Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit

Neues von der DVjs

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegenwartsliteratur und Gegenwartsliteraturwissenschaft sind derzeit viel diskutierte Konzepte. Im letzten Herbst ist schon ein Sonderheft der renommierten Zeitschrift für deutsche Philologie erschienen, in dem es um einen historischen Begriff von Gegenwart und ihrer Literatur geht. Gegenwart als politischer, literarischer und kultureller Referenzrahmen ist erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstanden, der, so schreiben Julia Mierbach und Eva Stubenrauch, „sich durch geteilte Erfahrungen, Praktiken, Wissensordnungen oder Diskurse konstituiert.“ Tobias Rüther hat jüngst in der F.A.Z. (10.12.2023) auf das Konzept der Generation für die Beschreibung von Gegenwartsliteratur aufmerksam gemacht, wie es etwa in so unterschiedlichen Texten wie Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück, in Dirk Oschmanns Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung, aber auch in der postmigrantischen Literatur wie dem Schreiben Shida Bazyars verhandelt und erzählt wird. In der Kulturzeitschrift Merkur sind in den letzten Jahren auch immer wieder hochinteressante und meines Wissens auch viel diskutierte Texte zur Gegenwartsliteratur (Spoerhase, Schuhmacher und Döring) und zu den Problemen ihrer literaturwissenschaftlichen Beobachtung erschienen.

Das letzte Heft der Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs) im Jubiläumsjahr 2023 ist insofern im Trend. Das Heft ist eine Überraschung in mehrfacher Hinsicht. In der langen Tradition der Zeitschrift (sie ist im letzten Jahr einhundert Jahre alt geworden) ist es wohlgemerkt das allererste Heft, das sich unter dem Titel Gegenwartsliteratur als Herausforderung des Literarischen explizit mit der Gegenwart der Literatur und ihrer Wissenschaft beschäftigt. Es soll der Frage nachgegangen werden, schreiben Juliane Vogel und Carlos Spoerhase im Editorial, wie „eine Fachzeitschrift mit den aktuellen Entwicklungen in der Literatur in Kontakt treten kann, ohne einer reflexionsarmen ‚kurzatmigen‘ Publikationspraxis Vorschub zu leisten.“ Man könnte also sagen, das Heft will ganz grundsätzlich die Frage stellen, wie aus dem Aktuellen, das ja flüchtig ist, das Zeitgenössische wird, das bleibt. Das Heft ist sehr umfangreich und umfasst siebenzwanzig Beiträge. Juliane Vogel und Carlos Spoerhase sind editorisch schlau genug, die Masse der Texte und die Vielheit der Perspektiven unter sieben sehr unterschiedliche Schwerpunkte zu rubrizieren. Sie reichen von Formen der Gegenwartsemphase über Formen der Politisierung, der Diskussion zentraler Begriffe wie „Autonomie, Heteronomie, Postautonomie“ bis hin zu gegenwärtigen Regimen des Lesens in verschiedenen medialen Formaten. Diese Schwerpunkte ermöglichen dem Lesenden ein hohes Maß an Orientierung. Gleichzeitig zeigt die Ordnung, was möglich ist, wenn man Gegenwartsliteratur oder die Gegenwart als Herausforderung, aber nicht als Bedrohung oder Krise des Literarischen und seiner Institutionen in Wissenschaft und Kultur begreift. Die Schwerpunkte vermessen also die Terrains, auf denen sich eine zukünftige Gegenwartsliteraturwissenschaft bewegen könnte.

