Zurück in den Buchstabenschrank!

Über die Sprach-Marotten des Jahres

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Wie – um Himmels willen! – konnte es nur passieren, dass alle Menschen in Radio, Fernsehen, Mails und Artikeln von unseren „Liebsten“ sprechen, wenn sie Oma, Opa, Mama, Papa, die Geschwister, Lover und beste Freunde meinen? Warum ist dieser goethisch-altmodische Ausdruck in schnodderige Podcasts oder Regierungserklärungen geraten? Tauchte das erotisch-romantische „Liebste“ in jeder Weihnachtsmail von Kollegen auf? „Ihnen und Ihren Liebsten die besten Wünsche für ein gutes Neues Jahr 2024“, hieß es erst vor drei Monaten dutzendfach. Auch bei den Angehörigen der in Gaza so grausam gefangen gehaltenen Geiseln spricht man davon, dass „ihre Liebsten“ sie wieder in die Arme nehmen wollen. Ja natürlich. Aber warum heißt es nicht „Angehörige“? Oder „Familienmitglieder“ oder „Freunde“?

Von den „loved ones“ zu den „Liebsten“

Aber wer genau sind diese Liebsten – und warum ist dieser Ausdruck scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht? Natürlich haben wir wieder einmal die englische Sprache im Verdacht, in der von „loved ones“ die Rede ist. Bei den deutschen „Liebsten“ handelt es sich aber um einen Superlativ. Er klingt in unseren Ohren immer noch merkwürdig, ein wenig gestelzt, ein wenig schmalzig. Befürworter des neuen Ausdrucks sehen in ihm eine verbale Rücksicht, weil vielleicht nicht alle Menschen Familie haben, „Liebste“ aber auch Freunde oder eine nebulöse Ansammlung an emotional positiv konnotierten Wesen umfassen können.

Wenn „Ihnen und Ihren Liebsten“ von der Heizungsfirma frohe Weihnachten gewünscht wird, empfinden wir das als latent übergriffig. Was haben die mit unseren „Liebsten“ zu tun? Mit den Liebsten kuscheln wir unter der Bettdecke, besuchen sie im Krankenhaus und schenken ihnen selbst geschneiderte Morgenmäntel. Aber doch nicht die Heizungsfirma, oder? Die sollen uns und unseren Liebsten vom Leib bleiben! Und sich drum kümmern, dass wir nicht frieren, wir und UNSERE Liebsten!

Bei jedem Unglück, zu dem die deutsche Bundesregierung sich äußert, wird auch an die Liebsten gedacht. Verlautbart sie. Sollen sich lieber darum kümmern, dass keine Züge entgleisen, dass Flussläufe so reguliert werden, dass Menschen und Häuser geschützt sind und dass Fahrradwege so abgeschirmt werden wie auf den Straßen in Paris. Dann muss sie sich auch nicht um uns und unsere Liebsten sorgen.

Ja natürlich. Sprache ist immer im Fluss, verändert sich, nimmt neue Ausdrücke auf, spült Modeworte nach oben und begräbt alte. Aber, darauf zu achten, dass Worte und deren Bedeutung nicht unter inhaltsleeren Floskeln begraben werden, das wäre doch ratsam. Das wäre uns am liebsten. Auch unseren Liebsten wäre das das Liebste!

„Sich ehrlich machen“

Ein besonders hässlicher und persistierender neuer Liebling von Politikern und Politikerinnen aller Parteien ist der Satz: „Wir müssen uns ehrlich machen.“ Wer auch immer diesen Satz das erste Mal in einem Arbeitskreis oder Plenum gesagt hat, hat seinem Berufsstand keinen Gefallen getan. Denn die erste unwillkürliche Assoziation bei diesem Satz ist für nicht wenige: „Wir machen uns alle mal nackig!“ Und dieses Bild verschwindet dann auch nicht, wenn die Betreffenden weiter über Finessen der Wärmepumpen-Besteuerung, Radwegeausbau oder Krankenhaus-Reformen debattieren.

Denn: Wie kann man sich ehrlich machen? Können wir uns eine Pelle der Unehrlichkeit vom Leib schälen? Uns herauswürgen wie eine Weißwurst aus dem Darm? Man kann ehrlich sprechen. Oder ehrlich sein. Was soll dieser Satz? Ehrlich machen klingt nach Kindergartensprache. Vielleicht soll es pragmatisch, zupackend wirken. Dabei ist einfach nur gemeint: „Lasst uns Klartext sprechen.“ Wenn man innerhalb einer Woche von Vertretern aller Parteien das „Ehrlich-Machen“ gehört hat, hat man das Gefühl: Vielleicht ist es einfach deren Hilflosigkeit, die sie so plappern lässt. Mal ehrlich!

Wo sind Sie denn „unterwegs“?

