Wägen und wagen
Ein von Michael Schwarzbach-Dobson und Franziska Wenzel herausgegebener Band fasst verschiedene Beiträge zu Begriff und Bedeutung von „Aventiure“ zusammen
Von Jörg Füllgrabe
Ob das Abenteuer um die nächste Ecke liegt, ist sicherlich eine Frage der persönlichen Einstellung – und auch des Lebensalters. Wo alltägliche Routine alles beherrscht, verschwindet der Geist des Abenteuers weitgehend, und zumindest in den Zeiten, bevor es digitale Eingeborene gab, waren kleine Menschen vor allen Dingen darauf angewiesen, eigene Erfahrungen (in) der Welt zu sammeln und eigene Abenteuer zu erleben. Sie konnten nicht bereits in frühen Jahren auf ein Übermaß vorverdauter Informationsquellen zurückgreifen, die vieles, was sich in der analogen Entwicklungswelt erst durch Anwendung der eigenen Neugier erschloss und somit geheimnisvoll sein konnte, ins grelle Licht der Sekundärerfahrung stellt und womöglich Abgeklärtheit vor der Zeit generiert. Damit verliert der Blick auf die Welt in gewisser Hinsicht seinen zauberhaften Reiz – und das Gefühl für die Abenteuerlichkeit geht im Kleinen verloren. Das gilt, so scheint es, auch für die Möglichkeit ‚sekundärer Abenteuer‘ im Reich der Fantasie: Wo nicht mehr gelesen, sondern möglichst exakte Animation rezipiert wird, geht die Fähigkeit zur Ausprägung eigener Bilder und Vorstellungen und damit auch kulturtechnischer Kompetenz in erheblichem Umfang verloren.
In vergangenen Zeiten, in denen von all dem nicht einmal geträumt werden konnte, war dies selbstverständlich anders. Und wenn es angesichts der Asymmetrie der Überlieferungen auch nur ein extrem schmaler Ausschnitt ist, über den entsprechende Aussagen getroffen werden können, so erweist sich das Mittelalter beziehungsweise die Menschen, die aufgrund der ihnen zugänglichen Ressourcen die Möglichkeit hatten, über das bloße Existieren hinaus zu (er)leben, als entsprechend lebendiger. Dass auch hier die sekundäre Rezeption des Exorbitanten über literarische Vermittlung ein wesentlicher Aspekt war, steht außer Frage und findet ihren Niederschlag in mittelalterlicher ‚Abenteuerliteratur‘, die sich großer Beliebtheit erfreute.
Hier setzt der vorliegende Band an, der auf die gleichnamige Tagung an der Universität zu Köln zurückgeht und in dessen Fokus das Feld der mittelhochdeutschen Aventiure steht, ein schillerndes Kontinuum, dessen unterschiedliche Facetten untersucht werden sollen. Dieser Anspruch wird neben der breiteren Thematisierung in der Einleitung bereits im Klappentext deutlich formuliert, in dem es nicht ausschließlich um das Erzählkonzept von Aventiure-Literatur geht:
Nicht nur lässt sich das mittelhochdeutsche Wort âventiure sowohl als Ereignis wie als Erzählung übersetzen, auch das Erzählen von ebendieser Aventiure konfiguriert in vielen mittelalterlichen Texten eine besondere narrative Dynamik: Ein Schema aus Suchen und Finden von Anerkennung, Liebe und Herrschaft, innerhalb dessen der Protagonist soziale wie kulturelle Schwellen überschreitet.
Es nimmt, um mit dem Formalen anzufangen, in Zeiten wie diesen Wunder, dass an solch prominenter Stelle das generische Maskulinum widerborstig der Welt des Genderns die Stirn bietet. Bemerkenswert ist hier aber vor allem nicht nur die ambitionierte Zielsetzung, sondern auch die Tatsache, dass das Mittelalter offensichtlich länger als gemeinhin bekannt andauerte. Ist die Einbeziehung antiker ‚Abenteuerliteratur‘ insofern noch nachvollziehbar, als diese ihren Niederschlag in einer rezipierenden mittelalterlichen Literaturgattung fand, überrascht der Beitrag zu Franz Fühmanns Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume doch erheblich.
Bereits der einleitende Text der Herausgeberin Franziska Wenzel und ihres Mitstreiters Michael Schwarzbach-Dobson ist lesenswert, werden in diesen Aventiure. Ereignis und Erzählung betitelten Präliminarien nicht nur die einzelnen Beiträge vorgestellt, sondern begriffliche Definitionen und ein entsprechend verdichteter Blick auf Forschungsansätze und -ergebnisse geliefert, die diese 20 Seiten zu einem informativen wie zugleich unterhaltsamen Lesevergnügen werden lassen.