Zu den ‚aktuellen‘ Entwicklungen in der Literatur, im Literaturbetrieb und auch in der Literaturwissenschaft, denen sich viele Beiträge des DVjs-Heftes widmen, gehören mindestens zwei: das Verhältnis der Gegenwartsliteratur zu Formen der populären Kommunikation in verschiedenen Formaten und das Verhältnis der Gegenwartsliteratur zur literarischen Tradition inklusive der sie prägenden Autonomieästhetik. Zeitgenössisch daran ist zum einen, dass die Literatur in eine Kommunikationskonkurrenz zu kulturellen Formaten gerät, die ihre Darstellungsweise, ihre Themen und ihre Sujets herausfordern. Den Instagram-Roman gibt es nicht, wohl aber viel Kommunikation über Romane auf Instagram. Zum anderen stellen viele Debatten in Literatur- und Kulturbetrieb die zeitgenössische Frage, wie und in welcher Form überhaupt noch von Autonomie der Literatur und der Kunst gesprochen werden kann, wenn Ökonomie, Politik, postkoloniale und identitätspolitische Diskurse nach Formen literarischer Kommunikation und Repräsentation verlangen, die formal und von der Botschaft her eindeutig sind und milieuübergreifend funktionieren, weil sie gut verkaufbar sind oder politische Überzeugungen perpetuieren.

Das Heft führt somit in mancherlei Hinsicht die sogenannte „Midcult-Debatte“ fort. Mit „Neuem Midcult“ ist nach Baßler die Eigenschaft einer Literatur gemeint, die versucht, Ethik und Ästhetik, Gesellschaft und Form auf eine Weise zusammenzubringen, die formal uninteressant und inhaltlich banal ist. Das ist für ihn schlechter populärer Realismus, dem er 2022 eine Monografie gewidmet hat. Der Markt der Moral und der sozialen Bewegungen verlangt Heteronomie, also die Dienstbarkeit der Literatur für das Gute und das Richtige, der Markt der Literatur und der Literaturwissenschaft aber noch nach Autonomie, nämlich nach dem Eigensinn des Textes und des Werks. Das Heft widmet sich mit dem Schwerpunkt „Autonomie, Heteronomie und Postautonomie“ dieser gewichtigen Frage. Die Beiträge in diesem Teil gehören zu den interessantesten im ganzen Heft. Irene Albers präsentiert zusammen mit Andreas Schmidt einen bisher unbekannten Ansatz: nämlich philologische Provenienzforschung. Die, so Albers und Schmidt, untersucht Formen, wie mündliche Literaturen aus kolonisierten Gebieten nach Europa gelangten. Es geht in diesem Ansatz, so kann man es mit einem postkolonialem Modewort beschreiben, um die Dekolonisierung von wissenschaftlichen Verwertungszusammenhängen. Da Provenienzforschung im Ergebnis zur Restitution führt, schlägt Albers vor, die Deutungshoheit über Literatur wieder zurückzugeben. Literarische Modelle dieses Verfahrens finden sich in Mohamed Mbougar Sarrs großartigem Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen.

Carolin Amlinger führt anhand einer Untersuchung des Gegenwartsgenres „Debattenroman“ vor, was die Verbindung von Soziologie und Literaturwissenschaft in Sachen Gegenwartsdiagnose leistet. Erika Thomalla präsentiert uns mit ihrer Untersuchung des „Sensivity Reading“ – einer Überprüfung von Literatur auf Triggerpunkte – eine famose Kombination von empirischer Literaturuntersuchung (Interview) und Literaturtheorie. Moritz Baßler setzt im vorliegenden Heft seine Theorieserienproduktion „Populärer Realismus“ einfach fort. In Sachen Gegenwartsliteraturwissenschaft sind die Aufsätze von Eva Blome und Eckhard Schumacher am instruktivsten, weil sie sich wissenschaftlichen Problemen stellen – wie etwa den Herausforderungen, die politische Konjunkturen für die Autonomie der Literatur (Blome) oder was Medienkonkurrenz in Sachen Gegenwartsdiagnose für den Modus der Vergegenwärtigung von Gegenwart in literarischen Texten (Schuhmacher) bedeuten. 

