Leichtfüßige Tragik mit finaler Wohlfühlatmosphäre

In „Paradise Garden“ erzählt Elena Fischer exzellent von den Transitionen einer Fünfzehnjährigen

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Meine Mutter starb diesen Sommer.“ Der erste Satz des Romans, mit seinem letzten identisch, dürfte den Rang einer der meistzitierten Roman-Anfänge der letzten Monate innehaben. Wenn man mit Wolf Schneider, so in „Eine Deutsch-Stilkunde in 20 Lektionen(vgl. „Die Kunst des Anfangs“. Die Zeit 20, 2012), die Frage stellt, ob man nach diesem furiosen Auftakt daran interessiert sei, weiterzulesen, kann die Antwort nur in einem uneingeschränkten Ja bestehen – vor allem dann, wenn man die 350 folgenden Zeichen, in denen angeblich die Entscheidung pro oder contra Lektüre fällt, noch dazu nimmt. Trotz der Trauer, trotz des schicksalsträchtigen Paukenschlags verbreiten sich in ihnen eine stilistische Frische und eine Lebendigkeit, die alles Negative überlagern und das Paradoxon romantischer Melancholie aufrufen: Trauriges und Frohes existieren nicht neben- oder hintereinander, sondern offenbaren sich gleichzeitig.

Billie, die eigentlich Erzsébet heißt, möchte mit ihrer Mutter in den Sommerferien ans Meer fahren. Die beiden erzielen eine überschaubare Geldsumme in einem Radio-Gewinnspiel und entscheiden sich dafür, an die Nordsee zu reisen. Als der alte Nissan bereits mit Gepäck beladen ist, grätscht die Großmutter dazwischen. Sie ist aus Ungarn gekommen und lässt sich in der beengten Hochhauswohnung, in Billies Zimmer, nieder. Krank sei sie, so die Oma, und hoffe, dass ihr Leiden in Deutschland kuriert werden könne. Mit ihrem Ärzt*innentourismus okkupiert sie fortan das Leben von Mutter und Tochter. Ihre Kochkünste bedeuten zwar eine Abkehr von den gewohnten Tütengerichten, aber all das macht die Streitereien nicht wett, die zunehmend eskalieren – bis hin zu dem Tag, an dem Billies Mutter einen tragischen Unfall erleidet.

Nach dem Tod ihrer Mutter macht sich Billie, die seit ihrem 12. Lebensjahr auf Supermarktplätzen das Autofahren gelernt hat, auf die Suche nach ihrem Vater. Am Vorabend ihres 15. Geburtstags begibt sie sich im klapprigen Nissan allein auf einen Roadtrip, der sie bis an die Nordseeküste führt und von dort aus auf eine der ostfriesischen Inseln, unschwer als Spiekeroog zu erkennen. Dort sucht sie das Haus, in dem ihre Mutter gewohnt hat, unmittelbar nachdem sie aus Ungarn emigriert war. Der Roman endet offen. Billie wird vermutlich auf der Insel bleiben. Zum Abschluss der Lektüre eines Romans, in dem facettenreiche mikro- und mesosystemische Probleme verhandelt werden, ist das ein tröstlicher Gedanke.

In der Großstadt lebt Billie in prekären Verhältnissen. Obwohl ihre Mutter zwei Jobs hat, als Reinigungskraft am Tag und als Bedienung in einem Club bei Nacht, reicht das Geld kaum bis zum Monatsende. Ähnlich ergeht es den anderen, die in einem der fünf im Kreis angeordneten Wohnblöcke leben. Da ist Uta, deren Verletzungen von häuslicher Gewalt zeugen; Luna, die ihre Affektwelt nur mit Medikamenten in Schach halten kann, und die, wenn es nicht funktioniert, nachts wunderschöne Torten backt; oder Ahmed, ein Palästinenser, der eigentlich nach Deutschland gekommen ist, um Chemie zu studieren. Nur der Marginalstatus eint sie alle.

