Nur bedingt überzeugend

Carlo Masalas militärpolitische Aussagen in „Bedingt abwehrbereit“ liefern über einige erhellende Einblicke in die Strukturprobleme der Bundeswehr hinaus kaum etwas Neues

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Politikwissenschaftler, der eine Professur an der Universität der Bundeswehr in München mit dem Schwerpunkt Internationale Politik innehat, muss Carlo Masala zu denjenigen Kommentatoren der Lage in unserem Land gezählt werden, die sowohl über eine profunde Kenntnis unserer Streitkräfte als auch sensibler zwischenstaatlicher Beziehungsgeflechte verfügen. Er promovierte 1996 über deutsch-italienische Beziehungen und habilitierte 2002 zum Thema der Südbedrohung der europäischen Sicherheit. Der Autor, 1968 in Köln als Sohn einer Österreicherin und eines Italieners geboren und teilweise auf Sardinien aufgewachsen, lebt heute in Leipzig.

Wer aufgrund des an die Spiegel-Affäre 1962 angelehnten Titels seines neuesten Werks angenommen hatte, es handele sich bei Bedingt abwehrbereit um ein Buch, welches sich vorrangig mit der Bundeswehr und ihren Problemen beschäftige, mag vielleicht ein wenig enttäuscht sein, denn fast nur der erste knapp siebzig Seiten starke Teil des Buches fokussiert dieses Thema. In der Folge geht es vor allem um eine Bilanzierung der deutschen Russland- und Ukrainepolitik der letzten Jahrzehnte, ihrer (Fehl-)Annahmen und folgenreichen (Fehl-)Entscheidungen sowie um die Entwicklung der deutschen Befindlichkeiten innerhalb ihrer weltweiten diplomatischen und wirtschaftlichen Strukturen. Erst ganz am Schluss, im kurzen Kapitel Woke und wehrhaft, verrät uns der Autor noch einmal komprimiert, welche Maßnahmen seiner Meinung nach für ein Funktionieren unserer Streitkräfte notwendig wären.

Vor allem hier und im ersten Kapitel hat das Buch seine unbestreitbaren Stärken. In überraschender Deutlichkeit thematisiert der Autor die institutionalisierten Schwierigkeiten der Bundeswehr, vor allem das Wegducken der operativ wie politisch Verantwortlichen bei Planung, Beschaffung, Ausrüstung und Kommunikation. Masalas Lesepublikum erfährt hier durchaus tiefe Einblicke in die strukturelle Überbürokratisierung der Wehrbehörde, ihr Wünsch-Dir-was-Denken auf der einen Seite und Weigerung auf allen Ebenen andererseits, für Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen. So spricht er süffisant von den Forderungen nach „Goldrandlösungen“ für die Truppe, wo sich andere Armeen aus guten Gründen mit bereits Vorhandenem begnügen: Ein bewährter Hubschrauber etwa verteuert sich auf das Doppelte und seine Lieferzeit erhöht sich um Jahre, wenn zusätzlich zum fein abgestimmten Lieferumfang plötzlich auch noch die Option zur Luftbetankung berücksichtigt werden soll. Andererseits werden kleinste Missstände solange „nach oben“ gemeldet, bis sich eine Verteidigungsministerin genötigt sieht, höchstselbst Entscheidungen zu treffen, für die eigentlich Ebenen weit unterhalb zuständig gewesen wären, mit allen entsprechenden Konsequenzen des Mikromanagements in einem 200.000-Personen-Unternehmen: „Wenn ein Rekrut im Bayerischen Wald Bockmist baut, werden Sie als Minister persönlich dafür verantwortlich gemacht.“ In einem dauerhaften Abstellen dieser Missstände sieht Masala eines der wichtigsten durch die Bundeswehr zu verfolgenden Ziele.

Einen Staatsbediensteten wie Masala kritisch zu seinem Arbeitgeber in die Zange zu nehmen, stellt unwillkürlich die Frage nach dem Grad der Unbefangenheit in den Raum. Sebastian Ullrich und Matthias Hansl, den beiden Gesprächspartnern Masalas aus dem Hause Beck, mangelt es zwar erfreulicherweise auch im politischen Teil des Gespräches grundsätzlich nicht an Fragestellungen, die allzu einseitigen Schuldzuweisungen an die Adresse Russlands bezüglich der langjährigen Entwicklungen um die Ukraine zumindest teilweise herausfordern; sie haken jedoch oft zu wenig hartnäckig nach und lassen Masala mit Gemeinplätzen davonkommen, etwa wenn er erklärt, das Minsker Friedensabkommen sei „eine Totgeburt“ gewesen, und nur durch starke ukrainische Streitkräfte hätte vor dem 24.02.2022 eine Wahrscheinlichkeit bestanden, „dass sich die Russische Föderation auf Minsk II ernsthaft einlassen wird.“ Dass jedoch auch die Ukraine kein echtes Interesse an der Umsetzung von Minsk II hatte, wird höflich verschwiegen. Kein Wort zu den Ende 2022 bekannt gewordenen Erinnerungen Merkels und Hollandes, dass es gerade der Westen war, der das Abkommen in erster Linie als Zeitgewinn zur Aufrüstung Kiews durch die NATO betrachtete. Kein Wort zu Deutschlands diplomatischer Mitschuld an mehr als 12.000 meist zivilen Opfern durch eine Regierung in Kiew, die acht lange Jahre im Südosten des Landes de jure ihre eigene Bevölkerung unter Feuer nahm. Zur Erinnerung: Syriens Assad solches (zu vollem Recht!) vorzuwerfen, hatten die gleichen Verantwortlichen keine Probleme.