Dies gilt grundsätzlich auch für Susanne Göddes Beitrag Antike Abenteuer. ‚Zeit des Zufalls‘ und Ordnung des Erzählens im griechischen Roman. Hier wird zunächst Grundsätzliches – etwa der Umstand, dass in der antiken Literatur kein dem Begriff ‚Abenteuer‘ vorbehaltlos entsprechendes Wort existiert – erläutert, bevor mit einem Blick auf Xenophon von Ephesos und die ‚Abenteuerzeit‘ sowie unter dem Titel der „Meta-Abenteuer“ die „Ökonomie des Erzählens von Abenteuern“ in den Blick genommen werden. Bereits in den „Meta-Abenteuern“ werden formale Aspekte thematisiert, die dann abschließend in der (hier kommt niemand an Friedrich Nietzsche vorbei) „Geburt der Erzählkunst aus dem Abenteuer“ zusammengefasst sind.
So zeigt sich, dass nicht nur antike Sujets, sondern auch formale Strukturen bis in die (Abenteuer-)Literatur der Moderne rezipiert beziehungsweise konstruktiv angewandt wurden, wenngleich in einer Art ‚Uneigentlichkeit‘, denn „das Abenteuer ist zwar noch nicht terminologisch bestimmt, doch gewinnt es als Erzählschema, sowohl durch das Moment der Reihung als auch durch das des Aufschubs, für die romanimmanente Inszenierung und Reflexion des Erzählens“. Dass ein bereits in der Antike angelegtes Kontinuum etwa von Spannungsbögen und ‚Rissen‘ in der Erzählstruktur Abenteuerliteratur kennzeichnet, ist demnach kaum wirklich überraschend, und im weiteren Sinne prägen diese Komponenten auf die eine oder andere Weise wohl auch andere literarische Sujets.
In eine Welt des Überirdischen, die womöglich auch heute noch literarisch funktionieren könnte, führt Hartmut Bleumer (Fee, Ereignis und Sujet), wenn er anhand eines Artusromans ein narratologisches Begriffsproblem in den Blick nimmt. Auch wenn im ausgewählten Roman, Hartmanns von Aue Iwein, keine Feen auftreten, nehmen sie doch indirekt Einfluss auf einen entscheidenden Wendepunkt im Leben des ‚Löwenritters‘. Der vom Wahnsinn befallene Held flieht Ehefrau und Hof und irrt durch die Wildnis. Ähnlich wie zum Handlungseingang ist es dann Zauberkraft, die auf die eine oder andere Weise gesellschaftliche Stabilität wiederherstellt.
Kann Iwein anfangs mit Hilfe eines Unsichtbarkeitsrings – ihm zugesteckt von der Zofe Lunete – überleben und schließlich das Herz der durch seine Tat zur Witwe gewordenen Laudine erobern, rettet ihn später die ‚Feensalbe‘ – hergestellt durch keine Geringere als Feimorgan, also Morgana, die Fee der Artustradition – aus dem Wahnsinn und erlaubt ihm eine Rückkehr in die höfische ‚Normalität‘. Hartmut Bleumer geht in seinen Ausführungen immer wieder auf dieses auf nicht direkt zentrale Ereignis des Romans zurück. Er greift es in den angesetzten fünf Thesenschritten immer wieder auf und weist auf ihre initiale Wirksamkeit zur Metamorphose Iweins hin. Diese ist der in die Handlung hineinweisende, wirkmächtige Aspekt des Feenmärchens, denn hierdurch ist „die Feensalbe im Moment des Erwachens eine metapoetische Metapher, die zum strukturellen Verständnis der Figur Iweins als die eines künstlichen Feenritters mit dem Löwen führt“.
Ist im Iwein das Suchen ein nicht unwesentliches Element, gilt dies auch für andere mittelalterliche Aventiure-Literatur. Diesen Aspekt untersucht Michael Schwarzbach-Dobson in seinem Beitrag Vom Suchen und Finden der Aventiure im Artusroman. Er definiert die durch das Basispaar ‚Suchen und Finden‘ fundamentierte Aventiure als ein narratives Dispositiv, in dem das ‚Ereignis‘ wesentlicher Teil des Modells ist. Und er hebt auf das Resonanzpaar von Aktivität und Passivität ab, indem er dem in den Artus-Texten immer wieder als treibendes Element erscheinenden suochen das ebenso vorkommende widervaren von Aventiure als handlungsrelevanten Aspekt gegenüberstellt. Als mindestens gleichsam tragend werden die literarischen Konzeptionsmöglichkeiten des ‚geschlossenen‘ sowie des ‚offenen‘ Suchens diskutiert, wobei der Autor anhand von Erec und Iwein die Entwicklung von der letztlich eingeschränkten geschlossenen zur offenen Suche diskutiert, um anhand von Wigalois und Lanzelet den umgekehrten Weg zu gehen. Beide Ausprägungen des abenteuerlichen Suchens stellen demnach „unterschiedliche Anforderungen an den Protagonisten und offerieren dabei eine konträre Auffassung von Identitäts- und Zufallskonzepten: Von kausal und final motivierter Herausforderungslogik hin zur Öffnung ins Unbekannte, die ihren Sinn erst aus den Wegverläufen selbst zieht“.
