Unfähigkeit zur Erinnerung
Peter Seibert beschreibt in „Demontage der Erinnerung“ das jüdische Kulturerbe in Deutschland nach 1945
Von Friedrich Voit
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Literatur- und Medienwissenschaftler Peter Seibert legt hier eine richtungweisende Arbeit vor, in dem er kritisch und engagiert den inadäquaten Umgang mit einem jüdischen Kulturerbe nach 1945 darlegt. Er möchte dabei sein Buch „weniger als akademisch-wissenschaftliche Arbeit, sondern […] eher als politische Arbeit“ verstanden wissen, die „eine Ursache des Weiterlebens antijüdischer Haltungen“ in den Blick bringt.
Die genozidale Absicht des nationalsozialistischen Regimes, das jahrtausendalte jüdische Leben und Wirken als konstitutives Element deutscher wie europäischer Kulturgeschichte zu leugnen und aus der Erinnerung zu eliminieren, beschreibt Seibert anhand der Enteignung und Vernichtung des ‚materiellen‘ jüdischen Kulturerbes, d. h. insbesondere der sakralen Bauten wie Synagogen, Mikwen und Bethäuser, die mit der Machtübernahme einsetzte und in der Zerstörung und Verwüstung im Novemberpogrom 1938 kulminierte. Diese Zerstörung ging Hand in Hand mit der Ausgrenzung, Vertreibung, Deportation und Ermordung von Juden und dem Auslöschen jüdischer Stadt- und Landgemeinden im Holocaust, die von der allgemeinen Bevölkerung in Deutschland mehrheitlich hingenommen und mitgetragen wurden.
Während des Novemberpogroms 1938 wurden über 1400 Synagogen in Deutschland vollständig zerstört und verschwanden als jüdische Bauwerke aus Städten und Orten. Was als Ruine, beschädigt und ausgeraubt erhalten blieb, wechselte meist unter Wert den Besitzer, wurde Privat- oder Gemeineigentum. Soweit nicht abgerissen und umgebaut, fanden ehemalige Sakralbauten nun u. a. säkulare Verwendung als Lagerräume, Scheunen, Garagen bis hin zu Unterhaltungsstätten als Weinstube oder gar Tanzlokal. Nur ausnahmsweise hatten Überlebende, Rückkehrer oder emigrierte Nachfahren noch eine Mitsprache hinsichtlich der weiteren Nutzung der einstigen Gemeindebauten, Nicht-Juden nahmen sie als solche kaum mehr wahr.
Seibert erkennt die Gründe für solche Unfähigkeit zur Erinnerung in geschichtsvergessener Gedankenlosigkeit, halbbewusstem Schuldgefühl der Beteiligung und tolerierender Zeitgenossenschaft, anhaltender Missachtung gerechtfertigt mit Eigen- und Lokalinteressen – Gründe, die sich bis in die Gegenwart perpetuieren. Während man schon bald der im Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten gedachte, blieb das ausgegrenzte und vernichtete deutsch-jüdische Kulturerbe weitgehend unbeachtet. Eine bemerkenswerte Ausnahme bleibt die Initiative Kölner Bürger, als 1959 die Germania Judaica, die Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentums, gegründet wurde. Ein Wandel in der erinnernden Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dessen Folgen setzte mit der heranwachsenden Nachkriegsgeneration und in der Folge der NS-Prozesse, allen voran der Frankfurter Auschwitzprozesse der 60er Jahre, ein. Vermehrt wurden nun Erinnerungen und lokale Geschichten zum verschwundenen jüdischen Leben geschrieben. Umgenutzte erhaltene ehemalige Sakralbauten wurden durch Gedenktafeln erkennbar, einzelne zerstörte wurden rekonstruiert oder es wurde – wie etwa in Mannheim – ein Neubau am ehemaligen Standort errichtet. Seit 1992 erinnert Gunter Demnig mit seinen Stolpersteinen an einstige jüdische Nachbarn, die vertrieben, deportiert oder ermordet wurden. Kleinere und größere jüdische Museen – so in Frankfurt seit 1988 und in Berlin seit 2001 – bekunden wieder das historische und neu entstehende jüdische Kulturerbe, das jetzt auch in systematischer Weise im Internet erschlossen und dokumentiert wird wie auf den Webseiten von https://www.jüdische-gemeinden.de, für den Süddeutschen Raum: https://www.alemannia-judaica.de) oder für Bayern: https://www.ku.de/en/news/digitally-mapping-the-history-of-jewish-settlements-in-bavaria. Es fehlt nicht so sehr am Wunsch und Interesse, das jüdische Kulturerbe zu erinnern, als an einer allgemeinen und selbstverständlichen wie geschichtsbewussten Integration dieses Erbes als konstitutives Element deutscher kultureller Identität.
