Wahrheit und Wunder

Der von Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young herausgegebene Tagungsband „Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“ untersucht die Bedeutung des Sammelns in und von Texten

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem geschichtsträchtigen Monte Verità, Ascona, wo Henri Oedenkoven und Ida Hofmann im Jahr 1900 eine dem Streben nach Wahrheit verpflichtete Kommune gegründet hatten, fand im August 2019 das XXVI. Anglo-German Colloquium statt, auf das der hier besprochene Tagungsband zurückgeht.

Der − im wahrsten Sinne des Wortes – ‚Sammel‘band hat sich zum Ziel gesetzt, das ausgesprochen vielseitige Feld des literarischen Sammelns als Forschungsfeld für die Mediävistik zu erschließen. Dazu wird die Bedeutung des Sammelns in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Fallstudien exemplarisch erkundet. Schon der Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, dass Sammeln und Ordnen in diesem 530 Seiten starken Band Programm sind. Insgesamt 24 Beiträge verteilen sich auf sechs Themenblöcke: „Literarische Sammlungen in Handschriften und Frühdrucken“, „Texte in literarischen Sammlungen“, „Literarische Texte als ‚Sammlungen‘“, „Sammeln als literarisches Thema“, „Aufzählen als poetisches Prinzip“ sowie „Das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis“. Hinzu kommen das Vorwort, eine Einleitung der Herausgeber Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young, ein Fazit der Tagung von Kathrin Chlench-Priber und Sandra Linden sowie ein Autorenverzeichnis und ein Register, die den Band abschließen. Nicht unerwähnt bleiben soll zudem der Nachruf auf den britischen Germanisten Nigel F. Palmer, der seit Jahrzehnten regelmäßiger Teilnehmer am Anglo-German Colloquium war und der im Mai 2022, vor Fertigstellung des Bandes, im Alter von 75 Jahren verstorben ist.

Dass die Auseinandersetzung mit der Thematik des Sammelns nicht neu ist, daran erinnern Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Young Christopher gleich zu Beginn ihrer Einleitung. Seit den 1990er-Jahren werden Praktiken des Sammelns in den Kulturwissenschaften diskutiert. Grundlegend hierfür, so die Autoren, seien insbesondere Walter Benjamins Überlegungen zur Praxis des Sammelns in seinem Passagen-Werk: Zwar würden beim Sammeln die Gegenstände zunächst aus ihren ursprünglichen Funktionszusammenhängen herausgehoben, dekontextualisiert, jedoch „dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent und zwar geordnet“. Der vorliegende Band richtet den Blick auf das Sammeln als literarische Praxis und geht dabei von drei Grundannahmen aus: 1.) Literarisches Sammeln ist auf Worte und Texte bezogen, 2.) kulturelles und literarisches Sammeln beeinflussen sich gegenseitig (beispielsweise wenn Schatz- und Wunderkammern als Modelle für literarische Sammlungen dienen) und 3.) literarische Sammlungskonzepte orientieren sich an poetischer Wort- und Textgestaltung, Sammeln wird so zum Bezugspunkt für poetologische Reflexionen.

Sammeln wird im Band meist als produktives Aneinanderfügen von Worten und Texten verstanden, eine Sammlung wiederum als Ergebnis des Sammelns, die auf Konzepte des Speicherns, Bewahrens und ästhetisch-poetischen Gestaltens verweist, wobei diese Funktionsweisen in Verbindung mit dem individuellen und kulturellen Gedächtnis stehen.

Die Einleitung sowie das Fazit zur Tagung von Kathrin Chlench-Priber und Sandra Linden liefern bereits einen vollständigen Überblick über die enthaltenen Beiträge, daher sollen hier im Folgenden schlaglichtartig ein paar Beispiele vorgestellt werden.

