.).
Nachdem man C. G. Jung, der damals noch Präsident der IPV war, als Abweichler der ,reinen‘ Lehre erkannt hatte, bestand das nächstliegende Ziel des Komitees darin, Jung auszugrenzen. Die geplante Strategie dieser Entmachtung Jungs hat Ferenzi in einem Brief vom 2. November 1913 an Jones detailliert beschrieben. Am Ende dieses Briefes heißt es: „Natürlich ist die Aktion einstweilen ein strenges Geheimnis des Komitees.“ Dessen Daseinszweck hat Ferenczi in einem späteren Brief an Eitingon dann noch einmal so auf den Punkt gebracht: „Es gilt, die großen Ideen und Erkenntnisse Freuds über alle Fährlichkeiten, die ihr von externer wie von interner Seite drohen, zu bewahren, und der folgenden Generation zu überliefern. […] Alles, was er uns sagte und sagen wird, muß also mit einer Art Dogmatismus gehegt werden, auch Dinge, die man vielleicht geneigt wäre anders auszudrücken. […] Die Fähigkeit, auf eine eigene Idee zu Gunsten der zentralen zu verzichten, ist also eine der Hauptbedingungen, an die die Mitgliedschaft des Komitees geknüpft ist.“
Solche Vorschriften spotteten allen wissenschaftlichen Regeln. Bei Schröter heißt es dazu: „Die Beschränkung der axiomatisch gebundenen Forschung wurde jetzt gegenüber Dissidenten des eigenen Kreises – Freud benutzte das Wort ‚Ketzerei‘ – genauso praktiziert wie gegenüber der wissenschaftlichen und professionellen Umwelt“ (158 f.). Und weiter: „Als Freud von 1911 bis 1914 vormalige Anhänger wie Alfred Adler und den IPV-Präsidenten Jung, die eigenständige wissenschaftliche Ideen zu entwickeln begannen, aus der Vereinigung hinausdrängte, wurde offenkundig, dass es in seiner Schule keinen Platz für abweichende Meinungen gab und keine maßgeblicheren Kriterien für die Triftigkeit theoretischer Annahmen als die Übereinstimmung mit ihm selbst“ (18). Die ‚Dissidenten‘ Alfred Adler und C. G. Jung (zu denen sich auch noch Wilhelm Stekel gesellte) gründeten nach Verlassen der Psychoanalytischen Bewegung (so der Titel einer zwischen 1929 und 1933 erschienenen Zeitschrift) ihre eigenen ‚Schulen‘, die von Freud als „Abfallsbewegungen“ gekennzeichnet wurden, ein Wortspiel, bei dem er die assoziative Verknüpfung von Abfall und Müll benutzte.
Eugen Bleuler, dessen Eintreten für Freud die internationale Verbreitung der Psychoanalyse erheblich gefördert hatte, lehnte die Monopolisierung wissenschaftlicher ‚Wahrheiten‘ ab. Am 4. Dezember 1911 schrieb er an Freud: „Das ‚wer nicht für uns ist, ist wider uns‘, das ‚Alles oder nichts‘ ist meiner Meinung nach für Religionsgemeinschaften notwendig und für politische Parteien nützlich […], für die Wissenschaft halte ich es aber für schädlich“. In einem Brief vom 1. Januar 1912 erklärte er seinen Austritt aus der IPV, den er Freud gegenüber so begründete: Die „Art des Vereins ist eine schädliche. Statt darnach zu streben, möglichst viele Berührungspunkte mit der übrigen Wissenschaft & und den Wissenschaftlern zu haben, hat er sich mit einer Stachelhaut von der Außenwelt abgeschlossen & verletzt Freund & Feind.“
Im Oktober 1909 hatte Max Marcuse, der Herausgeber der Sexual-Probleme. Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, einen Brief erhalten, in dem sich der auf dem Titelblatt des Periodikums genannte „Prof. Dr. S. Freud, Wien“ über einen Rezensenten beklagte: „Dr. B.“ (gemeint war der Psychiater Karl Birnbaum) sei „ein unverkennbarer Gegner“ und deshalb „nicht der richtige Mann […], um in einer mir befreundeten Zeitschrift die Arbeiten aus meiner Schule zu referiren“. Er werde seine Mitarbeit bei der Zeitschrift beenden, ließ Freud Marcuse wissen, sollte dieser „Dr. B.“ weiterhin mit der Rezension psychoanalytischer Arbeiten betraut werden. Max Marcuse wollte Freud nicht als Mitarbeiter verlieren und entzog deshalb „Dr. B.“ die Besprechung der Arbeiten aus der „Schule“ Freuds. Nach der ‚Machtergreifung‘ wurde Birnbaum gezwungen, seinen Posten als Direktor der Heil- und Pfleganstalt Buch zu räumen. 1939 emigrierte er in die USA, wo er – wie viele andere Emigranten – in New York an der New School for Social Research weiterarbeiten konnte.
