Der Pazifik im Anthropozän
Roland Borgards, Lena Kugler und Mira Shah legen mit „Pazifische Passagen“ eine umfangreiche Inselkulturbiogeographie des Großen Ozeans vor
Von Thomas Schwarz
In Melvilles Moby Dick heißt es vom Pazifik, dass der Indische Ozean und der Atlantik nur als seine Seitenarme zu betrachten seien. Dieses Meer mit seinen unzähligen Inseln sei das „Herz der Erde“. Aus dieser kartographischen Rezentrierung des Globus ergibt sich der Fokus des Insulariums des Großen Ozeans, das aus einem an der Goethe Universität Frankfurt angesiedelten Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft über Inselzeit hervorgegangen ist. Die Autorschaft teilen sich Roland Borgards, Lena Kugler und Mira Shah, die in diesem Projekt an der Schnittstelle von Pazifik-, Insel- und Tierstudien kooperiert haben.
Das Anliegen des Trios ist eine Erweiterung der Inselbiogeographie, in der es im Anschluss an Studien von Alfred Russell Wallace im Malaiischen Archipel, insbesondere auf Borneo, und von Charles Darwin 1835 auf den Galapagos-Inseln, um den Zusammenhang zwischen Geologie und Ökologie geht. Inseln dienen dieser Forschungsrichtung, die im 20. Jahrhundert maßgeblich von Robert H. MacArthur und Edward O. Wilson beeinflusst worden ist, als Laboratorien für evolutionsbiologische Prozesse. Die Frankfurter Forschungsgruppe strebt eine „Inselkulturbiogeographie“ an, die Inseln nicht nur als Kontaktzonen für interkulturelle Begegnungen zwischen Menschen, sondern auch zwischen diesen und nicht-menschlichen Spezies betrachtet. Untersuchungsgegenstand sind die Verflechtungen zwischen der Kulturgeschichte dieser Menschen und der geologischen Formation einer Insel im Zusammenhang mit den Entwicklungen der insularen Flora und Fauna.
Die Pazifischen Passagen dieses Buches verbinden eine Vielzahl akademischer Disziplinen. Es bietet Einblicke in die Produktion des Wissens über den Pazifik, in die Wissenschaftsgeschichte, und zwar aus der Perspektive einer an der Analyse von Narrativen geschulten Literaturwissenschaft. Das Insularium ist zugleich auch ein Bestiarium, das in 18 Kapiteln von Schildkröten auf den Galapagos über Seeottern in der alaskischen Inselwelt Sitkas bis hin zu Sauriern auf den fiktiven Orten Isla Nublar und Isla Sorna führt. Zeitlichkeit ist ein weiterer Themenschwerpunkt des Bandes. Der Aspekt einer Pluralisierung von Zeithorizonten im Pazifik wird anschaulich anhand der Konfusion erklärt, die auf Tahiti im Kalender entsteht, wenn dort europäische Schiffe aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen eintreffen.
Pazifische Inseln als Knotenpunkte eines globalen Verbindungsnetzes
Guam ist ein besonders interessanter Fall für dieses Insularium, weil dort der Kontakt mit Europa einen „Fast-Genozid“ nach sich gezogen hat. Shah problematisiert in ihrem Guam-Kapitel auch die Rhetorik, mit der die (Kolonial-)Biogeographie über historische Prozesse und biologische Entwicklungen auf der Insel spricht. Borgards Beitrag über Hawai‘i stellt E. T. A. Hoffmanns Briefnovelle Haimatochare (1819) in den Mittelpunkt. Er bringt diese Wissenschaftssatire in einen Zusammenhang mit der Übertragung von Geschlechtskrankheiten durch Cooks Südseeexpeditionen, die auf Hawai‘i zu einem mehr als dramatischen Rückgang der Präkontaktbevölkerung geführt haben. Dass es mit dem „Anbruch des Anthropozäns“ keinen „von Menschen unberührten Ort“ mehr auf der Erde gibt, zeigt Borgards anhand der abgelegenen Insel Juan Fernández respektive Isla Robinson Crusoe. Sein Beitrag ist ein Plädoyer dafür, die dort aus Europa eingeführten Tierarten (Ziegen, Hunde, Kaninchen) nicht länger als ‚invasiv‘ zu begreifen und im Namen des ökologischen Gleichgewichts mit einem biologischen Krieg zu überziehen, sie mithin nicht als „fremd“ zu diskreditieren, sondern als „neu in einem Gebiet“ zu akzeptieren.
