Zwischen Wunschdenken und Realpolitik
Heinrich August Winkler wirft in „Die Deutschen und die Revolution“ einen Blick auf die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im weltpolitischen Kontext
Von Günter Rinke
Sind die Deutschen ein „Volk ohne Revolution“? Diese Frage, mit der er sich auf einen Aufsatz des Historikers Rudolf Stadelmann aus dem Jahr 1948 bezieht, beantwortet Heinrich August Winkler mit einem entschiedenen Nein. Winkler, der sonst mit dickleibigen Büchern wie der vierbändigen Darstellung Geschichte des Westens (2009-2015) hervortritt, hat diesmal einen schlanken Band vorgelegt, der mehr den Charakter eines Essays als einer ausgreifenden Geschichtsdarstellung hat. In fünf Kapiteln geht es um revolutionäre Ereignisse, die Deutschland in den vergangenen zweihundert Jahren geprägt haben. In einem sechsten Kapitel fasst der Autor die Ergebnisse zusammen und versucht einen Ausblick auf eine Zukunft, in der der Westen „seine monopolartige globale Vormachtstellung“ verloren habe.
‚Revolution‘ ist ein oft gebrauchtes Wort, dessen Bedeutung nicht verbindlich geklärt ist. Auch die Konnotationen wechseln je nach politischem Standort. Ist für die einen ‚Revolution‘ eine Hoffnungs-, ja sogar Heilsvorstellung, verbinden andere damit die Schreckensvision von Anarchie, Chaos, Gewalt und Verlust aller Sicherheiten. Winkler geht am Anfang und am Ende seiner Darstellung auf den Bedeutungsumfang von ‚Revolution‘ ein, der in der Vormoderne weit über den politischen Bereich hinausreichte und erst seit der englischen ‚Glorious Revolution‘ (1688) politisiert worden sei. Kern eines „pragmatischen“ Revolutionsbegriffs, den Winkler seinen Überlegungen zugrunde legt, ist die politische und soziale Umwälzung, die über einen bloßen Wechsel des politischen Führungspersonals hinausreicht und gewaltsam erfolgen kann, aber nicht muss. Ausgeklammert bleibt in dieser Definition die Frage, ob die Umwälzung von einer breiten Volksbewegung ausgehen muss. Des Weiteren wird nicht erörtert, inwieweit auch kulturelle und soziale Einstellungs- und Verhaltensveränderungen wie etwa die ‚sexuelle Revolution‘ zum Thema passen würden.
Die Auswahl der politischen Ereigniskomplexe, mit denen Winkler sich in seinen fünf Kapiteln beschäftigt, ist zum Teil überraschend. Neben der Märzrevolution von 1848/49 und der Novemberrevolution von 1918/19 geht es um Bismarcks in der Reichsgründung von 1871 gipfelnde „Revolution von oben“, um den Nationalsozialismus als „Revolution von rechts“, dies allerdings mit einem Fragezeichen versehen, und um die „friedliche Revolution“ von 1989, die zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten führte. Nun lassen sich zwar nicht wenige Zitate finden, die Bismarcks kriegerisch unterfütterte Staatskunst als revolutionär charakterisieren, gleiches gilt für Hitlers scheinlegale Monopolisierung der Macht, zumal der Diktator selbst von „nationaler Revolution“ sprach, jedoch sind Zweifel an dieser Etikettierung durchaus möglich, wenn nicht sogar angebracht. Bei der „friedlichen Revolution“ von 1989, die das SED-Regime zu Fall brachte, muss bedacht werden, dass dieser Umbruch nur von einem knappen Drittel der deutschen Bevölkerung und nicht von ‚den Deutschen‘ vollbracht wurde.
