Literarische Vielfalt – gestern und heute
Christian Kiening zeigt in „Das Mittelalter der Gegenwart“ die Zeitlosigkeit der Dichtung
Von Thorsten Paprotny
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Minnesang, die hohe Kunst der mittelalterlichen Lyrik, weckt wehmütige, dankbare Erinnerungen bei vielen Leserinnen und Lesern, die sich oft vor langer Zeit im Studium der Germanistik auf die Pfade von Oswald von Wolkenstein und Wolfram von Eschenbach begeben durften, schauend, staunend und bewundernd. Lebt aber die mittelalterliche Dichtung heute noch fort? Und wenn ja, auf welche Weise kann man ihr begegnen?
Der Zürcher Altgermanist Christian Kiening verweist auf intertextuelle Bezüge zwischen Geschichte und Gegenwart, auf historische Formen der Poesie, die Resonanz und Widerhall in den Werken heutiger Literaten finden, aber er stellt auch ernüchternd fest, wenn er die profane wissenschaftliche Professionalität betrachtet, in der der Minnesang ein Obdach gefunden hat – dieser sei eine „gelehrte Angelegenheit“ geworden. Weiter schreibt er illusionslos und auch bekümmert:
Wer kennt heute noch Des Minnesangs Frühling? Nicht einmal die meisten Studierenden der Germanistik. Lange vorbei die Zeit, als man die berühmte, 1857 zuerst erschienene Anthologie des Minnesangs vor Walther von der Vogelweide schon im Gymnasium las. Als man sich in der Universitätsdruckerei die unaufgeschnittenen Bögen, durchschossen mit leeren Blättern für Notizen, zwischen Holzdeckel, mit marmoriertem Papier überzogen, binden ließ. Als man den irgendwann grauen, dann grünen, schließlich weiß-roten Band im zusammengeschnürten Paket, in der Ledertasche, im Rucksack mit sich trug, weniger um die Finessen der Liebe als um die Formen des Ablauts und der Lautverschiebung zu lernen.
Vielleicht entdeckte die eine oder der andere neben Sprachkunst und Grammatik doch auch ein wenig Liebesglück in der Dichtung, im Mindestens die Liebe zur Lyrik, zur Literatur. Kiening schreibt mitnichten eine romantisch getönte Literaturgeschichte, sondern er führt Spiegelungen und Reflexionen an, macht Bezüge sichtbar, die zwischen den Literaturen von gestern und heute bestehen und weist souverän sowie kenntnisreich nach, dass auch eine verborgene Rezeption der mittelalterlichen Epik und Dichtung heute besteht. Mit großer Wertschätzung würdigt er Peter Rühmkorf, der sich in den 1970er Jahren Walther von der Vogelweide annäherte und eine „eigenwillig politische, aber historisch reflektierte kommentierte Übersetzung“ von dessen Liedern vorgelegt hatte, als Kontrapunkt zu literatursoziologisch ambitionierten Studien seinerzeit, ebenso pointiert abgewandt von der lauen Biederkeit einer – mit Rühmkorfs Worten gesagt – traditionalistisch orientierten „Altherrengermanistik“.
Kiening verweist heute auf die Poesie des Mittelalters, in der die Geschichte als „sprachlich-mediales Ereignis“ auftrete und „Modi des Lesens und Verstehens, der Produktion und Rezeption“ aktiviert würden, wenn sich Autorinnen und Autoren auf die Spuren der mittelalterlichen Lyrik begäben und diese aufnähmen: „Tiefenräume und Zeitschichten – die Metaphorik rekurriert nicht einfach auf die Tatsache, dass die abstrakte Denkfigur der Zeit meist in räumlichen Modellen konkretisiert wird.“ Die „welterfahrenen, -erfassenden und -entwerfenden Dimensionen der Texte“ werden sichtbar, etwa dann, wenn Felicitas Hoppe eine neue Johanna von Orleans vorstellt, neu insoweit, als dass sie gegenwärtig wird, den Stoff der Geschichte, insbesondere der Literaturgeschichte, aufgreift, neu und ganz anders ordnet. Hoppe verlässt für ihre Johanna die Ebene der „historischen Narration“:
Es gibt keine Schilderung der Schlachten, Gefängnisaufenthalte, Verhöre, schließlich der Hinrichtung, und schon gar keine, die der historischen Chronologie folgen würde. Vieles wird nur angedeutet, im Gespräch mit der Peitsche, mit dem Professor, im Monolog, geprägt durch die Sichtweise der Icherzählerin. Sie scheint bruchlos ins historische Geschehen eintauchen, aber auch von diesem wieder in die Gegenwart wechseln zu können. Die Referenzen verwischen sich. Es kommt zu paradoxen Gleichzeitigkeiten.