In Freuds Brief an Marcuse findet sich auch noch dieser bemerkenswerte Satz: „Wo es in einer Sache nur Gegner oder Anhänger gibt“, da müsse man sich entscheiden. In der Traumdeutung gibt es dazu eine aufschlussreiche Passage, in der Freud über eine Erinnerung an seine Kindheit berichtet. Sein älterer Neffe John sei für ihn ein Vorbild gewesen, mit dem er konkurriert habe. Dieses Beziehungskonstellation sollte sich im Leben Freuds mehrfach wiederholen: „Ein intimer Freund und ein gehaßter Feind waren mir immer notwendige Erfordernisse meines Gefühlslebens; ich wußte beide mir immer von neuem zu verschaffen und nicht selten stellte sich das Kindheitsideal so weit her, daß Freund und Feind in dieselbe Person zusammenfielen […].“ Aus Liebe wird Hass – Idealisierung bedingt Entwertung. Dieses Gefühlsmuster übertrug Freud u.a. in die Beziehung mit C. G. Jung, den er zum Thronfolger („Sohn“ und „Erben“) erheben musste, um ihn vom Thron stoßen zu können.
Die These, die ‚reine‘ Lehre habe man nur erhalten können, weil man sie gegen alle Kritik abschirmte, sollte ein Topos der vereinskonformen Historiographie werden. Damit geht die Geschichte vom einsamen Helden Freud einher, der sich, verschanzt in einer Wagenburg, gegen alle Welt verteidigen musste, um der Nachwelt ein unverfälschtes Vermächtnis hinterlassen zu können. In einem Brief vom 6. Juni 1910 an Ferenczi prophezeite Freud künftige Anerkennung, die ihn und seine Anhänger für alle Kritik der Zeitgenossen entschädigen werde: „Ich schreibe längst nur für den kleinen Kreis […]. Was diese anderen jetzt sagen“ – gemeint sind die Kritiker – „ist gleichgiltig. Wir werden […] Dank und Nachruhm haben.“
Mit der Feststellung, die Freudianer hätten „ihr eigenständiges Profil nur […] dank eines Vereins“ (15) wahren können, schließt sich Schröter der Auffassung an, die Abschottung der Freud-Schule sei notwendig gewesen, wenngleich sie auch Nachteile hatte: „Die Lizenz, sich der Kenntnisnahme einer überbordenden Literatur im breiteren Fachgebiet zu entziehen, blieb für die schulinterne wissenschaftliche Arbeit der Freudianer charakteristisch“ (172). „Kurz: Auswahl, Disziplinierung und Schulung der Mitglieder sowie die Bindung des Markenzeichens ‚Psychoanalyse‘ an die Lehre Freuds waren Hauptaufgaben der neuen Vereinigung“ (143). Schröter merkt kritisch an, Freuds Schriften seien „vielfach von einem missionarischen Impetus getragen“, den er „an seine Schüler weitergegeben“ (169) habe. Die Anhänger Freuds kommunizierten nach einiger Zeit „fast ausschließlich“ in einem „esoterischen […] Rahmen“ (127). Auch an einer anderen Stelle spricht Schröter von der „freudianischen ‚Esoterik‘“ (477), verwendet diese Charakterisierung allerdings im positiven Sinn, da sie dem Schutz der ‚reinen‘ Lehre gedient habe. Doch als der Psychiater Hans Prinzhorn 1931 vom „esoterischen Abschluss“ (511) der Freud-Schule sprach, meinte er das kritisch.
In er Einleitung seines Buches schreibt Schröter, es handle sich dabei nicht um „das Buch eines Analytikers“, sondern um „das eines Soziologen“. Daher gehe es hier in erster Linie um die Psychoanalyse als „Grundlage eines lehr- und lernbaren Berufs“ beziehungsweise um deren „Organisation oder Schule“. Diese Eckpunkte „bezeichnen den festen Rahmen, in dem sich die Psychoanalyse entfalten konnte“ (15). Kontroversen, die in und außerhalb dieser ‚Schule‘ ausgefochtenen wurden, stellen einen der Schwerpunkte des Buches dar. Ein anderer Schwerpunkt, den Schröter in Teil III ausführlich behandelt, betrifft das Ausbildungssystem, also die Trias aus Lehranalyse (Selbsterfahrung), theoretischem Unterricht und Kontrollanalyse (Supervision der Ausbildungsfälle). Da dieses Modell am BPI entwickelt und kodifiziert wurde, kann man von einer deutschen Pionierleistung, nicht aber von einem eigenen Weg sprechen, denn dieser Weg wurde von psychoanalytischen Instituten in aller Welt übernommen.
Die wichtigsten Repräsentanten der frühen deutschen Psychoanalyse kamen aus dem Ausland. Karl Abraham (er hat nie eine Lehranalyse gemacht) und Max Eitingon (er bezeichnete ein Duzend Abendspaziergänge mit Freud in Wien als seine ‚Lehranalyse‘) kamen aus der von Bleuler geleiteten Klinik in Zürich. Und auch viele prominente Berliner Analytiker der 1920er und 1930er waren ursprünglich nicht in Berlin zuhause. Franz Alexander, Sándor Radó, Melanie Klein und René A. Spitz kamen aus Ungarn, Theodor Reik, Siegfried Bernfeld, Otto Fenichel und Wilhelm Reich aus Österreich. Für Hanns Sachs, der in Wien Jura studiert und im Kreis um Freud theoretische Kenntnisse der Psychoanalyse erworben hatte, wurden am BPI die bis dahin gültigen Statuten geändert, weil er als Laienanalytiker sonst keine volle Mitgliedschaft hätte erwerben können. Sachs hatte „in der Schweiz in gut 15 Monaten […] an plus/minus einem Dutzend Analysanden Praxiserfahrungen“ (312) gesammelt. Und obgleich auch er keine Lehranalyse vorzuweisen hatte, wurde er in Berlin der wichtigste Lehranalytiker. „Offenbar wog die spezifische (theoretische) Kompetenz, die Sachs aus Wien mitbrachte, jeden Mangel an anderweitiger (psychiatrischer, neurologischer oder psychotherapeutischer) Qualifikation“ auf (312). Sachs verfügte aber über eine andere Qualifikation: Er war Mitglied des Geheimen Komitees, das über die Reinheit der Freudschen Lehren wachte.