Diesem Mikrokosmos ist ein zweiter gegenübergestellt – die Welt der Wohlhabenden, zu der Billies Freundin Lea gehört. Ihre Bilderbuchfamilie formiert für Billie so lange ein positives Abziehbild von ihrem eigenen Leben, bis sie zufälligerweise hört, wie von ihrem Zuhause gesprochen wird. Es habe gestunken, so Lea zu ihrer Mutter. Die gnadenlose Destruktion einer Freundschaft geht einher mit der Erkenntnis, „dass die Sache mit Lea […] wie ein Haus mit Treppen, die nirgendwohin führten“ war, „mit Türen, hinter denen ein Abgrund lauerte“. Nicht zuletzt stehen hier Fragen des „klassenübergreifenden“ Miteinanders zur Debatte, die Frage etwa, unter welchen Umständen Menschen empathisch und mentalisierungsfähig sind, wann und wie sie authentisch und kongruent kommunizieren und wann weitgehend reflexionsbefreites Mitleid im Spiel ist. Egal wie – letzteres lehnt Billie ab, sich an die apodiktischen Worte ihrer Mutter erinnernd, nach denen Mitleid ein sehr „bequemes Bett“ sei, „aus dem man nie wieder“ aufstehe.

Selbst- und Fremdwahrnehmung, so insinuiert der Roman, gehen diametral auseinander: Billie nimmt ihre Misere wahr, ist aber in der Lage – so wie es dem existenziellen Habitus ihrer Mutter entspricht – optimistisch zu bleiben und sich trotz aller Widrigkeiten am Alltag zu erfreuen, diesen beispielsweise so mit „Spartricks“ anzureichern, dass er kleine Höhepunkte parat halten kann. Ein besonderes Highlight ist dabei „Paradise Garden“ – der titelgebende Eisbecher, den sie sich gelegentlich gönnt.

Der Tod ihrer Mutter dividiere ihr Leben in ein „Davor“ und ein „Danach“, konstatiert Billie. Während das „Davor“ an Irgendwo ist immer Süden von Marianne Kaurin (2018) oder Papierklavier von Elisabeth Steinkellner (2020) erinnert, assoziiert man möglicherweise mit dem „Danach“ als ersten Intertext Wolfgang Herrndorfs Tschick (2010), dessen Geschichte Elena Fischer allerdings, so die Autorin im Interview mit Debora Schnitzler, nicht kenne. Als Fischers Protagonistin sich auf die Suche nach ihren Wurzeln begibt, liest sie Jack Kerouacs Unterwegs (1957), quasi den „Hypertext“ aller Roadnovels und Roadmovies, der Roman der Beat-Generation schlechthin. Ganz fertig wird sie damit nie, weder mit der Lektüre noch mit der Suche.

Vor dem Aufbruch im Nissan zeigt sich mit Virulenz das Thema einer Transition, die sich auch körperlich manifestiert: Einen Tag nach dem Tod der Mutter fallen Billie die Haare aus, „als hätten sie beschlossen, weiterzuziehen“. „Büschel für Büschel“ verabschieden sie sich, um erst auf der Insel wieder nachzuwachsen. Diese vegetativen Prozesse symbolisieren die Unabgeschlossenheit, das Grenzenlose in einem Dazwischen, das sich in verschiedene Richtungen ausbreiten kann und nur die Sicherheit eines notwendigen Wechsels bietet. Was Billie in diesem offenen Raum der Optionen ablehnt, steht außer Frage: das Angebot, bei Leas Familie zu wohnen, selbst wenn „Urlaube wie im Paradies“ locken. Genauso wenig ist es attraktiv, bei der Großmutter zu bleiben und mit ihr nach Ungarn zu ziehen. Für die Protagonistin wird die höchst sensible Phase des Abschieds vom Vergangenen im Auskosten aller Momente der Reise bestehen: „Ich wusste nicht, ob das hier das Ende oder ein Anfang war. Vielleicht war es beides gleichzeitig.“ Sehr klarsichtig notiert Billie ihr Bewusstsein vom Übergang und von seiner Janusköpfigkeit, die nicht zuletzt in einem geschärften Sensorium residiert, in einer Intensität des Wahrnehmens, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Natur und ihre Geräusche entdecken lässt.