Mit dem Übergang ins Anthropozän werden Pazifikinseln insofern zu exemplarischen Orten, als sich an ihrer Entwicklung mit ökokritischer Perspektive zeigen lässt, was dem Erdsystem insgesamt droht, wenn die Menschheit ihm ihren Stempel aufdrückt. Kugler befasst sich in einem ihrer Kapitel mit Nauru, das im Pazifikdiskurs (ähnlich wie die Osterinsel) aufgrund der Verwüstung der Insel im Zusammenhang mit dem Phosphatabbau als „Beispiel ökologischer und ökonomischer Exzesse“ gilt. Kugler kritisiert vereinfachende Narrative über Nauru, in denen es zu Kurzschlüssen in der Parallelisierung von kulturellen und biologischen Phänomenen kommt. Sie plädiert für eine historische Aufarbeitung, die sich auf die Komplexität der Geschichte Naurus einlässt. Die Insel erweist sich als Knotenpunkt einer globalen Wirtschaft. Sie ist im Kapitalozän wie in einem „Fadenspiel“ (Donna Haraway) mit der ganzen Welt verbunden. Das Guano der Vögel von Nauru hat die Insel in Form von Phosphat verlassen, um Böden überall auf der Welt zu düngen. Kugler geht nicht so weit, das Phosphat von Nauru als Kandidaten für den golden spike vorzuschlagen, der den Beginn des Anthropozäns markieren könnte, doch ihre Inselgeschichte zeigt, dass diese Insel schon seit längerer Zeit nicht mehr allein im Pazifik liegt.
Im Nachwort bekräftigen Borgards, Kugler und Shah, dass Menschen im „Zeichen des Anthropozäns“ immer am jeweiligen Geschehen auch auf den abgelegensten und selbst unbesiedelten Inseln beteiligt sind, wenn zum Beispiel der Meeresspiegel steigt. Der Pazifik sei die „Arena“, in der „die Probleme der Moderne und die anthropozänischen Bedingungen der Gegenwart früh erkennbar oder sogar produziert werden“. Die „Ausbeutung pazifischer Ressourcen“ wie dem Phosphat demonstriere die „Interkonnektivität einer zunehmend globalisierten Welt“ und eine „teilweise bedenken- und rücksichtslos betriebene Umweltzerstörung“. Im Anschluss an den Anthropologen Epeli Hau‘ofa fordern sie dazu auf, den Pazifik als ein Netz von Inseln zu denken, wie es der polynesische Navigator Tupaia auf einer Karte für Cook kooperativ entworfen hat, um Europäern die Konnektivität pazifischer Inselwelten begreiflich zu machen. In dieser Tradition steht auch dieses Insularium, als eine „Assemblage von Wissen“ in der Form einer „Nissopoiesis“, also von Insel-Erzählungen, die „Passagen durch das Inselmeer des Großen Ozeans“ öffnen möchten.
Für eine inselkulturbiogeographische Nissopoiesis
Nicht immer ist für den Rezensenten bei der Lektüre deutlich geworden, welche Elemente des narrativen Inseldiskurses in diesem Buch den Ansprüchen der postkolonialen Kritik am imperialen Zugriff Europas auf den Pazifik standhalten und welche auf der Metaebene einer Kritik an der Rhetorik und Darstellungsweise der jeweils behandelten Autoren verfallen. Ist das Buch Kollaps des Evolutionsbiologen Jared Diamond für Kugler eine zuverlässige Quelle für das eigene Anliegen oder gehört es in den Narrativ-Mülleimer? Wer anderen Simplifizierung oder auch einen biologistischen Duktus vorwirft, legt die Messlatte für die eigene inselkulturbiogeographische und nissopoietische Schreibweise entsprechend hoch.