Im Februar 1908 schrieb Karl Abraham an Freud, er hoffe, dass es – wie das bereits „in Wien und Zürich“ der Fall sei – nun bald auch in Berlin eine „Freud-Gesellschaft“ geben werde. Im August berichtete er, dass „die Berliner Psychoanalytische Vereinigung“ in Kürze „zum ersten Male tagen“ werde. Schröter merkt an, dieser Name sei „gewiss in Analogie zur Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ gewählt worden (134). Schröters Gewissheiten sollte man, nicht nur an dieser Stelle, mit Vorsicht begegnen. Die Bezeichnung „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ wurde erst 1910 eingeführt. 1908 hatte Magnus Hirschfeld, Mitglied der Berliner Gruppe, einen Fragebogen zwecks „Erforschung des Geschlechtstriebes“ zur „gemeinsamen Ausarbeitung“ nach Wien gesandt. Auf Anraten Freuds wollte sich die Wiener Gruppe beteiligen. Bei dieser Gelegenheit beschloss die Gruppe, sich einen neuen Namen zu geben. Im Protokoll der Sitzung Mittwoch-Gesellschaft vom 15. April 1908 heißt es dazu: „Die Gesellschaft, die bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal in die Öffentlichkeit treten soll, erhält den Namen: Psychoanalytische Gesellschaft.“
Als Hirschfeld den Fragebogen 1908 in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft veröffentlichte, geschah das allerdings dann doch ohne die Mitarbeit der Wiener Gruppe. Und als er ihn 1909 noch einmal publizierte, schrieb Jung empört an Freud, es handle sich um ein „blödsinniges Machwerk, das Hirschfeld keine Ehre macht. Die Schändung des Wortes ‚psychoanalytisch‘ finde ich unverzeihlich.“
Ähnlich harsch fiel Freuds Urteil über Albert Molls Buch Das Sexualleben des Kindes aus, das 1908 (datiert auf 1909) bei Walther in Berlin erschienen ist. Nach der Lektüre des Buches schrieb Freud empört an Abraham, „manche Stellen im ‚Sexualleben des Kindes‘ hätten eigentlich eine Ehrbeleidigungsklage verdient“. Im Protokoll der Sitzung der Mittwoch-Gesellschaft vom 11. November 1908 (Wilhelm Stekel war nicht anwesend!) heißt es dazu: „Die normale Kindersexualität sei tatsächlich, so komisch das klingen mag, von ihm – Freud – entdeckt worden. In der Literatur findet sich vorher keine Spur davon.“ Schröter stimmt dieser Behauptung zu und weist die Einsprüche zurück, die Frank Sulloway und Volkmar Sigusch dagegen erhobenen haben. Schröter meint: „Beide vernachlässigen den Aspekt des Normalen, der für Freuds Anspruch entscheidend ist“ (233, Anm. 476, Herv. i. Orig.).
Wilhelm Stekels Schrift Ueber Coitus im Kindesalter scheint Schröter nicht zu kennen (jedenfalls zitiert er sie nicht). Darin wird nun aber bereits 1895 mit folgenden Worten auf eine ‚normale‘ – das heißt, auf eine spontan auftretende – infantile Sexualität hingewiesen: „Fragt man eine größere Anzahl intelligenter Personen über diesen Punkt aus, […] wird fast jeder Zweite sich an gewisse Vorgänge in seiner Kindheit erinnern, die ihm früher unverständlich waren, die sich aber bei genauer Betrachtung als die ersten Anfänge des Geschlechtstriebes erweisen.“ Stekel beruft sich auf von ihm erhobene Befunde sowie auf zeitgenössische Quellen: „Das Kindesalter ist die Brücke, die den Homo sapiens mit dem Thierreiche verbindet.“ Noch in der fünf Jahre später erschienenen Traumdeutung (1900) heißt es hingegen, die Kindheit sei „glücklich [zu] preisen, weil sie die sexuelle Begierde noch nicht kennt“. Erst in einer 1911 hinzugefügten Fußnote korrigierte Freud diese Aussage mit den Worten: „Eingehendere Beschäftigung mit dem Seelenleben der Kinder belehrt uns freilich, daß sexuelle Triebkräfte in infantiler Gestaltung in der psychischen Tätigkeit des Kindes eine genügend große, nur zu lange übersehene Rolle spielen, und läßt uns an dem Glücke der Kindheit, wie die Erwachsenen es späterhin konstruieren, einigermaßen zweifeln.“
Nun sind einem solch umfangreichen Werk, wie Schröter es vorgelegt hat, Fehldeutungen und Auslassungen, von denen bisher einige beispielhaft genannt wurden, unvermeidlich. Sie wären aber leichter zu akzeptieren, wenn sich Schröter nicht immer wieder in der Pose eines letztinstanzlichen Richters über andere Autoren erheben würde. So schreibt er etwa: „Das Werk von Goggin u. Goggin […] disqualifiziert sich selbst durch Voreingenommenheit und begrenzte Quellenkenntnis“ (571 f., Anm. 2). Dieses Urteil steht ausgerechnet auf der ersten Seite von Teil V des Buches, in dem Schröter mit Hilfe systematischer Auslassungen und einseitiger Deutungen sein Bild der Geschichte der Psychoanalyse im NS-Staat feilbietet.