Es bleibt für den Leser ein Rätsel, warum die Geschichte der Gegenwartsliteraturforschung nicht annährend so gewürdigt wird wie aktuelle Tendenzen, wie sie uns etwa in Moritz Baßlers Populärer Realismus (2022) oder in Erhard Schüttpelz’Deutland (2023) entgegentreten. Warum in den meisten Texten nur sporadisch eine Auseinandersetzung mit anderen Richtungen der Gegenwartsliteraturforschung – etwa mit den Arbeiten von Kai Kauffmann, Silke Horstkotte oder Jörg Döring – erfolgt, bleibt ein Rätsel. Arbeit am Begriff leisten die wenigsten Beiträge, sondern zitieren sich gegenseitig: Baßlers (der Münsteraner Germanist ist auch mit einem Beitrag vertreten) theoriepolitischer Beststeller Populärer Realismus wird häufig zitiert; ebenso wie Erhard Schüttpelz’ Deutland. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man in Sachen Gegenwartsliteraturforschung dann doch lieber zitationstaktisch und publikationsstrategisch unter sich bleibt.

Mit Begriffsgeschichte von „Gegenwart“ oder der Geschichte der Gegenwartsliteraturwissenschaft haben die Beiträge im Heft somit wenig zu tun. Gegenwartsliteraturwissenschaft entsteht als antitraditionalistisches Programm der Beobachtung von aktueller Literatur erst ab ca. 1870, wie Klaus Weimar in seiner Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des Jahrhunderts bereits 2002 zeigen konnte, Gegenwart als eine von Zäsuren (1968, Beitritt der DDR zur BRD, 11. September, Corona) geprägte Epoche noch später. Gegenwartsliteratur entsteht – durchaus in Auseinandersetzung mit der sich neu etablierenden historischen Disziplin der Zeitgeschichte – als Sujet und als Forschungsgegenstand auf dem literaturwissenschaftlichen Buchmarkt erst nach dem zweiten Weltkrieg.

Dass von diesen Diskursen wenig im Heft die Rede ist, bleibt ein nicht eingelöstes Desiderat für eine literaturwissenschaftliche Zeitschrift, die sich das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte auf die Fahnen geschrieben hat. Ein Beispiel: In vielen Texten findet sich der Begriff „Zeitgeist“. Nun weiß jeder, dass „Zeitgeist“ ein Kampfbegriff der Kulturkritik ist, den man ohne Kenntnis seiner historischen Semantik schwerlich für die Gegenwart fruchtbar machen kann. „Was ihr den Geist der Zeit heißt“, liest man in Goethes Faust, „das ist im Grund der Herren eigener Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln“.

Patrick Eiden-Offe präsentiert in seinem lesenswerten Text Klammer zu, der sich als Satire auf den gegenwärtigen Forschungs- und Drittmittelzeitgeist lesen lässt, ein neues Genre der Gegenwartsliteraturwissenschaft: den Sekundärliteraturtext zum eigenen Drittmittelprojekt. Satire übertreiben in der Darstellung der Wirklichkeit, um genau diese Wirklichkeit sichtbar oder transparent zu machen. Der Berliner Kulturwissenschaftler repräsentiert mit diesem Genre möglicherweise den Geist der Zeit. Eiden-Offe wirbt nämlich für sein äußerst gegenwarts- und trendbewusstes, höchst aktuelles und von der EU gefördertes Drittmittelprojekt „Kartographie des politischen Romans in Europa“. Es ist der Geist der Drittmittel-Zeit und des scheinbar notwendigen Selbstmarketings, der in diesem Aufsatz sehr deutlich wird. Man kann in Bezug auf Eiden-Offes Text von einer postautonomen Praxis der Literaturwissenschaft sprechen, die auf eine gewisse Weise an den „Bitterfelder Weg“ der Literatur- und Kulturpolitik in der DDR erinnert: Greif zur Feder, Kumpel, lies Schüttpelz’ Deutland und ein bisschen Baßlers Populärer Realismus, die aktivistische Nationalkultur braucht dich – jetzt!

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Christian Kiening / Albrecht Koschorke / Susanne Reichlin / Carlos Spoerhase / Juliane Vogel / David E. Wellbery (Hg.): Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Gegenwartsliteratur als Herausforderung des Literarischen.
Volume 97, Issue 4.
J. B. Metzler Verlag, Heidelberg 2023.
312 Seiten, 59 EUR.
ISSN: 00120936

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