Der umfangreiche Apparat nimmt fast ein Drittel des Bandes ein. Dennoch würde ich vorschlagen, noch zwei weitere Autoren in die Literaturliste aufzunehmen. Wer sich mit unterschiedlichen historischen Darstellungen konfrontiert sieht, dem bieten die zuverlässigen Arbeiten des Inselhistorikers Steven Roger Fischer Orientierung. Für diesen Band einschlägig wären auch Johann Georg Forsters Observations Made During a Voyage Round the World (I778). Forsters Theorie der Formation hoher Inseln durch Vulkane und flacher Tropeninseln durch Korallen geht dem im Buch diskutierten Ansatz von Eberhard August Wilhelm von Zimmermann (1783) und den entsprechenden Überlegungen Otto von Kotzebues und Darwins voraus. Darüber hinaus präfiguriert Forsters Unterscheidung zweier Varietäten der menschlichen Spezies in der Südsee spätere Ausdifferenzierungen von Polynesien und Melanesien, die im Buch d’Urville zugeschrieben werden. Die Übersetzung von Antonio Pigafettas Bericht über Magellans Weltumsegelung durch Robert Grün muss durch eine kritische Edition ersetzt werden, mit entsprechenden Änderungen im Haupttext. Grün auszuwerten wäre auch ergiebig, aber nicht als historische Quelle, sondern als ein aufgeblasenes Narrativ, das der Dekonstruktion sicher ein weites Feld böte.
Wenn Adelbert von Chamisso die gewaltsame „Verminderung“ der Chamorro auf Guam bedauert, wird er von Shah der ‚imperialen Nostalgie‘ und der rousseauistischen Verklärung des ‚edlen Wilden‘ bezichtigt. Er wird hier in einen Topf geworfen mit Adolf von Bastian, für den der Vorwurf zutreffen mag. Mein Vorschlag wäre, einen Quellennachweis für ein koloniales Begehren auf der Seite von Chamisso zu erbringen, aus dem hervorgeht, dass er als Agent russischer imperialer Interessen mit seiner Elegie die koloniale Machtausübung der Spanier herabwürdigt, damit Russland Spanien als Kolonialmacht ersetzen kann. Borgards macht die Aleuten zur Heimat von Chamissos wichtigstem Informanten Kadu. Er nennt ihn „Läuse-Aleut“, der seine Läuse auf Hawai‘i verbreite. Kadus Heimat sind die Karolinen, Chamisso hat ihn auf den Marshall-Inseln kennengelernt. Hier begegnen sich zwei Weitgereiste auf Augenhöhe, und ein entsprechend respektvoller Umgang mit Kadu sei auch dem Autor dieser Interpretation nahegelegt.
Diese Monita sollen die Leistung des Teams, das dieses Werk verfasst hat, nicht schmälern. Die Beiträge sind durch zahlreiche rote Fäden verlinkt und Wiederholungsschlaufen erlauben es, jedes Kapitel auch unabhängig von den anderen zu lesen. Der Band verdeutlicht anhand der Inselbiogeographie, dass der Pazifik ein Konstrukt der aufstrebenden europäischen Sciences ist und dass sich diese Tradition auch in den Pazifiknarrativen der Gegenwart geltend macht. Konzeptuell auf der Höhe der Zeit ist dieses Insularium insofern, als es Pazifikstudien und die Auseinandersetzung mit dem Anthropozän in Verbindung bringt. Die Passagen von Borgards, Kugler und Shah fordern zu einer reflektierten interdisziplinären Annäherung an das Thema der pazifischen Insularität auf.
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