Diese Erzählung hatte Schröter bereits in früheren Aufsätzen vorgetragen – und er war deshalb auch schon harsch kritisiert worden. In seinem Buch wiederholt er nun – von aller Kritik unberührt – seine Erzählung noch einmal. In einer Fußnote, die mehr verschleiert, als sie offenbart, findet sich dazu dieser Hinweis: „Die folgende Darstellung lehnt sich […] an zwei frühere Aufsätze an […]. Zur Kritik, die der erste gefunden hat (dokumentiert in den Jahrgängen 2010 und 2011 der Psyche), siehe zuletzt Schröter 2011b“ (572, Anm. 2).
Mit dem „ersten“ Aufsatz ist Schröters 2009 veröffentlichter Beitrag „Hier läuft alles zur Zufriedenheit, abgesehen von den Verlusten …“. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933 – 1936 gemeint, während sich „Schröter 2011b“ auf seinen Beitrag Zu den Kommentaren von Yigal Blumenberg und Detlev Stummeyer bezieht. Im Literaturverzeichnis des hier besprochenen Buches, in dem Schröter nach Freud der meist zitierte Autor ist, wird nun aber keine Publikation seiner Kritiker angeführt. Nimmt man „Schröter 2011b“ zur Hand, dann erfährt man, was er von seinen Kritikern hält: „Keiner der Autoren, die mich kritisiert haben“ – gemeint sind David Becker, Elisabeth Brainin, Samy Teicher, Yigal Blumenberg und Detlev Stummeyer – „ist als Forscher auf dem historischen Feld, um das es geht, ausgewiesen (allenfalls Brainin). Dem von mir erhobenen Material haben sie nichts Nennenswertes hinzuzufügen, sie operieren auf der Meinungs- und Deutungsebene“. Das ist nun aber doch ein starkes Stück: Der Meister selbst hat „Material“ erhoben – und die Lehrlinge, die das nicht getan haben, wagen es, die Geschichte, die er erzählt, anders als er zu deuten!
In Teil V seines Buches operiert der Meister dann auf einer „Meinungs- und Deutungsebene“, auf der er bald ins Schlingern gerät. Unter der Überschrift „Unaufhaltsame Erosion: Die Freudianer unter dem NS-Regime (1933-1945)“ handelt er hier die aus seiner Sicht schicksalhaft-tragische Geschichte der Psychoanalyse im NS-Staat ab, wobei er die Fakten so montiert, dass sie zu der von ihm konstruierten Erzählung passen. Zu diesem Zweck lässt er manch „Nennenswertes“ unter den Tisch fallen – das heißt, er ignoriert Quellen, die seiner Geschichtsdeutung widersprechen. Mit Hilfe dieser Montage gelingt es ihm, die „DPG-Verantwortlichen“ (601) – er meint damit die ab November 1933 amtierenden ‚arischen‘ DPG-Vorsitzenden Felix Boehm und Carl Müller-Braunschweig – in Schutz zu nehmen. Weil die Freudianer außerhalb der vom NS-Staat geschaffenen politischen Strukturen „keine Existenzmöglichkeit haben würden“, mussten sie sich darum bemühen, „wenigstens die Form ihrer Einordnung zu steuern“ (601). „Solange höhere Mächte“ – Schröter meint damit die Nationalsozialisten – „es zuließen“, habe dieses Bemühen der anpassungsbereiten Freudianer Erfolg gehabt: Die DPG-Funktionäre führten, unterstützt von der Führung der IPV, „Vereinigung, Poliklinik und Institut in der freudianischen Tradition fort; danach ordneten sie sich mehr oder weniger widerstrebend in das Gefüge der ‚deutschen Seelenheilkunde‘ ein“ (639). Als Teil einer „professionell gestärkte[n] Psychotherapie, in der auch die Psychoanalyse, in einer modifizierten, verarmten und von der Weiterarbeit der internationalen Freud-Schule abgeschnittenen Form noch einen Platz hatte“ (24), konnten die Freudianer die NS-Zeit überstehen.
