Auf Spurensuche nach dem verlorengegangenen Leben einer Freundin
Anja Reich zeichnet in ihrem aktuellen Buch „Simone“ das Porträt einer jungen Frau, die in der DDR aufwächst und im Trubel der Wiedervereinigung scheinbar untergeht
Von Marieluise Labry
Wer war Simone? Und warum nahm sie sich im Alter von 27 Jahren das Leben?
Nach 25 Jahren beschäftigt das die Autorin, Journalistin und Freundin Anja Reich immer noch. Simone ist nicht mehr da und kann die vielen Fragen, die ihre Freunde und Familie an sie haben, nicht mehr beantworten. So machte sich Anja Reich auf eine journalistische Spurensuche, die sie nach Tschechien, in die DDR und das unberechenbare Leben der 1990-er Jahre in Berlin führen. Über mehrere Jahre gräbt sich Anja Reich regelrecht ein in das, was von Simones Leben noch da ist: Kisten voller Tagebücher, Aufzeichnungen, Bücher, Andenken. Und sie spricht mit ihren Eltern, ihrem Bruder, verflossenen Liebhabern, Schulfreundinnen und Bekannten. Jeder hat dabei eine eigene Sicht auf Simone und erklärt sich den Suizid der jungen Frau auf seine Weise.
Das Buch beginnt chronologisch am Anfang von Simones Geschichte, mit der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern. Ihre Mutter Tschechin und ihr Vater aus Mecklenburg erleben die Schwere der Nachkriegszeit und die Aufbruchsstimmung der DDR in den 1950-er Jahren. Als sich Simones Eltern Ulrich und Dana während seines Studiums im Ausland kennenlernen, ist Dana noch mit einem anderen Deutschen verheiratet, der ihr aber später beichtet, dass er schwul ist. Beschämt und überfordert mit der Situation lässt sich Dana scheiden, nicht zuletzt auch, weil sie bereits ein Verhältnis mit Ulrich hat und von ihm schwanger ist. Ulrich und Dana werden Ärzte und tun immer das, was der Staat ihnen vorgibt, zu tun. Beide arbeiten in Provinzkrankenhäuser ihre Schichten, pendeln zwischen Kleinstädten und erfüllen damit ihren Dienst für den Sozialismus. Für Simones Mutter Dana ist die Übersiedlung von der Tschechoslowakei in die DDR ein enormer sozialer Aufstieg, auf den sie lange stolz ist. Die tschechische Sprache darf sie aber nicht an ihre Kinder weitergeben. Dana fügt sich, auch als sie ihre Tochter Simone bereits nach wenigen Monaten nach der Geburt in die Wochenkrippe geben soll, damit sie schnell wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann.
Die Wochenkrippe war eine Einrichtung zur Betreuung von Babys und Kleinkindern, die dort montags von ihren Eltern abgegeben und freitags abgeholt wurden. Die seelischen Folgen für die Kinder, die unter der Woche vollkommen isoliert von ihren Eltern waren, sind teilweise bis heute nicht abzusehen. Könnte das vielleicht ein Grund für die seelische Instabilität der Freundin sein? Liegen dort die Gründe für ihre Depressionen im Erwachsenenalter? Möglich, aber diese Erklärung ist zu unterkomplex, findet auch die Autorin und sucht weiter. Sie liest in den Tagebüchern, spricht mit allen möglichen Freunden und Bekannten von Simone. Anschaulich und ohne Kitsch beschreibt die Autorin ihr Aufwachsen in der DDR mit Simone. Anja ist einige Zeit mit Simones Bruder André zusammen. Nach der Trennung bleibt ihr Simone, die ihr eine enge Freundin wird.
Die beiden sind Anfang 20 als der Mauerfall und die Wiedervereinigung das Ende der DDR einläuten. Eigentlich ist das ein guter Zeitpunkt, kurz vor dem Berufseinstieg. Auf einmal stehen den beiden alle Türen offen, alles ist möglich. Vielleicht zu viel? Während Anja ihre Karriere als Journalistin beginnt, ihren Mann (den Journalisten und Autor Alexander Osang) kennenlernt, Kinder bekommt und viel im Ausland arbeitet, kommt Simone nicht so richtig vom Fleck. Sie hat viele Beziehungen mit Männern, die eigentlich nichts Festes wollen. Sie treibt durch die frühen Neunziger Jahre in Berlin, mit all seinen Chancen und Möglichkeiten, aber ohne Halt.
