Exerzitien vom Reißbrett einer verdämmernden Spätavantgarde
Hans Thills Prosaexperiment „Neue Dörfer“
Von Willi Huntemann
Avantgardistisch-experimentelle Schreibweisen sind nicht nur eine Herausforderung für Leser und Leserin, sondern auch für die Literaturkritik. War bei Literatur der Vormoderne vor allem zu beurteilen, ob jemand Sujet, Form und Stil gemäß den Regeln der Dichtkunst gemeistert hatte, traten später handwerkliche Faktoren bei abnehmender Verbindlichkeit von normativer Poetik und zunehmendem Originalitätsanspruch mehr und mehr in der Beurteilung zurück. Doch auch heute noch lassen sich beim überwiegenden Teil fiktionaler Erzählprosa – Lyrik einmal beiseite gelassen – Thema und Sujet von der Darstellungsform trennen und der Kritiker kann prinzipiell fragen: Wird das Buch seinem Thema gerecht? Je artifizieller die erzählerische Konstruktion wird, wenn doppelbödige Erzählwelten eröffnet werden, womöglich noch selbstreflexiv und metafiktional gebrochen, umso schwerer fällt diese Trennung freilich. Wenn es schließlich gar keine kohärente Erzählwelt mehr gibt, also auch gar nicht mehr sensu stricto erzählt wird, wie bei lyrischer Prosa bzw. Prosagedichten, braucht es andere Bewertungskriterien, die eher denen im Umgang mit lyrischen Texten ähneln.
Solch einen Text, der offenbar einer nichtmimetischen Poetik folgt, hat der Lyriker Hans Thill vorgelegt. Nichtmimetisch bedeutet hier: Es sind Texte, die nicht narrativ oder beschreibend etwas abbilden; die gleichsam keinen Sinn haben, sondern Sinn machen. Hier nach Sinn und Bedeutung zu fragen, führt nicht weit. Solche Texte wollen nicht hermeneutisch gedeutet, sondern performativ erlebt werden. Die Kritikerfrage ist in diesem Falle, wie und ob sie „funktionieren“, nicht, was ihre „Aussage“ sein könnte.
Thills Buch besteht aus 288 Einzeltexten: zweimal zwölf Kapitel mit jeweils zwölf Kurztexten. Es bildet eine Art Phänomenologie imaginärer Dörfer, wie die Überschriften der 24 Kapitel suggerieren. Eine Klassifikation dient als Ordnungsrahmen, so wie woanders in modernistischer Literatur eine kalendarische oder lexikalische Ordnung (vgl. Andreas Okopenkos „Lexikon-Roman“). Doch geht es letztlich nicht einmal um Dörfer, weder in einem topografischen noch sozialen Sinn, auch wenn jeder Abschnitt stereotyp anhebt mit „Das nächste Dorf, …“ und der Gestus meist der eines Erlebnisberichts ist. Ein Ich/ Wir ist durchgehende Koordinate, doch sind es reine Sprach-Dörfer und in diesem Sinne sind sie „neu“, wie es im Titel heißt – aber auch in dem Sinne, als das Buch den Nachfolgeband von Thills Buch der Dörfer (2014) bildet, das bereits genauso aufgebaut war.
Für den einzelnen Kurztext ist ein Sinnkern nicht benennbar und auch innerhalb der Kapitel bietet sich in Inhalt, Sprache oder Anordnung kein Sinnzusammenhang oder eine Art Entwicklung über das Repetitive hinaus an, denn auch die Überschriften, in sich bereits kryptisch, bieten keinerlei Orientierung, da sich die unter ihnen versammelten Texte nur schwerlich auf die vom Titel geweckten Vorstellungen beziehen lassen. Die Klassifikation ist aber auch nicht klar genug, um Sinnerwartungen beim Leser auszubilden, die dann überraschend unterlaufen oder durchkreuzt würden. Das „Dorf“ als Leitvokabel ist weder durchgehendes Thema oder Sujet noch Chiffre, sondern eine Art semantischer Kern oder Ausgangspunkt, der eine nähere Charakterisierung erwarten lässt, die dann aber keinen fassbaren Sinn ergibt, sondern sich anarchisch in sprunghaften Assoziationen, Nonsens und Redensarten auflöst, bevor es mit dem „nächsten Dorf“ von neuem anfängt – eine den Leser ermüdende repetitiv-monotone Bewegung, sofern er sie überhaupt auch nur annähernd 288 Mal durchhalten sollte.