Als scheinbar neutraler Historiker konstatiert Schröter: Dass die DPG versucht habe, ihr „Überleben durch Zugeständnisse zu sichern, anstatt sich irgendwann, ob 1933 oder 1936, selbst aufzulösen – was man ihr ex post zum Vorwurf gemacht hat –, lag wohl nicht zuletzt am schleichenden Charakter jenes Prozesses: Es gab nie den eindeutig zwingenden Punkt, an dem sich ein Weiterbestehen verbot“ (625). Doch! Den „zwingenden Punkt“ gab es schon ex ante. Wilhelm Reich hat ihn in der Vorrede seines 1933 im dänischen Exil veröffentlichten Buches Massenpsychologie des Faschismus so beschrieben: „Der Faschismus hat gesiegt und baut seine Positionen mit allen verfügbaren Mitteln, in erster Reihe durch kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich aus. Aber der Kampf gegen das neuerstandene Mittelalter, gegen imperialistische Raubpolitik, Brutalität, Mystik und geistige Unterjochung, […] für die Beseitigung dieser mörderischen gesellschaftlichen Ordnung wird weitergehen.“ Reich analysierte in seinem Buch die Bedingungen des Autoritätsgehorsams und dessen Folgen, zu denen der Glauben an „höhere Mächte“ gehört (um noch einmal Schröters Wortwahl aufzugreifen), und versuchte so, den Erfolg der nationalsozialistischen Propaganda nicht nur bei den von Abstiegsängsten geplagten Mittelschichtbürgern, sondern auch bei den Arbeitern zu erklären.
Michael Schröter ist aufgrund der Lektüre des Buches nun aber zu dem Schluss gekommen, dass die Massenpsychologie des Faschismus eine „psychoanalytische Kampfschrift gegen den Nationalsozialismus“ war, in deren „Vorrede“ Reich „den Übergang […] zum […] Bürgerkrieg propagierte“ (582). Wohl gemerkt, Reich rief damit nicht zum Widerstand gegen NS-Regime, sondern zum „Bürgerkrieg“ auf! Der Politologe Samuel Salzborn kommt zu einem anderen Schluss als der Soziologe Michael Schröter: Er nahm Reichs Massenpsychologie des Faschismus 2021 in die Liste der Klassiker der Sozialwissenschaften auf.
Die Funktionäre der KP bezichtigten Reich, er habe in seinem Buch ‚konterrevolutionäre‘ Positionen vertreten. Das hatte Reich schon einmal getan, als er die – auf die Sozialdemokratie gemünzte – stalinistische Sozialfaschismus-Doktrin verurteilte, durch die die KP-Führer den gemeinsamen Widerstand gegen Hitler schwächten. Nach Erscheinen der Massenpsychologie des Faschismus wurde Reich, ohne dass man vorher mit ihm gesprochen hätte, aus der KP ausgeschlossen. Die DPG-Funktionäre handelten genauso. Sie strichen seinen Namen aus der DPG-Mitgliederliste, ohne ihn vorher darüber zu informieren. Dieser Ausschluss bedeutete – den damals geltenden Statuten entsprechend – auch den Verlust der IPV-Mitgliedschaft Reichs. Im Korrespondenzblatt der IPV wurde weder der klammheimlich vollzogene Ausschluss noch der von Geschichtsfälschern behauptete ‚Austritt‘ Reichs aus der DPG/IPV gemeldet. Schröter merkt dazu kurz und knapp an: „Außerhalb der DPG benutzte man […] die günstige Gelegenheit, um einen aggressiven Dissidenten loszuwerden, der schon seit Jahren störte.“ Und weiter: „[…] die Aufrechterhaltung des Ausschlusses [Reichs aus der DPG] durch die IPV [hatte], soweit ersichtlich, nichts mehr mit dessen ursprünglicher politischer Motivierung oder generell mit der IPV-Politik gegenüber der DPG zu tun“ (584).
Schröter, der in der Einleitung seines Buches behauptet, „dass dieses Buch nach Kräften von Wertungen Abstand nimmt“ (25), gibt sich alle Mühe, Reich nach Kräften zu diskreditieren. So spricht er etwa auch von einer psychischen „Störung“ Reichs, die er mit Berufung auf vereinsinternen Gossip als „Schizophrenie“ (413) spezifiziert. Dissidenten psychische Störungen und damit Unzurechnungsfähigkeit zu bescheinigen, kennt man sonst nur noch aus totalitären Staaten. Man denke etwa an den Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion (s. Bernd Nitzschke, Semyon Gluzmans Kampf um die Behauptung seiner Integrität – https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=29835 – Aufruf: 31.01.2024).
Die Methode, Vertretern abweichender wissenschaftlicher Positionen psychische Störungen zuzuschreiben, um sie, wenn schon nicht zu widerlegen, so doch bloßzustellen, geht auf Freud zurück. Mit Fingerzeig auf Adler und Jung hatte er 1914 bemerkt, „daß es bei Psychoanalytikern ebenso gehen kann“ wie bei „Analysepatienten“, die „unter der Herrschaft des nächsten Widerstandes alles Erlernte in den Wind“ schlagen. Béla Grunberger und Janine Chasseguet-Smirgel, die von 1983 bis 1989 amtierende Vizepräsidentin der IPV, setzten diese unselige Tradition fort. Per Ferndiagnose erkannten sie, „daß die Differenz zwischen ihm [Wilhelm Reich] und dem Freudismus als ein Werk seiner Psychose zu verstehen“ sei. Bis Mitte der 1950er Jahre gehörten diese beiden Vertreter der ‚reinen‘ Lehre der stalinistisch organisierten Kommunistischen Partei Frankreichs an, während Reich, den sie als ‚psychotisch‘ diagnostizierten, den Stalinismus bereits in den 1930er Jahren verurteilt hatte.
