Beeindruckender Lebensmut nach leidvoller Kindheit

Nell Zinks Ich-Erzählerin übersteht im Roman „Avalon“ auch eine prekäre Liebesbeziehung

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim Titel Avalon ist mir zuerst die britische Rockband „Roxy Music“ eingefallen; der Titelsong ihres Albums „Avalon“ begeisterte mich 1982 mit seiner Würdigung der wortlosen und konkreten menschlichen Begegnung im Tanz („Much communication in a motion, without conversation or a notion“). Danach aber rückte sogleich die „Apfelinsel“ Avalon als mythischer Ort der Artussage ins Gedächtnis. Die Kleinstadt Glastonbury in der englischen Grafschaft Somerset erhebt Anspruch auf diese Historie, doch dann müsste die Insel, auf der „Artus“ (König Arthur) im Jahre 500 verstorben sein soll, mitten im Inland gelegen haben.

Für den Roman von Nelly Zink ist das nicht wichtig, denn ihre Ich-Erzählerin Brandy („Bran“) Thomas hat Erinnerungen an einen Ostersonntag als kleines Mädchen im Hafenort Avalon auf der Insel Santa Catalina vor der Küste Kaliforniens. Der für den Roman typische salopp-ironische Ton stellt sich gleich auf der zweiten Textseite ein, wenn Bran hinter dieser Namensgebung für ein „Touristenfallen-Kaff“ einen Marketing-Trick vermutet.

Brans Mutter meinte dazu, Artus lebe in Avalon, aber „in echt“ gebe es ihn nicht. Sie selbst gab es für die Tochter bald auch nicht mehr, weil sie in ein tibetisch-buddhistisches Kloster zog. Unter den Büchern, die sie für Bran zurückließ, befand sich passenderweise Der König auf Camelot, ein mehrteiliger Roman des Engländers T. H. White über König Arthur.

Bran hat Probleme, ihre Kindheit chronologisch zu erinnern. Wichtiger als der zeitliche Ablauf ist für den Zugang zu diesem originellen, vertrackten, intelligenten und mit seinem lässigen Tonfall zuweilen nervenden Buch die eindringliche Darstellung des Schicksals der Ich-Erzählerin.

Nicht nur mutterlos ist Bran, sondern auch vaterlos, denn ihr Erzeuger ist nach Australien ausgewandert, als sie elf Monate alt war. Diese Rabeneltern haben ihrer Tochter so viel Intelligenz und Widerstandskraft vererbt, dass sie über die High School mit beeindruckendem Lebensmut den sozialen Aufstieg wenigstens ins unterbezahlte Künstlertum schafft.

Doch das dauert noch. Zunächst kommt Bran bei den Hendersons unter, die hinter der Fassade einer Baumschule schmutzige Geschäfte machen. Sie sind keine wirkliche „Pflegefamilie“, sondern beuten das Mädchen aus und kassieren dafür noch Kindergeld. Selbst so verachtenswerten Gestalten wünscht man allerdings mehr literarisches Profil.

Ist Brans Misere die ideale Ausgangssituation für einen Entwicklungsroman, der den Weg einer jungen Frau nach oben in Verwirklichung des „amerikanischen Traums“ schildert? Nicht für eine Autorin wie die jetzt in Deutschland lebende Nell Zink, die schon in mehreren Büchern ihre differenzierte Sicht auf die US-amerikanische Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht hat.

Dass aus der Heldin ausgerechnet und wieder einmal eine Schriftstellerin wird, eine Drehbuchautorin in diesem Fall, erklärt sich wohl daraus, dass kreativ Schreibende gehalten sind, über Umfelder zu schreiben, die sie kennen. Trotzdem wünschte man sich, jemand wolle mal Sportlehrerin oder Malerin werden.

Brans Schulfreunde gehen auf die eine oder andere Uni – außer Jay, der Flamencotänzer werden will und von seiner blinden Lehrerin nicht erfährt, dass er total unbegabt ist. Nell Zink schildert sein tragikomisches Scheitern in bildhafter Sprache. Bran ist ihm eine anhängliche Freundin, Sexualität spielt keine Rolle in ihrer Beziehung, und sie macht erst mit sechzehn Schluss mit ihm, nachdem er sie gebissen hat.

Wichtig in Brans Leben wird Peter, ein junger Intellektueller von der Ostküste, mit dem Jay sie bekannt macht. Erst da, auf Seite 52, erfahren wir Brans Namen. Sie verliebt sich Knall auf Fall in Peter, er aber ist mit einer „Märchenprinzessin“ aus Brunei verlobt. Dass Peters Hund auf den Namen Rabelais hört, dürfte an der mit falscher Romantik aufräumenden Ritterparodie Gargantua und Pantagruel von François Rabelais (um 1494-1553) liegen. Zudem vereinte der französische Schriftsteller sarkastischen Witz und Bildungsstreben so wie die Icherzählerin. Sie lässt sich auf hochgeschraubte Diskussionen mit sehr langem Atem ein, bei denen es um ihre Drehbücher oder um Adornos Buch Minima Moralia geht, das Peter ihr schenkt.

Wieso zieht Bran, die doch weiß, dass Peter die Prinzessin heiraten wird, zu ihm nach Harvard? Sie gesteht offen, warum sie die Hand nicht von der heißen Herdplatte nimmt. „Weil es so verdammt schön ist, sich die Finger zu verbrennen.“ Für Peter formuliert sie eine Liebeserklärung ganz eigener Art: „Ich lass mich lieber von dir verarschen als von irgendeinem anderen Mann im Universum.“ In einem Interview bekannte die Autorin, dass es sich um einen stark verschlüsselten autobiografischen Roman handelt.

Wie ihre Bekannten ist Bran viel unterwegs, sozial wie geographisch. Die letzte Fahrt im Roman führt sie zu einer schier endlosen Intellektuellen-Party, wo sie, wie „eine Einbrecherin vom Lande in unauffälliges Blau und Grün gekleidet“, ihr Opfer Peter auskundschaften möchte. Die Beziehung der beiden geht dort (für immer?) zu Ende. Peter will zwar seine Verlobung mit der Prinzessin auflösen, aber Bran keinen Heiratsantrag machen, weil er ja noch verlobt ist. Dermaßen albern entlarvt sich diese charakterschwache Intelligenzbestie.

Nell Zinks Roman Avalon zeichnet sich durch stilistische Eigenständigkeit bis zur Eigenwilligkeit und durch psychologische und soziale Klarsicht aus. Scharfe Selbstironie und bitterer Humor zeigen die Begrenztheit sozialer Aufstiegschancen im Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten. Die Icherzählerin Bran aber beweist, dass es dennoch lohnt, um die eigene Verwirklichung zu ringen.

Nell Zink nennt Victor Klemperers LTI, das beste Buch, das sie je gelesen hat. In einer kritischen Schaffensphase habe es ihr gezeigt, wie sinnvoll das Schreiben sein kann – ein beredtes Beispiel für die nachhaltige Wirkung großer Literatur.

Dem erfahrenen Übersetzer Thomas Überhoff ist es hervorragend gelungen, den zuweilen sperrigen Erzählton so sensibel wiederzugeben, dass er authentisch bleibt, ohne vom Lesen abzuschrecken.

Titelbild

Nell Zink: Avalon.
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
272 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003111

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