Ein Umgebungsroman
Wie Kurt Oesterles „Alten Mann braucht niemand mehr“ zum Nachdenken anregt
Von Werner Jung
Zu diesem Buch ist in literaturkritik.de bereits eine Rezension von Siegfried Frech erschienen.
Ausnahmsweise publizieren wir hier eine zweite Rezension.
Otto heißt er, der Protagonist aus Kurt Oesterles Roman – und er trägt keinen Nachnamen; er könnte aber Otto Normalverbraucher oder Otto Alltagsmensch heißen. Otto ist 69 Jahre alt, hat ein Jahr vor Corona seine Frau, die er zuvor aufopferungsvoll gepflegt hatte, verloren und war zu Berufszeiten zunächst Fernfahrer, am Ende dann Wachmann. Jetzt, „so ganzheitlich allein“, fühlt er sich dennoch „weder einsam noch verlassen“ und versucht sein Leben neu zu strukturieren bzw. zu organisieren – zu einer Zeit im aktuellen Hier und Jetzt, die ihn nicht nur existentiell und privat tief getroffen hat, sondern die durch die Corona-Seuche schwer kontaminiert und zusätzlich durch den Krieg in der Ukraine belastet ist. Überall – und das bildet gleichsam den Generalbass dieses Romans – zeigen sich die Auswüchse und Geschwüre der Seuche, die das soziale Leben der Menschen vergiftet, perverseste Schwurbeleien und dumpfsten Unfug in die Köpfe und auch auf die Straßen gebracht und eine weitere zusätzliche Geißel neben der ubiquitären Umweltverschmutzung vulgo dem Klimawandel der Gesellschaft hinzugefügt hat. Otto, dieser „ungebildete und damit unverbildete Mann von angeborenem Scharfsinn“, wird einerseits als kluger Beobachter, bisweilen Kommentator dieses gravierenden gesellschaftlichen Wandels beschrieben, andererseits zugleich als ein Mensch geschildert, dem es – bei allem Hadern mit dem Zipperlein des Alterns – im Verlauf der Erzählung gelingt, die zunächst bei sich festgestellte „Verpennerung“ zu überwinden und den „Alltagsaufrechterhaltungsanstrengungen“ positive Momente abzugewinnen. So unternimmt er ausgedehnte Touren mit dem Auto, begleitet von seiner Lieblingsmusik, etwa Johnny Cash und CCR, deren Songs er ebenso lautschallend mitsingt, geht spazieren, wandelt wie ein Flaneur durch seine Heimatstadt, wohl Tübingen, und feiert dabei das „Freiherumlaufen und Sichüberraschenlassen“, was ihm dann folgerichtig auch (in den letzten Kapiteln seines „Umgebungsromans“, wie es verschiedentlich heißt) zustößt. Er belohnt sich mit kleinen Alltagsgenüssen, geht regelmäßig Krähen füttern und findet Genugtuung an und in den Dingen der Natur:
Schon allein den Himmel über sich wollte er nie wieder missen – früher hatte er ihn ignoriert, als ob es ihn nicht gäbe –, sei es als makellos blaues Gewölbe oder als gräulich bewegtes Wolkenmeer. Noch nie in seinen 69 Jährchen hatte er so oft zum Himmel aufgeschaut wie in den letzten Wochen. Und er brauchte dieses Aufschauen – tagtäglich neu! Nicht, um dabei in eine religiöse Stimmung zu geraten, sondern um staunend zu spüren, wie sein Inneres sich inzwischen ausgedehnt hatte: […].
Schließlich deutet sich an, was kommen muss, geradezu zwangsläufig bei jemandem, der es in seinem Alleinsein gelernt hat, so etwas wie stoische, an Mark Aurel erinnernde Einsichten zu verbreiten, wonach es „für das Alter keinen Plan“ gibt, „kein Spezialwissen, kein Trainingslager“. Darin ähnelt Otto den Protagonisten aus den Romanen eines anderen großen schwäbischen Schriftstellers, Hermann Lenz, dessen – häufig geäußertes – Lebensmotto war: „Wenn du nur durchkommst“.
Ein spätes Lebensglück ist ihm beschieden, nachdem er anfangs schon fast bereit war, sein Triebleben als lästig und geradezu aufdringlich zu empfinden. Über seine beinahe 100-jährige Tante Ingeborg, die inzwischen in einem Heim gelandet ist, lernt er deren knapp über 80-jährige Freundin Loni kennen. Und es regt sich seine Sinnenlust wieder:
In ihrem schwarzen, nicht besonders hoch geschlossenen T-Shirt, ihrer engen weißen Jeans, die einen wohlgeformten Hintern keineswegs verbergen wollte, mit der dicken, kugeligen Perlenkette knapp über dem Buseneinschnitt, den rotlackierten Zehen- und Fingernägeln […].
Ja, zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau heißt es hübsch und unverkrampft weiter:
[…] berührte ihn Weibliches derart herzhaft und unzweideutig, namentlich in der Körpermitte. Es war eine Freude, es war ein Genuss! Und seine Gastgeberin – nur ein paar Stündchen über achtzig – schien es durchaus und nicht ohne Wohlgefallen zu bemerken.
Oesterle, der in den zurückliegenden Jahren eine ganze Reihe von Essays und ganzen Essaybänden vorgelegt hat, die man mit guten Gründen als kulturphilosophisch bezeichnen darf (in Büchern etwa über Mörike oder Hölderlin sowie über verschiedene jüdische Stimmen in der deutschen Literatur), hat nun einen wundervollen Roman übers Alter bzw. Probleme des Alterns in unserer Zeit geschrieben, einen Roman auch, der – das sei nun doch in Verlagsrichtung hin gesagt – zum Nachdenken anregt und weitaus ambitionierter daherkommt, als es die falsch idyllisierende, auf schlechte deutsche Humortraditionen zielende Umschlagszeichnung (ein alter Mann auf der Parkbank, der vor ihm hockende Raben mit Nüssen füttert) suggeriert.
Nein, die Zeit für Idyllen ist wohl endgültig passé – das Ende des Romans bleibt offen (etwa eine neue Beziehung Ottos zu Loni?), und mit einem fürchterlich traurigen Bild bricht Oesterles Text ab: Otto und Loni stehen draußen vor dem Krankenhaus, in dem Tante Ingeborg, schwerst mit Corona infiziert, von einem Krankenpfleger mit ihrem Bett ans Fenster geschoben wird, „und schließlich kam es zumindest Otto so vor, als hebe der Krankenpfleger Tante Ingeborgs Hand, um damit zu winken.“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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