Laut Schröter kam es 1929/30 am BPI zu einem „Generationskonflikt“ und damit zu einer „Vereinskrise“ (396 ff.). Die „jüngeren Analytiker“, zu denen auch der später ausgegrenzte Harald Schultz-Hencke gehörte, hätten sich nicht mehr „an die psychoanalytische Orthodoxie gebunden“ gefühlt, denn sie waren – anders als „der ‚alte Kern‘“ – nicht mehr „mit Freud identifiziert“. Ja, „die Linken wie vor allem Wilhelm Reich scheuten sich nicht, Freud offen zu kritisieren“ (402). Und es sollte noch viel schlimmer kommen: Eine „Gruppe“, zu der Fenichel und Reich gehörten, forderte die „Erweiterung der psychoanalytischen Perspektive auf soziologische Zusammenhänge“ (399). Reich, dieser, laut Schröter, schon seit Jahren störende aggressive Dissident, konnte in „der entkernten Berliner Analytikergruppe“ „rasch an Einfluss“ gewinnen (413). Wieso „entkernt“? Einige Analytiker hatten Berlin bereits vor 1933 verlassen. In Schröters Formulierung, also „unter Vernachlässigung der politischen Motive“, wäre dieser Abgang „pointiert gesagt“ wie folgt zu deuten: „So wie die Berliner Fleischtöpfe Männer wie Sachs und Radó aus Wien und Budapest angezogen hatten, so wanderten dieselben Männer jetzt, da die hiesigen Ressourcen versiegten, weiter zu den reich gedeckten amerikanischen Tischen“ (405). Wovon lebt der Mensch? Das weiß nicht nur Schröter, das wusste schon Mackie Messer: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“
An der vordersten Front der „analytischen Marxisten“ (415) beziehungsweise der „marxistischen Analytiker“ (417), die (bis 1933) in Berlin geblieben waren, stand Wilhelm Reich, der, allen Fortschritt ignorierend, an einer überholten Theorie Freuds festhielt, „wonach sich der krankmachende Konflikt zwischen Trieb und Außenwelt abspielt“. „Diese Formel, die implizit zur Gesellschaftskritik aufrief“, ging auf Freuds „Neurosentheorie der 1890er Jahre“ zurück und wurde „ab 1930 zum Schibboleth, durch das sich die ganze Gruppe der Berliner marxistischen Analytiker von ihren Kollegen abhob“. Inzwischen konnte Ulrike May dieses Schibboleth dankenswerterweise als „subtiles Zeichen einer ‚Politisierung‘ der Psychoanalyse“ entschlüsseln. Damit war auch dieses Geheimnis gelüftet: „Es galt generell als ‚links‘, die Bedeutung der Außenwelt für die psychische Entwicklung zu betonen; eine ideologische Vorentscheidung wurde so in die klinisch-theoretische Arbeit hineingetragen“ (417). Und heute gilt generell als hinterwäldlerisch, wer die Bedeutung der Außenwelt für die psychische Entwicklung leugnet.
An einer anderen Stelle lobt Schröter nun aber Fenichels zweibändige Psychoanalytische spezielle Neurosenlehre. Er bezeichnet dieses Werk Fenichels als „Frucht seiner Lehrtätigkeit“ am BPI, das er nach der Emigration „in Amerika zu seiner voluminösen Psychoanalytic Theory of Neurosis“ erweitert habe (387). Offenbar ist Schröter entgangen, dass der marxistische Analytiker in diese Frucht seiner Lehrtätigkeit – sprich: in das Vorwort des ersten Bandes der deutschen Ausgabe des 1931 im Internationalen Psychoanalytischen Verlag veröffentlichten Werkes – nicht nur ein ‚subtiles‘, sondern sogar ein sehr deutliches Zeichen der ‚Politisierung der Psychoanalyse‘ eingearbeitet hat. Dort heißt es nämlich klipp und klar, dass „der Psychologe seine Inkompetenz eingestehen und zugeben muß, daß die Neurosenätiologie keine rein individuell-medizinische Angelegenheit ist, sondern einer soziologischen Ergänzung bedarf“. Eben das war nun aber ein Anliegen, dessen klinische Begründung Reich in seinem 1932 erschienen Beitrag Der masochistische Charakter näher ausgeführt hat. Die Entwicklung eines masochistischen Charakters sei nicht auf einen biologisch vorgegebenen und auf Selbstzerstörung abzielenden Todestrieb zurückzuführen, sondern auf eine in gesellschaftlichen Strukturen verankerte Gewalt, die sich in der Familie und deren Erziehungspraktiken reproduziere. Verinnerlicht führe diese Gewalt zur Wut, die, in der Struktur des masochistischen Charakters verfestigt, zur Wendung der Aggression gegen das Selbst führe.
Schröter stempelt den Masochismus-Aufsatz Wilhelm Reichs als „Programmschrift der ‚politisierten‘ Psychoanalyse“ ab (418). Ganz anders – nämlich als unpolitischen Beitrag zur Beurteilung der Effizienz der psychoanalytischen Therapie – schätzt Schröter einen am 22. Oktober 1933 unter dem Titel Psychoanalyse und Weltanschauung in der antisemitischen Zeitschrift Reichswart veröffentlichten Beitrag Müller-Braunschweigs ein. Dessen „Darlegung übersetzt im Wesentlichen die Freud’schen Behandlungsziele des Liebens- und Arbeitenkönnens […] in die Sprache der Zeit und will damit aufzeigen, wie die Freudianer ihre Praxis in den Dienst des NS-Staats stellen könnten. Sie betont, kurzum, […] den therapeutischen Effekt und Nutzen der Analyse“ (589). Noch etwas kürzer heißt das: Kraft durch Freud(e).
