Von Chur nach Istanbul
Mit ihrem Roman „Unschärfen der Liebe“ setzt Angelika Overath die Liebesgeschichte zwischen Baran, Cla und Alva fort
Von Michael Fassel
Um es vorwegzunehmen: Um Angelika Overaths Unschärfen der Liebe zu verstehen, ist es nicht zwingend vonnöten, obgleich empfehlenswert, den Roman Ein Winter in Istanbul zu lesen. Letzterer erschien 2018 und fokussiert den Schweizer Lehrer Cla, der in Istanbul Baran kennenlernt und sich in ihn verliebt. In Overaths neuem Roman steht Baran im Zentrum der Aufmerksamkeit, den die Erzählinstanz auf einer Zugfahrt von Chur nach Istanbul begleitet. Es handelt sich keineswegs nur um eine geographische Reise durch verschiedene Länder, sondern auch um eine Erkenntnis- und Entwicklungsreise der Hauptfigur.
In Chur verabschiedet sich Baran von Alva, der Ex-Freundin seines Partners Cla, mit der er ein Liebesverhältnis hatte. Mulmig ist ihm schon beim Einsteigen in den Zug zumute. Hätte eine Zukunft mit Alva doch eine Chance? Und wie würde sein Leben mit Cla, der in Istanbul lebt und arbeitet, aussehen? Ist Cla ihm überhaupt treu? Fragen, die ihn auf seiner mehrtägigen Zugfahrt von Chur durch Südosteuropa bis Istanbul begleiten.
Mit einem Gepäck voller Fragen und vieler Erinnerungen lässt Baran die Landschaften an sich vorüberziehen, im Zug kommt er zur Ruhe, denkt an vergangene Situationen mit Cla und Alva, die in episodischen Miniaturen geschildert werden. Gegliedert ist der Roman in zwölf Kapitel, die jeweils den Teilstrecken vor den jeweiligen Umstiegen – Chur bis Sargans, Sargans bis Ladeck etc. – entsprechen. Jedem Ort wird eine Bedeutung beigemessen. Zuggespräche etwa über die im Kroatienkrieg 1991 zerstörte Barockstadt Vukovar reihen sich ein in episodische Erinnerungen an Gespräche, die Baran mit Cla über den jungen Feldherrn Konstantin, über Voltaire oder über das Byzantinische Reich geführt hat. So schillernd Barans Gedanken auch sind, so verblasst der Protagonist zuweilen hinter dem Detailreichtum und seinen Handlungsbeschreibungen, die ein Stück weit zu ambitioniert wirken.
Overath überzeugt dennoch mit einer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe, die sich in der schnörkellosen Sprache niederschlägt. Feine kurze Beschreibungen der Landschaften, der Baran ansichtig wird:
Er schob das Rouleau hinauf. Morgendliches Zwielicht, doch die Szene war südlich. Er hätte es nicht benennen können, aber das Grün war anders, die Töne der Erden. Unvermittelt atmete er auf. Im Südlichen kannte er sich besser aus als in den Bergen, die mit ihren Perücken aus Schneelocken Gericht hielten.
Durch den Wechsel von Barans erlebter Zugreise, den Zustieg anderer Fahrgäste, die Erinnerungen an seine Beziehung mit Alva und die sinnlichen Momente mit Cla erhält der Roman eine besondere Dynamik. Nach und nach kommen weitere Charaktereigenschaften Barans zum Vorschein. Wie positioniert er sich zu Alva, Cla und Florinda? Ob er auf mögliche Antworten während seiner Reise hofft? Antworten, die womöglich nur in der geographisch-räumlichen Distanz von Cla und Alva gegeben werden können. Das Liebesdreieck ist kein übliches, auf Dramatik und Skandal abzielendes, sondern eine Konstellation, mit der die drei Beteiligten auf je ihre eigene Weise umgehen.
Angelika Overath gelingt ein Roman, der mehr als nur eine außergewöhnlich komplizierte Zugreise mit mehreren Umstiegen schildert. Mindestens genauso außergewöhnlich ist die sanfte Liebesbeziehung zwischen Baran und Cla, die in kurzen Rückblenden geschildert wird, aber auch Barans immer wieder emporkommende Zuneigung zu Clas Ex-Freundin Alva. Nicht weniger interessant sind die anschaulich eingeflochtenen Zugbegegnungen mit anderen flüchtigen Gästen, die Baran beobachtet oder sogar mit ihm ins Gespräch kommen. Er führt Unterhaltungen, erkenntnisreiche, aber auch unangenehme. Baran lässt interessante, kurzweilige Begegnungen zu, im ‚Mikrokosmos Zug‘, den Overath literarisch gekonnt in Szene setzt, bleibt ihm kaum etwas anderes übrig. Als Kosmopolit, so scheint es in seinem Charakter angelegt, mag er die ständige Bewegung, hat offensichtlich Angst vor dem Ankommen. Das Unterwegssein, das Fahren mit dem Zug scheint der Lebenszweck des Protagonisten zu sein, wie aus einer Rückblende eindrucksvoll hervorgeht:
Schaue, hatte Cla gesagt, diese Kultur des Eisenbahnreisens gibt es nicht mehr, mein Engel. Nur du – und er hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt, und er spürte noch, wie diese Geste ihm durch die Glieder lief –, nur du meinst diese alte Herrlichkeit noch einmal retten zu können, indem du dir die kompliziertesten Eisenbahnfahrten zumutest. Und merkst du, wie ich dich liebe, daß ich dich dabei doch immer wieder begleite.
Ein Plädoyer für die Entschleunigung des Lebens? Wer diesen Roman auf diese Weise liest, wird auf seine Kosten kommen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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