Man könnte sich „Dorf“ leicht durch eine andere topografische Kategorie ersetzt denken, ohne dass sich viel bei der Lektüre ändern würde. Immer wieder fallen gewichtige Namen von Philosophen von Spinoza bis Agamben, die willkürlich verstreut sind, keinerlei Sinnbezüge ausbilden und wohl nur den intellektuellen Horizont des Verfassers markieren sollen. Gleiches gilt für eingestreute Redensarten, Sprüche aus Volks- und Bildungsgut wie literarische Anspielungen oder kursivierte Dialekt-Brocken. Selten lassen kalauernde Wortspiele wie „Sennbuddhismus“ einmal schmunzeln. Thill ist nicht Günter Eich, an dessen legendäre „Maulwürfe“ man sich zuweilen erinnert fühlt. Mit (surrealistischer) „écriture automatique“ (oder eher dem, was bei ChatGPT bei entsprechendem Prompt herauskäme), woran man bei Thill denken mag, haben Eichs Kurzprosastücke eigenen Genres freilich nichts zu tun; kohärenter Sinn und dessen anarchische Konterkarierung in Nonsens und Kalauer sind ausbalanciert und kompositorisch wie poetologisch wohldurchdacht.
Nun sei Eich einmal als Ausgangspunkt genommen, um skizzenhaft eine kleine Typologie nichtmimetischen Schreibens in der Moderne zu entwickeln. So kann vielleicht Thills Prosa besser eingeordnet werden. In Eichs „Maulwürfen“ (1968) dominiert der Subjektfokus, der bei allem Nonsens und surrealer Logik als Fixpunkt für Stabilität sorgt. Man könnte auch überhaupt die Bewusstseinsprosa der Moderne von Joyce über Mayröcker bis Jürgen Becker nennen, deren mäandernde Sinnbewegungen wenn schon nicht einer narrativen Logik, so doch immerhin einem Subjektfokus, meist markiert in der Ichform oder im personalen Modus, unterliegen. Gertrude Steins Prosagedichte „Tender Buttons“ von 1914, wegen ihrer Kürze ebenfalls gut mit den „Neuen Dörfern“ vergleichbar, ist Prosa mit Objektfokus; die Autorin wollte bekanntlich ein literarisches Gegenstück zum Kubismus in der Kunst schaffen. Weder auf dem Subjekt noch auf dem Objekt, sondern auf der Sprache liegt schließlich der Fokus in der sprachexperimentellen Literatur der 60er-/70er-Jahre (Franz Mon, Helmut Heißenbüttel, Konkrete Poesie, Wiener Gruppe), wo mit der Sprache in ihrer Materialität und Zitathaftigkeit experimentiert wird. Es sei nun die Vermutung geäußert, dass Thills großangelegtes Prosaexperiment scheitert, da er sich nicht entscheiden kann, ob der Fokus subjekt-, objekt- oder primär sprachbezogen sein soll.
Die (phänomenologische) Dörfer-Klassifikation als übergeordnete Struktur verweist auf einen Objektbezug, der Modus eines erlebenden Ich, das durch die „Dörfer“ reist, als Subjektbezug neutralisiert das zugleich und die Dynamik einer surrealen Sprachfantasie als Sprachbezug wirkt wiederum beidem entgegen. Offenbar muss einer dieser Parameter stabil bleiben, damit Sinnerwartungen beim Leser aufgebaut wie auch möglicherweise enttäuscht werden können und so unerwartete Sinnverläufe entstehen. Wenn das stereotype Textmuster vorhersehbar bleibt – durch den Großaufbau (24 mal 12 Texte) ist es wie am Reißbrett vorgegeben – und, anders als man es bei dem Untertitel „Kleine Prosa“ erwarten würde, nicht weiter variiert wird und zugleich die jeweilige Ausgestaltung dieses Musters im gleichen Maße unvorhersehbar bleibt, verliert der Leser bald das Interesse. Beide Parameter interagieren nicht auf lebendige Art und Weise.
Wer heute Sonette oder Novellen schreibt, stellt sich damit zwangsläufig in die Sonett- oder Novellentradition und muss sich vor diesem Hintergrund beurteilen lassen. Bei jemandem, der in (neo)avantgardistischer Manier nicht formgebunden schreibt, ist das nicht anders, da die Avantgarde längst historisch geworden ist und selbst eine Tradition ausgebildet hat. Die oben erwähnte sprachexperimentelle Literatur der 60er-/70er-Jahre war ja zu ihrer Zeit bereits eine Neoavantgarde gegenüber der Avantgarde der frühen Moderne. In einem bleibt ein Anschluss an die Avantgarde-Tradition immer hinter deren Niveau zurück, anders als wenn sich ein Autor in die Sonett- oder Novellentradition stellt: avantgardistisch-experimentelle Schreibweisen veralten schneller, da sich der ihnen innewohnende Innovationsanspruch wie auch Konventions- und Tabubrüche nicht auf Dauer stellen lassen. Das dürfte mit ein Grund dafür sein, dass diese Art experimenteller Literatur im heutigen Literaturbewusstsein und -betrieb so gut wie keine Rolle mehr spielt und nur noch in kleinen Nischen fortlebt – man mag dies bedauern oder nicht.
Nachsatz: Unter der Vielzahl der Dörfer, die Hans Thill uns präsentiert, sucht man zwei vergeblich, die jedem sofort einfallen dürften: es sind die (sprichwörtlichen) böhmischen und potemkinschen Dörfer. Der Leser mag selbst entscheiden, welche von beiden Arten er Thills Buch symbolisch zuordnen würde.
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