Komisch wirkt auch die Redewendung „Wir sind im Marketing unterwegs“ oder „Wir sind da gut unterwegs“ und „Wir sind in der Mode unterwegs“. Oder in der Bundesliga oder der Exzellenzinitiative. Man freut sich, wenn jemand auf der Reise ist. Oder in einem Prozess. Hoffentlich nicht weit weg. Aber bei der Steuerreform oder der Abschaffung der Bezuschussung des Agrardiesels, muss man da auch unentwegt „unterwegs“ sein? Wo doch ohnehin schon alle Trecker unterwegs sind auf dem Weg zum Reichstag oder vor das Privathaus von Ministern. Oder zum Fähranleger in Schüttsiel. Die „spontane“ Protestaktion sollte bewirken, dass der Vizekanzler nicht die Fähre verlassen konnte. Das Geschrei „Komm runter, du Penner!“ und – als der Steuermann Thimo Silberstein beschloss zurückzufahren – „Feige Sau!“ und „Ersauf, du Arschloch!“ zeigte ganz klar, dass unter den „Landwirten“ noch ganz andere Mitmenschen „unterwegs“ waren als aufgebrachte Bauern aus Schleswig-Holstein. Derzeit sind viele unterwegs, zu dunklen Zielen. „Fährenflucht“ nannte Frau Dr. Weidel das Verhalten Robert Habecks, der dem Rat der Polizei folgte. Sie wusste genau, wie sehr das nach „Fahnenflucht“ klingt.

Am Start sein

Ganz nett klingt dagegen: „Da sind wir am Start!“ Wir müssen dabei zwar immer an den Startblock in einem Schwimmbad denken, wenn man halb nach vorne gebückt, mit Schwimmbrille über den Augen, konzentriert auf den Anpfiff wartet. Und wir stellen uns den Strategen einer Werbeagentur vor, der einen pitch vorbereitet, vielleicht in der Badehose. Wie Olaf Scholz am Start aussieht, wenn er über die Lieferung des Taurus für die Ukraine entscheiden soll, mögen wir uns nicht ausmalen. Wir geben dieses Bild lieber an die Karikaturisten weiter.

Zeitnah

Der Beschluss, so heißt der aktuelle Politikersprech, aber auch so mancher Firmenleitung, sollte „zeitnah“ umgesetzt werden. Und dann verstreicht doch so einige Zeit. Wie soll das gehen, „zeitnah“? Bald, nach dem aktuellen Zeitpunkt, also gleich? In fünf Minuten, in einer halben Stunde, nach einem halben Jahr? Schon die Definition als „gegenwartnah“ lässt uns fragend die Augenbrauen hochziehen: Wie „nah“ an der Gegenwart ist denn „zeitnah“? Oder ist es einfach leeres Geschwätz? Damit die Leute Ruhe geben? „Im Handumdrehen“, „prompt“; das wäre großartig. Aber so schnell wird es dann doch nichts, bei „zeitnah“ können auch Monate verstreichen.

Bald, binnen kurzem, in Kürze, in absehbarer Zeit, in der nächsten Zeit, in naher Zukunft, kurzfristig: zu diesen unbestimmten Formeln könnten die Sprecher der Bundesregierung, der Ministerien, der Bürgermeisterämter vor den Mikrofonen in der nächsten Zeit greifen, anstatt uns immer mit „zeitnah“ zu belästigen. Für diese unsinnige Formel scheint uns diesmal nicht die englische Sprache die Schuld zu tragen – die nutzt da eher das wundervolle Wort „timely“ –, sondern eher das Überschwappen behördlicher Formeln. „Bitte senden Sie uns Ihre Unterlagen zeitnah zu, damit wir ihren Antrag bearbeiten können.“ Nichtssagend, ein wenig drohend klingt das. „Am zeitnächsten“ wäre dann der dazu passende Superlativ. Nun aber, pronto, pronto. Sonst kommt die Steuerfahndung. Zeitnah.

Wenn schon alles immer „zeitnah“ geschehen soll, dann würden wir uns in Zukunft noch mehr freuen, wenn es dann ab nun poetisch heißt: „in Bälde“. Auch beim nächsten Termin beim Facharzt wäre das schön, wenn wir nach solch harmonisch klingendem Wort den Termin schon für in drei Monaten in den Kalender eintragen dürfen. Oder den Handwerkerbesuch. In der laufenden Rechtsprechung deutscher Arbeitsgerichte bedeutet „zeitnah“ in aller Regel „nach 14 Tagen“. Das wäre doch mal eine Richtschnur für die Ausfertigung neuer Ausweispapiere oder den Besuch des Technikers, des Telefonanbieters oder des Elektrikers.

Wenn Podcast-Gastgeber und Gäste zudem dafür bezahlt würden, wie oft sie das Wort „tatsächlich“ sagen, müssten sie mehrere zusätzliche Konten eröffnen, weil ihre bisherigen von Talern überquellen. Wir sind bald wieder am Start, hier. Und bis dahin essen wir eine Weißwurst, angezogen.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.