Während Jochen Gerz 1993 auf dem Platz des Unsichtbaren Mahnmals 1993 in Saarbrücken der über 2000 vor 1933 in Deutschland bestehenden jüdischen Friedhöfe auf eine die Wahrnehmung und Erinnerungsbereitschaft provozierende Weise gedachte, indem er die Ortsnamen für Betrachter unsichtbar auf die Unterseite der Pflastersteine einmeißelte, benennt und beschreibt Seibert eine Vielzahl von Beispielen für geschichtsvergessenen Umgang mit jüdischen Sakralbauten bis hin zu Diskussionen um Wiederaufbau, Rekonstruktion und zunehmend wirksamen Formen der Erinnerung. Er stützt sich dabei auf eigene Recherchen und zahlreiche inzwischen vorliegende Veröffentlichungen. Besondere Anregungen gaben ihm die Arbeiten zu den Synagogen in Hessen von Thea Altaras, der auch sein Buch gewidmet ist. Die Fülle der Beispiele bleibt begrenzt, indem Seibert seinen Blick besonders auf die ihm wohlvertrauten Regionen Saar/Pfalz, Rheinhessen, und das Rheinland fokussiert.
Die Beschränkung auf jüdische Sakralbauten lässt bei der engagierten Diskussion den viel weiteren Umfang der jahrhundertelangen Geschichte des deutsch-jüdischen Kulturerbes, man denke nur an die Philosophie-, Religions-, Literatur-, Kunst- oder Musikgeschichte, zunächst etwas in den Hintergrund treten. In seiner Liste prägender Repräsentanten der ‚deutschen Kulturnation‘ nannte Theodor Heuss in den 50er Jahren – wohl unbedacht – nicht einen einzigen Denker, Komponisten, Maler oder Dichter jüdischer Herkunft, obgleich sie unter den führenden Vertretern der Kulturgeschichte seit der Aufklärung nicht wegzudenken sind. Freilich, der immer noch vorkommende Antisemitismus, jetzt bisweilen kaschiert als undifferenzierte Israelkritik, lässt ahnen, wie weit das generelle Geschichtsgedächtnis davon noch entfernt ist. Diese Geschichtsvergessenheit wird auch in der gegenwärtigen Migrations- und der zynischen ‚Remigrations‘-Debatte erkennbar, in der der kaum vorstellbare Kulturverlust vergessen bleibt, den der Mord und die Vertreibung der einstigen jüdischen Mitbürger zur Folge hatte. Viele der tausenden Emigranten, die aus Deutschland und Europa flohen, nahmen ihr europäisches Kulturerbe mit sich, brachten es in die Aufnahmeländer ein und machten es dort fruchtbar: Man denke an Palästina/Israel, an nord- und südamerikanische Länder, Australien oder an das mir vertraute abgelegene Neuseeland, wo Freya Klier in ihrem Buch Gelobtes Neuseeland. Fluchten bis ans Ende der Welt (2006)und der Kunsthistoriker Leonard Bell in Strangers Arrive: Emigrés and the Arts in New Zealand, 1930-1980 (2017) dieses Weiterwirken eingehend beschrieben haben.
In diesem größeren Zusammenhang gesehen leistet Seiberts Buch einen ebenso wichtigen wie anregenden Beitrag zu einem lebendigen und zukunftsgerichteten Geschichtsbewusstsein.
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