Aus der weiten Welt des Suchens untersucht Julia Weitbrecht Jagd, Initiation und Aventiure in erzählhistorischer Perspektive. Hier erkennt sie zuvorderst in der Jagd ein Motiv des Anstoßes zur Aventiure, sieht über Querverbindungen aber auch eine gleichberechtigte Paarung beider Komponenten, die eine Schwellensituation zu generieren vermögen. Beispielhaft hierfür steht die Figur des Meleranz im gleichnamigen Roman des Pleier, der über Naturverständnis und Selbstdisziplin nicht nur einen Prozess der Reifung durchläuft, sondern den direkten Weg an den Artushof findet. „Hier“, so die Autorin, „fallen Jagd, Initiation und Aventiure zusammen und erfolgt das Ereignis simultan mit der Erzählung“.
Fabian David Scheidel spürt mit einem Umweg zum Gral der Semantik von Spur und Weg im „Parzival“, in der „Crône“ und dem „Hohen Lied“ Bruns von Schönebeck nach und überprüft dabei die für das Aventiure-Handeln substanzielle Basiskonfiguration aus ‚Suchen und Finden‘ hinsichtlich sinnstiftender und bedeutsamer Implikationen. Auch wenn alle drei Referenztexte theologische Aspekte aufweisen, sind diese im Hohen Lied essenziell, und so ergeben sich auch für den hier auftauchenden Kernbegriff slâ unterschiedliche Wirkdimensionen. Wo Parzival und Crône unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten der slâ, die hier als Synonym für die Aventiure aufzufassen ist, zulassen, führt Bruns Hohes Lied zurück auf die slâ als metaphorische Komponente im Sinne einer christlich determinierten und letztlich angeleiteten Suche, die weniger ergebnisoffen und somit weniger ‚aventiurehaft‘ ist, dafür freilich spirituellen und damit deutlich höherwertigen Ertrag verspricht.
Jutta Eming fragt in ihrem Beitrag Prolepse und Aventiure im höfischen Roman nach dem Zusammenhang von beziehungsweise der erkennbaren Folgerichtigkeit von Vorausdeutung und Ereignis. Sie definiert die strukturelle Relevanz dieser Komponenten als die sich aus dem Umstand ergebende Dynamik, die im Spannungsfeld zwischen lediglich zeitlich strukturellem Element und sinnbildender Affektstiftung aufgebaut wird. Dies untersucht sie nachdrücklich an den Handlungsfeldern im Erec und im Lanzelet. Auch wenn der beste Ritter von vornherein feststeht, ist selbstverständlich ein handlungstragender Bogen notwendig, und „das narratologische Mittel, das die dafür erforderliche Ungewissheit […] zuverlässig konstituiert, ist die Prolepse“. Dass derlei nicht nur für die mittelalterliche Artusepik funktioniert, macht ein Blick auf zeitgenössische Kriminalliteratur deutlich: Auch hier wird gerne mit dem Stilmittel der Prolepse gearbeitet, ohne dass der Aspekt der Spannung dabei verlorenginge.
Von Coralie Rippl (Der Erzähler, die aventure / âventiure und Gott) wird abermals eine spirituelle Metaebene in die Welt der Aventiure eingebracht, die sich auf den Aspekt des Numinosen vornehmlich in der Erec-Adaption Hartmanns bezieht. Während, so die Verfasserin, in Chrétiens de Troyes Roman Erec et Enide eine doppelte Formung der aventure erfolgt – einerseits durch den Erzähler geformt, andererseits durch den Protagonisten Erec –, geht Hartmanns Ansatz darüber insofern weit hinaus, als Gott der über der Handlung stehende Lenker ist und der Dichter lediglich als sein Sprachrohr fungiert. Das führt die hinsichtlich ihrer ‚Fragestellung‘ potenzielle Offenheit der âventiure in die Providenz Gottes über. Und es vollzieht sich bei Hartmann „eine Wendung ins Literarische, die den Rezipienten als Dritten ins Boot holt, in dem der Erzähler mit Gott sitzt“.