Stefan Abel beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Erinnerung und Freude als Impulsen literarischen Sammelns in der matière de Bretagne und verweist auf den engen Zusammenhang zwischen Dichten und Sammeln. In den untersuchten Texten dient beides häufig zugleich der Archivierung von schönen Erlebnissen. Allerdings geht es, wie Abel herausarbeitet, noch um mehr und zwar um nichts weniger als „die wahre Geschichte“. Zum Verifizieren einer Geschichte bietet sich der Vergleich an. Dazu können unterschiedliche, konkurrierende Berichte über die gleiche Begebenheit gesammelt und in unterschiedliche Sammlungen integriert werden. Durch diese Praxis, so Abel, entsteht etwas, das über die Summe der gesammelten Erzählobjekte hinausgeht, nämlich eine sinntragende Struktur, in der jedes Erzählobjekt einen festen und sinnvollen Platz hat. Auf diese Weise ergebe sich eine sehr schön geordnete und damit nach mittelalterlichem Verständnis wahre Erzählung, die Abel direkt und überzeugend mit der mout bele conjointure Chrétiens de Troyes gleichsetzt.

In ihrem Beitrag Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach untersucht Elke Brüggen den Parzival als Dingsammlung. Sie konzentriert sich dabei auf die Bücher 1 und 2 und legt den Fokus auf die herausragenden Objekte der höfischen Kultur, die Gahmuret umgeben. Brüggen überträgt dabei Krysztof Pomians Konzept der gesammelten Dinge als Semiophoren, also als Zeichen- oder Bedeutungsträger, auf die Gegenstände im Parzival. Dabei erweitert sie die dingzentrierte Betrachtung, in Anlehnung an Pia Selmayr, auf das Dreieck Ding − Figur − Raum und analysiert, wie diese Dinge narrativ funktionalisiert werden. Mit dieser Technik gelingt es Brüggen, den Prozess der „Bedeutungsstiftung“ der Dinge zu rekonstruieren. Brüggen arbeitet die Bedeutung des Besitz(er)wechsels heraus. Insbesondere bei den Dingen, die sich Gahmuret aus dem Besitz des verstorbenen Isenharts aneignet (Prunkzelt, Diamanthelm, Rüstung, Trinkgefäße), wird deutlich, dass auch Dinge eine Herkunft und eine Geschichte haben. Dass es Vorbesitzer gibt, die mit dem Objekt verbunden sind.

Robert Schöller nimmt in seinem Beitrag Frau Minnes groteske Schau-Stücke Minneopfer am Beispiel des Heinrich von Meißen zugeschriebenen Sangspruchs (Pseudo-)Frauenlob GA-S V, 204 in den Blick. Schöller lässt Frau Minne selbst zur Sammlerin werden, die sich unter den berühmten Männern und Frauen besondere Einzelstücke aussucht, die dann zu umfassenden Sammlungen ausgebaut werden. Vor allem die Parzival-Rezeption hat zur Überlieferung dieser Minneopfer-Sammlungen beigetragen, wie sie sich auch in (Pseudo-)Frauenlobs Sangspruch finden. Dabei beschränkt sich die Wiedergabe dieser Sammlungen nicht auf die Literatur. Insbesondere in der Bildenden Kunst sind die Minneopfer ein beliebtes Sujet. Herausragendes Beispiel sind die in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datierenden Konstanzer Fresken aus dem Haus zur Kunkel. Dessen dritter Stock war mit zwölf (heute nicht mehr erhaltenen) Minneopfer-Medaillons geschmückt. Die Umschriften der Medaillons nannten Textzeilen des Sangspruchs. Frau Minnes groteske Sammlung wurde hier auch visuell ausgestellt und so „dem Gedächtnis der Menschheit überantwortet“.

Wie sehr sich literarisches und kulturelles Sammeln (beziehungsweise dessen visuelle Umsetzung in der Kunst) gegenseitig befruchten, zeigt Gerhard Wolf in seinem Die literarische Wunderkammer betitelten Beitrag. Wunderkammern, die Vorstufe der Museen, haben den Ruf, ohne jede Systematik zu sein. Wolf weist allerdings darauf hin, dass nicht einsehbar ist, ob tatsächlich keine Systematik vorliegt oder ob sie sich den heutigen Rezipienten einfach nicht erschließt. Er gibt zudem zu bedenken, dass die Wunderkammern des 16. Jahrhunderts auch eine Gegenbewegung zur streng deduktiv ausgerichteten Scholastik darstellen könnten, denn mit ihrer Hilfe lässt sich die Welt empirisch und induktiv erfassen. Damit wäre die Wunderkammer primär als Denkort zu verstehen, was auch − so Wolf − die Kriterien, nach denen Objekte gesammelt wurden, unterstreichen. Von den Exponaten wurde gefordert, dass sie singulären Charakter haben, Faszination auslösen sowie die Gelegenheit zur kommunikativen und epistemologischen Erschließung bieten. Da es allerdings von den frühen Besitzern keine Überlieferungen zu den den Wunderkammern zugrunde liegenden theoretischen Überlegungen gibt, unterstreicht Wolf, wie wichtig es ist, den kulturellen Kontext, in dem sie entstanden sind, miteinzubeziehen, wenn man das Phänomen Wunderkammer verstehen möchte.