Dass Winkler viel daran liegt, Geschichtsmythen aufzulösen, ist auch daran erkennbar, dass er sein Buch Ende des vergangenen Jahres mit Zeitungsartikeln begleitete. So erschien im September in der ZEIT ein Artikel mit dem Titel Das Land der ungewollten Revolutionen und in der F.A.Z. im Dezember eine ganze Seite mit dem Titel Der Fortschritt als Fessel. Einer der Mythen, gegen die in beiden Artikeln und im Buch argumentiert wird, ist die von manchen Historikern postulierte Möglichkeit, dass die deutsche Geschichte besser verlaufen wäre, hätten 1848 und 1918 die radikalen Kräfte gesiegt. Das waren 1848 die Demokraten, die für eine deutsche Republik kämpften, und 1918/19 die Spartakisten und linksgerichteten Sozialisten jenseits der Mehrheitssozialdemokratie, die für ein Rätesystem und eine sozialistische Wirtschaftsordnung eintraten. Bekanntlich scheiterten sowohl der Aufstand von Hecker und Struve in Baden als auch der sogenannte „Spartakusaufstand“ im Januar 1919. Es setzten sich 1848 die gemäßigten Liberalen, die für eine konstitutionelle Demokratie eintraten, durch und scheiterten letztlich an der Doppelaufgabe, einen deutschen National- und Verfassungsstaat zu schaffen. 1919 siegten diejenigen gemäßigten Kräfte um Ebert und Scheidemann, die so bald wie möglich eine Nationalversammlung wählen lassen wollten, allerdings mussten sie sich dabei auf ehemalige Frontsoldaten und Freikorps stützen, die eher reaktionäre Ziele verfolgten.
Das Bürgertum und große Teile der Arbeiterschaft unterstützten nach Winklers Auffassung nicht zuletzt deshalb die gemäßigten Kräfte, weil sie an Reformen ‚von oben‘ gewöhnt waren: den aufgeklärten Absolutismus im 18., die Preußischen Reformen und Bismarcks Reichsverfassung im 19. Jahrhundert, letztere zwar ohne echten Parlamentarismus, immerhin aber mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht für Männer zum Reichstag. Außenpolitisch sieht Winkler im Falle eines Sieges der Linken 1848 die Folge eines großen Kriegs mit Russland sowie 1919 die Gefahr einer Invasion der Alliierten. „Der Fortschritt als Fessel“ heißt also, dass der Obrigkeitsstaat in Deutschland so erfolgreich agierte, dass er Revolutionen für die Bürger zu „ungewollten“ Ereignissen machte. Hinzu gekommen sei nach dem Ersten Weltkrieg der hohe Entwicklungsgrad Deutschlands, der Umwälzungen wie in agrarisch strukturierten Gesellschaften (Frankreich 1789, Russland 1917) unmöglich gemacht habe. Friedrich Engels habe bereits 1895 die Ära der gewaltsamen Revolutionen von unten für beendet erklärt.
Bismarcks (nachträglich legalisierter) Verfassungsbruch von 1862 und sein Vorgehen gegen Österreich und andere Bundesstaaten im Jahr 1866 wurden von manchen zeitgenössischen Beobachtern und später von Historikern – erinnert sei an Lothar Galls Bismarck-Biographie mit dem Untertitel Der weiße Revolutionär (1980) – als revolutionär eingestuft. Dennoch wird es vermutlich umstritten bleiben, ob die „Blut-und-Eisen“-Politik, mit der die deutsche Frage im „kleindeutschen“ Sinn gelöst wurde, mehr war als eine rücksichtslose, sehr erfolgreiche Machtpolitik Preußens, das zudem im Inneren des Reichs seine Hegemonie zu wahren wusste und dessen Landtag weiter nach dem Drei-Klassen-Wahlrecht gewählt wurde. Dass die Parlamentarisierung des Reichs erst angesichts der drohenden Niederlage im Weltkrieg im Oktober 1918 nachgeholt wurde, erwies sich als Bürde für die Weimarer Republik, desgleichen der fortbestehende politische Einfluss der ostelbischen Großgrundbesitzer, deren Entwicklung Hans Rosenberg einmal als folgenreiche „Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse“ beschrieb.