In einen letztlich zwar ebenfalls theologisch überprägten Bereich, der hier allerdings vornehmlich als Einbettung dient, verweist der Beitrag Lena Zudrells (Fasten-Coutume), der anhand des Garel, des Tandareis und des Meleranz Aspekte des religiös motivierten Fastens im Kontext des Phänomens der Aventiure zum Thema hat. Hier ist es nicht allein als allgemeines Movens zur Aventiure nachweisbar, sondern wird durch die Spezifizierung in Form der Fasten-Coutume als stabiler und stabilisierender Dreiklang von Fasten, Erzählen und Essen bis etwa in die späten Artusromane des Pleier immer wieder zum Anker einer ansonsten womöglich ungerichteten Dynamik. Und: „Die Aventiure […] ist sowohl Gegenstand der Coutume wie Gegenstand der Handlung.“ Mithin wird, unter aktiver Rolle der Rezipientin oder des Rezipienten, auch hier ein Spiel mit Erwartungen eröffnet, diese werden innerhalb wie außerhalb der Romane geweckt – und erfüllt.
Auch Mireille Schnyder führt mit ihrem Beitrag Der Ritt auf der Gans in eine erweiterte Handlungswirklichkeit, in die Welt des ‚Kopfkinos‘, die offenbar schon existierte, bevor es das ‚echte‘ Kino gab. Mit allgemeinen Überlegungen, manifestiert an Reinmars von Zweter Gänseritter, der bereits zeitgenössisch als ‚Lügenerzählung‘ gebrandmarkt wurde. Diese – letztlich parodistische – Anlage einer Aventiuren-Welt entfaltete eine Tradition, die vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit und darüber hinaus produktiv war. Dies gilt, so die Autorin, in erweiterter Hinsicht, die über das bloße Lesen hinaus Wirkung zeitigte, das heißt eine imaginierende Lektüre ermöglichte, „über die sich ein lesendes Ich eine fremde Geschichte zuschreibt“. Oder, um den „Ritter aus Papier“ wirksam werden zu lassen: Die imaginierende Lektüre generiert „die papierne Rüstung als Mittel der Selbstinszenierung“.
Und wie bereits zu Beginn angeklungen: Paul Keckeis’ Beitrag (Das Abenteuer des ‚Umschlagpunkts‘. Plötzlichkeit und Utopie in Franz Fühmanns „Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume“) ist auf seinem eigenen Fachgebiet lesenswert, gehört aber einfach nicht in diesen Band. Selbstverständlich sind Aspekte wie das ‚plötzliche Innewerden‘ auch in der mittelalterlichen Literatur zu finden und dort genauso konstruktiv angewendet. Doch zum einen gilt das im eigentlichen Sinne für jegliche qualitativ anspruchsvolle Literatur, und zum anderen wäre es nicht unangemessen, in einem Aufsatz zur Literatur der Moderne (oder vielmehr eines modernen Textes) wenigstens punktuell eine Verbindung zu mittelalterlichen Texten herzustellen. Es ist durchaus interessant, das Wort ‚plötzlich‘ als ein „Adverb zwischen Prosa und Poesie“ zu begreifen oder den „Knotenpunkten des Lebens“ nachzuspüren. Und selbstverständlich ist es naheliegend, wie Keckeis es tut, den Jongleur im Sinne von Georg Simmels Philosophie des Abenteuers zu deuten und auch „die großen autobiographischen Texte Fühmanns […] als Versuche zu charakterisieren, gerade diesen Zusammenhang zwischen solchen Augenblicken und dem Zentrum der eigenen literarischen Existenz literarisch zu ergründen“ – warum aber bezieht er diesen Ansatz nicht auf einen mittelalterlichen Aventiure-Text?
Die Aventiure eröffnet einen vielfältigen und informativen Blick auf die ‚Abenteuerliteratur‘ des Mittelalters. Schon die knappe aber effektive Einführung des herausgebenden Duos lohnt der Lektüre. Und dies gilt auch für die hier aufgenommenen Beiträge, wobei die teils pittoresken Illustrationen zum Ritt auf der Gans eine reizvolle visuelle Anregung bieten. Und wenn auch noch immer nicht ganz schlüssig ist, wie und warum der Aufsatz zu Franz Fühmann in diesen Kreis geraten ist, tut das der Publikation im Ganzen keinen Abbruch. Sie reiht sich in die lange Traditionsreihe von profunden und gleichzeitig handlichen Veröffentlichungen aus dem Erich Schmidt Verlag ein und sei – auch wenn der Preis nicht gerade günstig ist – somit allen Interessierten ans Herz gelegt, auch und gerade wenn sie sich nicht explizit mit mittelalterlichen Aventiure-Texten befassen.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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