Dieses Bemühen um die ‚Rettung‘ der Psychoanalyse im NS-Staat war nicht leicht. Schröter lobt Müller-Braunschweig denn auch ausdrücklich, weil der „ab 1933 so beharrlich für die Wahrung der freudianischen Eigenständigkeit und Tradition (wenn auch in einer nationalen Variante) gekämpft“ habe (655). Zu diesem Kampf gehörte ein Memorandum, das er im Auftrag Boehms verfasste. Damit sollte deutlich gemacht werden, dass die Psychoanalyse nichts mit der „jüdisch-marxistischen Schweinerei“ zu tun haben konnte, die ein nationalsozialistischer Kulturfunktionär, mit dem Felix Boehm seit Studienzeiten bekannt war, in den Schriften Wilhelm Reichs entdeckt hatte. Eine Kurzfassung des Memorandums war der Reichswart-Artikel Müller-Braunschweigs. Wilhelm Reich druckte ihn in der von ihm herausgegebenen Exil-Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie unter der ironisch gemeinten Überschrift „Unpolitische Wissenschaft“ nach. Anders als Schröter beurteilte er ihn als „Gleichschaltung der psychoanalytischen Theorie der Neurosen mit der Hitlerschen Weltanschauung“.
Anfang der 1970er Jahre fand Helmut Dahmer den längst vergessenen Reichswart-Artikel in Reichs Exil-Zeitschrift wieder. Er publizierte ihn 1983 in der Psyche erneut, diesmal ergänzt durch den Kommentar Kapitulation vor der ‚Weltanschauung’. Zu einem Aufsatz von Carl Müller-Braunschweig aus dem Herbst 1933. Es folgte ein Shitstorm. Renommierte Vereinspsychoanalytiker beschimpften Dahmer. Einer bezeichnete ihn als „marxistischen McCarthy“; ein anderer bekannte offen: „Die Assoziation an Simon Wiesenthal, den Nazi-Jäger, kam mir spontan.“ Ein Jahrzehnt später (1992) verlor Dahmer seinen Posten als Leitender Redakteur und Mitherausgeber der Psyche (s. Bernd Nitzschke, Vom Höhenflug zum Sturzflug. Zum Jahresende ein Skandal: Das Ende der Zeitschrift „Psyche“, DIE ZEIT 1/1992; und Bernd Nitzschke, Phönix aus der Asche – mit weniger Federn. Die Zeitschrift „Psyche“ erscheint weiter: ein Blick in die Geschichte der Psychoanalyse aus aktuellem Anlaß, DIE ZEIT 15/1992). Noch einmal zwei Jahrzehnte später fand dann eine Tagung statt mit dem Titel „Die Ehebald / Dahmer Kontroverse[2] 1984 – revisited. Müssen wir uns schämen?“, bei der es um die Debatte ging, die Dahmers Kommentar zu Müller-Braunschweigs Reichswart-Artikel gefolgt war. Die Vorträge, die bei dieser Tagung gehalten wurden, findet man in einem nur für die Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) bestimmten Buch mit dem Titel Scham und Schamlosigkeit, das nicht in den öffentlichen Verkauf gelangte.
Einer der Teilnehmer dieser Tagung war der Mitbegründer des Vereins „Archiv zur Geschichte der Psychoanalyse“ Friedrich-Wilhelm Eickhoff. Er beschreibt Dahmers „sehr spezifisches ursprüngliches Ziel“ wie folgt: Durch den Kommentar, den Dahmer in der Psyche zum Reichswart-Artikel veröffentlichte, sollte die „Legitimation“ Müller-Braunschweigs, des „Gründungsvaters“ der DPV, „und damit auch der mühsam erworbenen Identität ihrer Mitglieder in Frage“ gestellt werden. Gegen diese „Hetzjagd […] eines Fachfremden“, „auf einen toten Autor“, womit der 1958 gestorbene Müller-Braunschweig gemeint ist, polemisiert der Psychoanalytiker Eickhoff, indem er den Soziologen Dahmer als „Nicht-Analytiker“ vorstellt und dessen Legitimation als vormaliger „Herausgeber einer Zeitschrift für Psychoanalyse“ noch nachträglich infrage stellt. Es sei zweifelhaft, „ob Mitscherlich zu Lebzeiten diesem Projekt“ – gemeint ist die Re-Publikation und Kommentierung des Reichswart-Artikels in der Psyche 1983 durch Dahmer – „zugestimmt hätte“. Nun muss man wissen, dass es Alexander Mitscherlich war, der Dahmer in die Redaktion berufen hatte, obgleich (oder weil?) Dahmer sich schon damals „emphatisch zur Psychoanalyse als Sozialwissenschaft“ (Eickhoff) bekannte (s. zu Eickhoffs weiteren Auslassungen: https://www.academia.edu/40509717/SCHAMABWEHR_PER_SCHULDZUWEISUNG_Vom_Umgang_der_Erben_mit_der_Psychoanalyse_im_Nationalsozialismus – Aufruf: 01.02.2024).
