Über DDR-Soaps und ein Roadmovie
Eine verpasste Chance: Clemens Meyers Essay „Über Christa Wolf“ in der Reihe „Bücher meines Lebens“
Von Hannelore Piehler
Sie glaubte stets an die lebensverändernde Macht von Büchern. „[I]ch, ohne Bücher, bin nicht ich“, schrieb Christa Wolf 1968 in ihrem Essay „Lesen und Schreiben“, nachdem sie in einem Gedankenexperiment versucht hatte, einmal durchzuspielen, was ihr fehlen würde, wenn einfach wie „durch Zauberschlag“ jede Spur ausgelöscht würde, „die sich durch Lesen von Prosabüchern in meinen Kopf eingegraben hat.“ Und sie glaubte an die Bedeutung des Engagements von Autor:innen, mischte sich ein. In zahlreichen Reden, Essays, Interviews äußerte sie sich auch zu gesellschaftspolitischen Fragen, in ihrer Prosa sind die „sozialen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte verankert“ (Sonja Hilzinger). Keine Frage, dass Christa Wolf die perfekte Autorin ist, um ihr eine Ausgabe in der Reihe „Bücher meines Lebens“ zu widmen. In der von Volker Weidermann herausgegebenen Reihe geht es, so heißt es beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, „um Begeisterung, um die lebensverändernde Kraft von Büchern und darum, welche Romane herausragende Autorinnen und Autoren zu den Menschen gemacht haben, die sie sind“.
Umso enttäuschender ist jedoch das Ergebnis, das der Leipziger Autor Clemens Meyer (Als wir träumten) vorlegt, zumindest, wenn man gehofft hat, dass sich der Band tatsächlich um Christa Wolf und ihren Roman Kindheitsmuster dreht. Dessen fleckige, zerknitterte Taschenbuchausgabe nahm Meyer in seinen Jahren als Bauarbeiter Mitte der 1990er Jahre täglich mit auf die Baustelle, um in der Mittagspause darin zu lesen. Warum aber ausgerechnet Kindheitsmuster von dem jungen Clemens Meyer zwischen Staub und Zement aus der Tasche geholt wurde, was ihn daran so fesselte beziehungsweise warum es sich dabei um doch zumindest eines der Bücher seines Lebens handelt, vermag man als Leser:in nach der Lektüre des kleinen Bandes Über Christa Wolf trotz aller Ausführungen nicht wirklich zu sagen. Wo Mithu Sanyal in ihrem Band der Reihe mit einer Leidenschaft und Passion über Emily Brontë schreibt, dass man am liebsten sofort eine Ausgabe von „Wuthering Heights“ zur Hand nehmen möchte, bietet Meyer eher Anekdoten, Vor- und Querverweise („Aber dazu später mehr“, „auch dazu gleich mehr“) und vor allem Exkurse zu anderen DDR-Schriftstellern, von Werner Heiduczek über Franz Fühmann bis Hermann Kant. Letztendlich dient Christa Wolf dem 46-jährigen Autor nur als Aufhänger, um allgemein über DDR-Literatur zu schreiben, über die Frage, was davon überdauern wird, und auch über den eigenen Werdegang als Autor. Dass Christa Wolf damit ausschließlich als DDR-Autorin gelesen wird, ist schade. So wird zwar auch auf die Moskauer Novelle und der Geteilte Himmel rekurriert – ein im Jahr zwei des Angriffskrieges gegen die Ukraine hoch aktuelles Buch wie Kassandra jedoch kaum erwähnt.
Dabei bemüht Meyer sich in seinem Essay – als innerer Monolog mit einer Bronzebüste von Christa Wolf, die in seinem Arbeitszimmer steht, aufgebaut – um einen lockeren Ton: „Kindheitsmuster“ wird in der Folge bei Meyer zum „Roadmovie“, zentrale Ereignisse in der DDR und ihrem Kulturbetrieb wie das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED 1965, bei dem die SED versuchte, Autor:innen und Künstler:innen auf Parteilinie zu bringen, werden zur „Soap“. Die (fast) vergessenen DDR-Autor:innen, an die Meyer in seinem Text noch einmal erinnert, stellt er nach Art eines Registers mit Kurzbeschreibungen und Anekdoten vor. Nicht nur davon wären jedoch einige besser unerwähnt geblieben (der Sex von Friesʼ, „kleinwüchsig […] auf Holzstapeln stehend im Garten“), sondern auch manche der Erläuterungen wirken eher gewollt witzig („Kant, Hermann. Nicht zu verwechseln mit Kant, Immanuel“).
Am Ende bleibt von der Lektüre des Bandes Über Christa Wolf gar nicht so sehr viel Christa Wolf – und damit eine verpasste Chance, diese Autorin und die anhaltende Kraft und Aktualität ihrer Bücher zu würdigen.
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