In der Literatur der Gegenwart bricht Felicitas Hoppe aus den Zeitlinien aus, aber sie nimmt die historische Figur wahr, anders wahr, und kreiert somit eine neue Wirklichkeit, ein Fantasiestück über Johanna, im „Möglichkeitsraum“ des Schreibens. Weder die historische noch die gegenwärtige Ebene des Erzählens verfüge, so Kiening, über „ausgeprägte Konturen“. Vieles werde angedeutet, die historische und die zeitgenössische Ebene gingen ineinander über, so dass es nicht länger sinnvoll erscheine, beide Ebenen überhaupt zu trennen: „Die Icherzählerin und Johannes: sie lebt mit ihr auf Du und Du und vermag sie doch nicht zu greifen.“ So vergegenwärtigt die Erzählerin Hoppe einen historischen Stoff, buchstäblich, indem sie das Mittelalter literarisch in die Gegenwart hineinfügt – und zugleich auch die Gegenwart, ihre Zeit, mit dem Mittelalter fantasievoll verknüpft. Es entsteht ein unauflösliches Gewebe einer neuen Gestalt von Literatur.
Auch an einem anderen Beispiel erläutert Kiening hier, wie historische Personen, ob Johanna oder Oswald von Wolkenstein, „neu in Bewegung gesetzt werden“ und ein eigenes „dialogisches Verhältnis“ entsteht, das auch Kunstformen übersteigt, etwa wenn Thomas Kling Oswald in eine „Musiktheater-Performance“ einbettet, anders gesagt: vergegenwärtigt – und die „Durchdringung des Historischen und des Gegenwärtigen“ greifbar wird. Eine „paddelnde Mediävistik“ entsteht:
Kling durchkreuzt die Illusion, man könne Vergangenes einfach wiederherstellen. Das Materielle erweist sich als ignorierbar wie verlässlich, das Mediale als ebenso unhintergehbar wie trügerisch. Das sind Aspekte, die auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften um die Jahrtausendwende herum zum Tragen kommen. Der Vorteil der „paddelnden Mediävistik“: Sie kann nicht nur Aussagen machen, sondern Erfahrungen durch poetische Prozesse eröffnen – im Wort, in der Schrift, im Ton, im Bild, in unerhörten Verschränkungen und Verdichtungen, die die Lesenden hineinziehen in die Schichten der Zeit und der Sprache.
Die „Vielfalt“ der mittelalterlichen Dichtungen beeindrucke, auch heute, doch jene der gegenwärtigen literarischen Formen nicht weniger. Es entstünden, so Christian Kiening, „avancierte und freie Anverwandlungen“. Leserinnen und Leser mögen sich, immer wieder und immer wieder aufs Neue, fragen: „Kommen die Texte zusammen? Erzeugen sie Spannungsverhältnisse?“ Insbesondere erwähnt der Germanist das faszinierende Moment der Zeit, wie es sich bei dem Spiel mit der „historischen und nichthistorischen Figur der Johanna“ bei Felicitas Hoppe gezeigt hat:
Kaum je geht es einfach darum, sich in die Vergangenheit zu versetzen oder umgekehrt, einen Autor oder Text gegenwärtig zu machen. Kaum je interessiert die Zeit in ihrer primär linearen, chronologischen Form. Die Faszination gilt den Möglichkeiten, komplexere Beziehungen zwischen verschiedenen zeitlichen Momenten herzustellen, Zeitkuben und Zeittunnel zu schaffen und die Zeit in ihrer Komplexität literarisch zur Erscheinung zu bringen.
Christian Kiening stellt exemplarisch Werke der Gegenwartsliteratur vor, in denen sich das Mittelalter und unsere Zeit begegnen, berühren und bisweilen miteinander verschwimmen. Damit veranschaulicht er die hohe Kunst der Intertextualität, aber er weckt darüber hinaus auch neu den Geschmack für die Magie der Literatur, insbesondere regt er an, die mittelalterliche Dichtung noch einmal oder zum ersten Mal erkunden – und er zeigt, dass dies nicht allein historisch gelingen kann, sondern dass auch die Gegenwartsliteratur bemerkenswerte Wege zum Schatz der Dichtungen aller Zeiten öffnet. Der Germanist Christian Kiening hat ein überaus lesenswertes Buch über Literatur gestern und heute vorgelegt, für Fachkundige, für Neugierige und für alle, die sich von der Dichtung heute verführen lassen möchten.
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