Schließlich erschien 2022 ein von Udo Hock verfasster Beitrag über Die Geschichte der ‚Psyche‘ und ihre Debatten. Eine dieser Debatten hatte, wie dargestellt, zu Dahmers Entlassung als Leitender Redakteur und Mitherausgeber der Psyche geführt. Dahmer hätte zur Erzählung Hocks gern Stellung genommen, doch die Redaktion der Psyche lehnte die Veröffentlichung seines ergänzenden und korrigierenden Beitrags kategorisch ab (s. Helmut Dahmer: Streit um die Psychoanalyse. In: Im Labyrinth – Hefte für Autonomie 7/2023, 67-75).
Von all dem erfährt der Leser des Buches von Schröter kein Wort. Selbst im „Epilog – Die Wiederbelebung der Freudschen Tradition nach 1945“ werden die Debatten nicht erwähnt, die der Re-Publikation des Reichswart-Artikels folgten. Im Literaturverzeichnis findet man daher auch keinen der genannten Beiträge, ja, selbst im Personenregister ist Dahmers Name nicht zu finden.
Geschichtsschreibung besteht niemals nur aus der Aufzählung historischer Ereignisse, vielmehr werden die vorhandenen Quellen gesichtet und so ausgewählt (arrangiert), dass daraus eine sinnvolle Erzählung entstehen kann. Die Konstruktion einer solchen Erzählung beginnt aber nicht erst mit der Auswahl und Gewichtung der Quellen, sie beginnt bereits mit deren Abfassung, also mit der Herstellung des ‚Materials‘, aus dem später eine in Büchern zusammengefasste Geschichte werden soll. Von deren ‚Wahrheit‘ ist man dann überzeugt. „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“ (Goethe).
Die Botschaften, die solche Geschichten transportieren, werden am Ende des Buches noch einmal zusammengefasst. Das ist auch bei Schröter der Fall. Aus der von ihm gezogenen Bilanz (715 ff.) greife ich zum Schluss noch den folgenden bemerkenswerten Satz heraus: „Dass die Freudianer um Boehm und Müller-Braunschweig im ‚Göring-Institut‘[3] mitgemacht hatten, wurde um 1980, als junge Psychoanalytiker begannen, die Geschichte ihres Faches im ‚Dritten Reich‘ aufzuarbeiten, mit Überraschung und Bestürzung registriert. Man sah darin einen Sündenfall. Dies jedoch war eine Reaktion von Nachgeborenen, deren idealisiertes kollektives Selbstbild unversehens beschädigt wurde“ (716). Nein! Die ‚Nachgeborenen‘ zerstörten nicht ihr eigenes, sie zerstörten das Selbstbild derer, die die Psychoanalyse in der NS-Zeit an die Machthaber ausgeliefert und nach 1945 Erinnerungslücken hinterlassen haben, die noch auszufüllen waren.
Das von Freud aus der Aeneis des Vergil übernommene Motto der Traumdeutung lautet: „Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.“ Das bedeutet sinngemäß: Wenn ich die Bewohner der Oberwelt nicht bewegen kann, werde ich die Unterwelt in Bewegung setzen. Oder kürzer: Wenn Gott mir nicht hilft, werde ich den Teufel um Hilfe bitten. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Bisweilen ist er aber auch in seiner ganzen Größe zu sehen.
Wer, um eine Formulierung Schröters aufzugreifen, die Psychoanalyse nur als „Grundlage eines lehr- und lernbaren Berufs“ (15) verstehen und sie in dieser Gestalt auf ihren therapeutischen Nutzeffekt reduzieren wollte, der konnte sie nach 1933 auch dem „nationalsozialistischen Regime“ erfolgreich anpreisen. Er musste allerdings diesen Satz ignorieren, den Freud 1933 niedergeschrieben hat: „Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt.“ In Schröters Geschichtserzählung fehlen die von Freud genannten „Aufschlüsse“ weitgehend. Wer sich daran nicht stört, der wird in dem hier besprochenen Buch reichlich bedient. Alle anderen müssen sich gedulden, bis eines (fernen?) Tages tatsächlich eine fundierte soziologische Einordnung der (deutschen?) psychoanalytischen Bewegung ins Ensemble all jener ‚Bewegungen‘ vorliegen wird, die damals den Aufbruch in eine neue Zeit begleiteten. Das waren – neben der psychoanalytischen Bewegung – die Arbeiter-, die Frauen-, die Jugendbewegung und, ja, auch antidemokratische Massenbewegungen, zu denen nicht zuletzt die NSDAP gehörte, über deren ‚Erfolge‘ Wilhelm Reich mit Rückgriff auf psychoanalytische und soziopolitische Theorien die Gegner des NS-Regimes aufzuklären versuchte, doch die kompakte Majorität (nicht nur der Psychoanalytiker) wollte damals keine weitere Aufklärung und schlug einen vermeintlich „eigenen“, tatsächlich aber fremdbestimmten Weg ein.
[1] Die Seitenangaben im Text, die ohne weitere Angaben in Klammern stehen, beziehen sich auf das hier besprochene Buch.
[2] Ulrich Ehebald gehörte zu den Psychoanalytikern, die Helmut Dahmer wegen des Kommentars zur Re-Publikation des Reichswart-Artikels besonders heftig angegriffen hatten.
[3] Jargon-Ausdruck für das von Mathias H. Göring, einem Vetter des Reichsmarschalls, geleitete Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, das nach 1933 in den Räumen des Berliner DPG-Instituts untergebracht wurde.
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