In dieser Dimension des transformierenden Dazwischen agiert eine schillernde homodiegetische Protagonistin, eine Ich-Erzählerin mit Ecken und Kanten und mit bilingualer Kompetenz. Sie scheut sich nicht davor, klare Positionen zu beziehen: Allein möchte sie unterwegs sein, weder Ahmed noch Luna mitnehmen. Während ihrer Reise muss sie sich vielerlei Abenteuer stellen, bei denen sie zwar keine Pferde stiehlt, dafür aber einen Schlafsack, damit sie nachts nicht mehr friert. Bezeichnenderweise fühlt sie sich in ihm wie „eine Raupe im Kokon“.

Die Ambivalenz der Transitionen spiegelt sich in einem beschwingten Stil, in dem das Tragische auf leisen Sohlen daherkommt. Obwohl das auch einmal bizarr wirken kann, ergibt sich in diesem Zwischenraum ein unverbrauchter, origineller und individueller Ton, bestens dafür geeignet, Coming-of-Age-Themen zu bearbeiten. Oftmals konkurriert die Gestalt mit dem Gehalt, entreißt ihm die Tragik und verleiht ihm mit der Rhythmik einer nicht selten von Anaphern gestützten Parataxe, mit vielen Vergleichen, Sentenzen und Metaphern die Leichtigkeit einer im besten Sinne naiven Lakonie. „Ich war eine Pflanze ohne Erde. Ich war eine Schnecke ohne Haus. Ich war ein Käfer, der auf dem Rücken gelandet war.“ Symbole und eine nachgerade magische Objektwelt (ein Sofa vom Sperrmüll, Lieblingsplatz in der Wohnung, die Cowboystiefel der Mutter, der Eisbecher) sowie eine anthropomorphisierte Natur, die Billies Entwicklung begleitet, tun ein Übriges, um die Kraft und Brillanz der Sprache hervortreten zu lassen. Das Nebeneinander von Tragik und Komik verdichtet sich ganz besonders in der Beschreibung der Großmutter: Sie weine sehr häufig, so, als ob sie „einen geheimen Wassertank in ihrem Körper“ habe, aus dem „sich die Tränenbäche“ speisten. Wenn sie dann noch zu erzählen beginnt, erscheint es, „als hätte sie einen Wörtervorrat angespart, den sie jetzt endlich loswerden wollte, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten war“.

Mit diesem einfachen, dennoch wohlüberlegten und ziselierten Stil, den Inhalt vorzüglich und engmaschig eskortierend, ihn manchmal locker umspielend, ihn mildernd oder ihm Schärfe verleihend, erhebt sich die Stimme einer Protagonistin, die das Schreiben als Ressource nutzt: Schreibt sie im „Davor“ nicht selten gegen schlechte Laune an, notiert sie im „Danach“ ihre Erlebnisse und Empfindungen während des Roadtrips. Nicht nur diese Fiktion nähert erzählendes und erlebendes Ich einander an: „Meine Großmutter hat eine Geschichte, meine Mutter hatte eine und ich auch. Ich war mittendrin.“

Lange spekulieren ließe sich darüber, warum Paradise Garden „nur“ die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 erreicht hat. Der exzellenten narrativen Kompetenz, einer erzählenden Stimme voller Elan und Tiefgründigkeit, tut dies keinen Abtrag. Mit ihr könnte Billie auch eine zur Ich-Erzählerin avancierte ältere Version von Madita aus Astrid Lindgrens gleichnamigem Kinderbuch sein.

Elena Fischer hat einen wunderbaren All-Ages-Roman vorgelegt, dem man einerseits wünscht, im Deutschunterricht gelesen zu werden, andererseits aber nicht, weil es besser wäre, wenn alle Leser*innen sich diesem Lesevergnügen aus freier Entscheidung heraus widmen würden.

Titelbild

Elena Fischer: Paradise Garden. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2023.
352 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783257072501

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