So folgte auf die in vieler Hinsicht durchaus erfolgreiche Novemberrevolution schon zwölf Jahre später deren Rückabwicklung in Hitlers „nationaler Revolution“. Ihr „innerstes Wesen“ erfasst Winkler in einem Satz, der seine Grundüberzeugung von der Bedeutung des „Westens“ widerspiegelt: „Deutschland hörte 1933 auf, ein Rechts- und Verfassungsstaat zu sein und verwandelte sich in ein totalitäres System, in dem die im transatlantischen Westen entwickelten Normen menschlichen Zusammenlebens keine Geltung mehr besaßen.“ Demgegenüber verblassen für ihn die modernisierenden Züge des Nationalsozialismus, die in neuerer Zeit von einigen Historikern hervorgehoben wurden. Winkler nutzt die Auseinandersetzung mit deren Thesen, in Anlehnung an Gustav Droysen, für eine Erklärung in eigener Sache, die sich auf das Problem der Wertfreiheit in der Geschichtswissenschaft bezieht. Zwar seien „subjektive, mithin willkürliche Werturteile“ zu vermeiden, jedoch sei es unumgänglich, Handlungen von Akteuren aus der Vergangenheit in den „ethischen Horizont“ ihrer Zeit einzuordnen, auf diese Weise Wertungen zu historisieren, aber nicht auf sie zu verzichten. Gemessen an den damals existierenden Wertmaßstäben und Verfassungsgrundsätzen war der Nationalsozialismus ein „radikale[r] Bruch“ und Rückfall hinter auch in Deutschland längst erreichte Standards, eine „Verwerfung des normativen Erbes der Aufklärung“.
Die Frage, ob die Umwälzung in der DDR 1989/90 eine „friedliche Revolution“ gewesen sei, beantwortet Winkler positiv, rückt sie aber nachdrücklich und völlig zu Recht in den europäischen und weltpolitischen Kontext, also der Freiheitsbewegungen in den ostmitteleuropäischen Staaten und der Reformen Gorbatschows. Eine Besonderheit der DDR sei es gewesen, dass sie kein Nationalstaat, sondern ein „Ideologiestaat“ gewesen sei, gegen den durch ‚exit‘, also Ausreise in den anderen Teil Deutschlands (oder zumindest durch den Wunsch danach), votiert werden konnte. Die Systemkrise, wie sie auch den „klassischen“ Revolutionen voranging, habe schließlich „zum erfolgreichsten Systemwechsel [geführt], den es je in Deutschland gegeben hat“.
Winklers Einschätzungen verschiedener revolutionärer Umbrüche sind immer wieder auf die Pole „Realpolitik“ versus „Wunschdenken“ bezogen. Die Hoffnungen, die, oft erst rückblickend, in mögliche Siege der radikalen Kräfte gesetzt wurden, seien Ausdruck von Wunschdenken gewesen. Hingegen hätten sich die gemäßigten Realpolitiker nicht ohne Grund durchgesetzt. So sei es auch Wunschdenken gewesen, wenn man nach 1989 geglaubt habe, die Welt werde nun einem transatlantischen liberalen Entwicklungsmuster folgen. Bereits 1979 mit der Etablierung des Mullah-Regimes im Iran und anderen Ereignissen habe sich die Möglichkeit anderer Wert- und Ordnungsvorstellungen abgezeichnet. Heute sieht der Westen sich mit Politikern wie Xi Jinping und Putin konfrontiert, die eine „One World“ zu westlichen Bedingungen entschieden ablehnen und bekämpfen. Bestehen könne der Westen in diesem Konflikt nur, wenn er sich „selbstkritisch seiner Vergangenheit stellt […] und entschlossen ist, gemeinsam seine Werte gegen Bedrohungen von außen zu verteidigen“.
Zweifellos handelt es sich um ein sehr lesenswertes Buch, das als Überblicksdarstellung nützlich ist und durch manche Thesen zur Diskussion herausfordert. Kritisch zu fragen ist, weshalb dem Umbruch von 1968, der nicht nur viele Länder des Westens betraf, sondern auch in den Ostblock hineinwirkte und dessen Langzeitfolgen bis heute vielfältig nachweisbar sind, kein Kapitel gewidmet wurde.
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