Anja Reich beschreibt diese Zeit, so wie sie wahrscheinlich viele junge Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, damals erleben: aufregend, wild, voller Möglichkeiten, aber gleichzeitig beängstigend, unsicher und voller Selbstzweifel, ob man es schafft, sich in diesem neuen System behaupten zu können.
Aber wer kannte das nicht, bei wem war das Leben schon normal in dieser Zeit, den Neunzigern? Und was hieß eigentlich ‚normal‘, wenn fast alles, was man gerade noch an Normen und Werten gelernt hatte, nicht mehr galt? Wie soll man erkennen, dass es jemanden schlecht geht, wenn man selbst mit Überforderung kämpft
Hat Simone also diese Umbruchsphase nicht verkraftet? Ist sie im neuen System unter die Räder gekommen? Anja Reich geht dieser Spur nach und beschäftigt sich mit den Suiziden in den 1990-er Jahren, in der DDR und Bundesrepublik. Es lassen sich keine signifikant höheren Zahlen nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland feststellen, die Datenerhebung ist nicht einheitlich und vollständig. Einer Psychiaterin berichtet Reich von ihrer Freundin, beschreibt, wie sie aufgewachsen ist, das Verhältnis zu ihren Eltern und ihr Bemühen um die Tochter. Die Psychiaterin, die sich viel mit der DDR und der Umbruchszeit und deren Auswirkungen auf die Psyche der Menschen beschäftigt hat, stellt fest: „Wie man die Wende verkraftet habe, hänge mitunter von wenigen Augenblicken im Leben ab.“ Sie vermutet, dass die DDR und ihre Strukturen auf Simone wie eine „pseudostabilisierende“ Droge gewirkt habe und sie daher keinen Halt nach der Wiedervereinigung mehr gefunden hat, denn: „Ohne DDR-Strukturen und ohne Suchtmittel, wer ist man dann noch?“
Zum Ende des Berichts ihrer Recherche merkt man der Autorin an, dass es ihr schwer fällt, loszulassen und sich mit den vielen verschiedenen Erklärungsversuchen zufrieden zu geben. Ob es nun die Wochenkrippe, die Erziehung ihrer Eltern, die Umbruchserfahrung, die fehlende Stabilität, die Disposition ihrer Psyche, Depressionen oder das Borderline-Syndrom waren, keine der Theorien ist die eine, die alles erklärt. Je länger Anja Reich sucht, desto mehr mögliche Ursachen findet sie für den Suizid ihrer Freundin. Am Ende des Buches versucht sie, einen Abschluss zu finden, vor allem für sich. An vielen Stellen der Recherche merkt man, dass sich Simone ihr immer mehr entzieht anstatt ihr näherzukommen und nur noch mehr Fragen auftauchen, die sie nicht mehr beantworten kann.
Reichs Buch ist kein Roman, auch wenn das beim Lesen zwischendurch in Vergessenheit gerät, denn es gelingt, eine Geschichte von Simone zu erzählen. Das Buch ist ein weiterer wichtiger Beitrag im Erinnerungsdiskurs um die DDR und die Transformationszeit, der zeigt, wie eng verflochten die gesellschaftlichen Ereignisse mit individuellen Lebenswegen sind. Mit ihrer Freundin Simone proträtiert sie nicht nur ihr Leben, sondern das einer ganzen Generation. Mit Simones Mutter Dana und ihrer tschechischen Herkunft wird außerdem eine migrantische Perspektive in der DDR sichtbar, die bisher im Erinnerungsdiskurs um die DDR vernachlässigt wird. Der Drang, sich anzupassen und nicht aufzufallen in dem neuen, vermeintlich besseren Land und das Verdrängen der eigenen Herkunft, Sprache und Kultur spielt in Simones Familie eine Rolle.
Anja Reich schafft es, ihren eigenen Erinnerungen nachzugehen und dabei die Komplexität der Abfolge von Ereignissen im Leben, aber auch der historischen Ereignisse zu beleuchten, ohne diese unnötig zu gewichten oder zu beurteilen. Auf seinen vielen verschiedenen Ebenen ist dies ein lesenswertes Buch, das einen nachdenklich zurücklässt.
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