Masalas vorwiegend sachlicher Stil trägt immerhin dazu bei, die großen Emotionen auf beiden Seiten der Kriegsdebatte einzuhegen – in diesem Buch begegnet er seiner Lesegemeinde nicht als der twitternde Heißsporn, den er eingedenk des schnellen Musk-Mediums X durchaus ebenfalls bei Bedarf hervorkehren kann. Er gibt hier ganz im Gegenteil und dem Sujet weit angemessener meist den elder statesman. Leider hat der Stil keinen nennenswerten Einfluss auf den Inhalt: Außer mit der erwartbar „westlichen“ Sichtweise auf Sachverhalte, die interessierten Rezipienten des Verhältnisses zwischen den USA, der NATO, der EU, der Ukraine und Russland ohnehin bekannt sein dürften, wartet der politisch kommentierende Teil des Buches kaum mit irgendwelchen Neuigkeiten auf. Er ist vielmehr eine Zusammenfassung hierzulande oft gehörter und gelesener Argumente, die man teilen kann oder nicht: Russlands Sicherheitsbedürfnisse gegenüber der NATO seien angesichts seines imperialen Verhaltens nur vorgeschoben; der Bau von Nordstream 2 ab dem Jahr 2015 sei „das falsche Signal“ gewesen; besonders rührige Lobbyistinnen wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder Top-Atlantiker wie Alexander Graf Lambsdorff werden als „prononciert[e] Verteidigungspolitikerin“ bzw. „prononcierte[r] Außenpolitiker“ bezeichnet. Und natürlich darf auch der Klassiker nicht fehlen: „Die Lieferung von Panzern hätte viel früher entschieden werden müssen.“ Völlig fragwürdig wird es allerdings spätestens dann, wenn Masala allen Ernstes Folgerungen wie diese aufstellt:

Als im Juni 2022 die ersten Panzerhaubitzen und Mehrfachraketenwerfer in die Ukraine kamen, hat Moskau zwar protestiert, aber nichts getan. Aus einer rein taktischen Sicht wäre dies der Zeitpunkt gewesen, an dem die Russische Föderation eine Nuklearwaffe hätte einsetzen können, um die Diskussion über schwere Waffen in unseren Gesellschaften mit aller Gewalt abzubrechen.

Dass Russland nicht so gehandelt hat, wird als Schwäche ausgelegt; die Möglichkeit, dass man es vielleicht auch mit einem Rest von verantwortungsvollem Handeln seitens des Gegners zu tun hatte, wird keinen Augenblick in Betracht gezogen. Das finale Kriegsgeschrei nicht nur der vorgenannten „prononcierten“ Politiker möchte man sich in einem solchen Fall erst gar nicht vorstellen. Eine solche Reaktion Russlands hätte nun wirklich jegliche Deeskalation auf Jahre hinaus unmöglich gemacht.

Von solcherlei gedanklichen Entgleisungen einmal abgesehen vermittelt das über weite Strecken dann doch recht vorhersehbare Frage-Antwort-Spiel letztlich den Eindruck, dass es sich bei Bedingt abwehrbereit eher um einen Monolog mit Stichwortgebern handelt als um einen ernst gemeinten Gesprächsband. Das gilt auch für das Kapitel, in welchem es vor allem um den Aufstieg Chinas geht und die mit den USA konkurrierende künftige Vormachtstellung des ostasiatischen Landes. Hier kommen wenigstens wieder einige eigenständige Positionen des Autors durch: Generell sieht Masala etwa weniger Bruchlinien zwischen Demokratien und Autokratien (zumal sich hier auch nicht unbedingt immer sauber trennen lässt), sondern zwischen Bewahrern des Status Quo „und revisionistischen Mächten, die diese Ordnung grundlegend verändern wollen.“ Den Fehler vieler westlicher politisch Verantwortlicher, „allein auf die Dichotomie zwischen Demokratie und Autokratie“ abzuheben sei eine „viel zu kurzsichtige Problemanalyse, die sich leider auch durch viele Reden der Bundesaußenministerin Baerbock“ ziehe.

Wie schnell ein solches politisches Buch zudem veraltet, zeigt sich nicht zuletzt auch an Einschätzungen Masalas, die ein gutes Dreivierteljahr nach seinem Erscheinen so nicht mehr stehen bleiben können: Seine Aussagen zur nachhaltigen wirtschaftlichen Schwächung der Russischen Föderation durch die westlichen Sanktionen und der angeblichen weitgehenden weltweiten Isolation des Landes etwa müssen inzwischen mindestens als fraglich gelten. Ihre seinerzeitige Richtigkeit darf, bei aller berechtigter scharfer Kritik an Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, allerdings ebenfalls zumindest bezweifelt werden – es fehlt seit langem nicht an mahnenden Stimmen, die darauf hinweisen, wie sehr sich im Gegenteil der Wertewesten, namentlich Deutschland, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch bezüglich seiner politischen Glaubwürdigkeit in eine Sackgasse manövriert hat. Selbst Masala räumt dies ein:

Zu dieser nicht unberechtigten Wahrnehmung haben die USA und auch einige europäische Mächte durch ihr Verhalten vielerorts selbst beigetragen. Weil sie auch im Zeitalter der Dekolonisierung zu oft immer noch wie Kolonialmächte aufgetreten sind. […] Und weil sie durch ihre Politik den Verdacht geschürt haben, dass die von ihnen propagierte Weltordnung vor allem ihren eigenen Interessen dient.

Ein Ende der Eskalationsschraube ist vorerst immer noch nicht in Sicht. Inzwischen geht es ja auch schon in den innerdeutschen Debatten mehr um „Kriegstüchtigkeit“ als um Abwehrbereitschaft, sprich: Verteidigungsfähigkeit. Das lässt für die Zukunft nichts Gutes ahnen.

Titelbild

Carlo Masala: Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
207 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783406800399

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