Wie das aussehen kann, zeigt Wolf am Beispiel der Zimmerischen Chronik, die Graf Froben Christoph von Zimmern Mitte des 16. Jahrhunderts verfasst hat. In der Zimmerischen Chronik findet sich auch der älteste Beleg des Begriffs Wunderkammer. Damit wird dort ein nicht näher beschriebener Raum bezeichnet, in dem wunder, also Erstaunen Erregendes aus Natur und fremden Ländern, aufbewahrt wird. Der engste Berater des Autors besaß selbst eine Wunderkammer, und Wolf stellt die Überlegung an, dass die gedankliche Methodik der Wunderkammer überhaupt erst zur Entstehung der Chronik (als literarische Wunderkammer) geführt haben könnte: Sowohl in der Wunderkammer als auch in der Zimmerischen Chronik findet sich die Methode der additiven Aneinanderreihung einzelner (literarischer) Exponate, die präsentiert und in einen kommunikativen Zusammenhang mit anderen Objekten gestellt werden und so neue Erkenntnisse evozieren. In der physischen Wunderkammer war anzunehmenderweise die Positionierung der Exponate im Raum entscheidend. Nach Gabriele Beßler wurden die Wunderkammern so arrangiert, dass der Raum mit seinen Objekten ganzheitliches Weltmodell und Wahrnehmungsinstrument wurde. Das funktionierte, schließt Wolf, über Analogien, mit denen gerade im 16. Jahrhundert die Organisation des Wissens vorgenommen wurde.

Die im Band versammelten Fallstudien belegen eindrücklich, welch eine große Bedeutung dem Sammeln und der Sammlung in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zukommt. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit erschließt erstmals grundlegend und umfänglich die Praxis des Sammelns aus mediävistisch-literaturwissenschaftlicher Perspektive. Der Blick in die handschriftliche Überlieferung, wie ihn Jürgen Wolf in seinem Beitrag Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Werk – Handschrift – Sammlung – Bibliothek vornimmt, macht deutlich, dass moderne und mittelalterliche Kategorien nicht deckungsgleich sind und Begriffskategorien wie Autor, Werk und Gattung überdacht werden müssen. Literarisches Sammeln hat kreative und ästhetische Dimensionen. Richtig fruchtbar wird die Beschäftigung mit dieser Praxis allerdings erst, wenn der Blick geweitet wird und kulturelle Sammelpraktiken miteinbezogen werden. Auch das zeigt der Band eindrucksvoll.

Bereits im call for papers zur Tagung wurde auf zwei Aufsätze von Peter Strohschneider verwiesen, auf die auch in unterschiedlichen Beiträgen im Tagungsband rekurriert wird und in denen der Autor darlegt, dass Sammeln immer im Zusammenspiel von einer vergangenheitsorientierten Aura und einer zukunftsorientierten Latenz gesehen werden muss. Auch die gesammelten wunder, die in diesem Band versammelt und vorgestellt werden, besitzen diese Aura. Nur durch Interdisziplinarität, in Zusammenschau mit der Kulturgeschichte, gelingt es, ebenfalls die latent vorhandene Wahrheit in den ‚Wunderkammern‘ der Literatur sichtbar zu machen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Mark Chinca / Manfred Eikelmann / Michael Stolz / Christopher Young (Hg.): Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Konzepte, Praktiken, Poetizität. XXVI. Anglo-German Colloquium, Ascona 2019.
Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2022.
530 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783772087486

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