Viel mehr als nur ein Stasi-Roman
In „Gittersee“ lässt Charlotte Gneuß die DDR der 70er Jahre lebendig werden
Von Martin Schönemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür mich als Ostdeutschen, Jahrgang 1964, erschien es, als wäre Ulrich Plenzdorf, der Kultautor meiner Jugendjahre, noch einmal zum Leben erwacht. So unbekümmert frisch spricht die DDR-Jugend der 70er Jahre aus dem Roman Gittersee, und ebenso präzise wie einst Plenzdorfs Texte schildert der Roman die gesellschaftliche Atmosphäre dieser Zeit.
Tatsächlich ist es das Debüt der dreißigjährigen, aus Schwaben stammenden Charlotte Gneuß, die in Dresden und Leipzig studiert hat, das beschriebene Milieu aber nur aus den Erzählungen ihrer Eltern und Verwandten kennt. Ihr gelingt das Kunststück, indem sie eine Jugendliche als Erzählerin einsetzt. Diese blickt unvoreingenommen und übermütig auf die Welt. Gleichzeitig ist sie ungewöhnlich verantwortungsvoll und registriert entsprechend genau, was um sie herum vorgeht.
Es ist die 16-jährige Karin, die in dem titelgebenden Gittersee wohnt, einer Bergbau- und Industrievorstadt von Dresden. Am Beginn der Geschichte begibt sich Paul, ihr etwas älterer Freund, mit seinem Freund Rühle auf eine Wochenendreise in die Tschechoslowakei zum Klettern. Karin soll mitkommen, wagt aber nicht, ihre Eltern und familiären Verpflichtungen hinter sich zu lassen. Nach dem Wochenende bleibt Paul verschwunden, die Polizei verhört Karin, es ist von Republikflucht die Rede. Gerüchte über Pauls Tod kommen auf. Karin, die aus einer ziemlich desolaten Familie kommt, findet Halt bei dem Stasioffizier Wickwalz, der sie mehr und mehr in seinen Bann zieht: Sie verrät ihre beste Freundin an Wickwalz, träumt von einer beruflichen Karriere bei den Sicherheitsorganen. Erst am Ende erkennt sie, wie sehr sie der Stasimann instrumentalisiert, also verraten hat.
Der Plot zeigt deutlich: Es ist eine Stasi-Geschichte. Das war auch die erklärte Intention der Autorin. Sie wollte jenseits der üblichen Dämonisierung zeigen, wie Jugendliche in die Fänge der Stasi und zum Spitzel werden konnten. Gneuß hat das offensichtlich gut recherchiert. Das Nach-Wende-Wissen über die Abläufe des Spitzelunwesens, die konspirativen Treffpunkte, die pingelige Interpretation entwendeter Schriftdokumente oder das gegenseitige Aufeinander-Ansetzen verschiedener Spitzel, fließen historisch korrekt in die Geschichte ein.
Der Roman erschöpft sich jedoch nicht darin, es ist kein bloßes DDR-und-Stasi-Diskutier-Buch. Gittersee beeindruckt mit einer genauen Milieuzeichnung – von optischen Details über die Alltagsgedanken der Protagonistin, die Alltagsdialoge, die sie führt, bis hin zu den Geräuschen, die sie hört. Dabei ist die Detailfülle alles andere als oberflächlich: Wenn sich in einer beiläufig erwähnten Szene die Lehrerin zu der bedrängten Karin setzt, wird nahezu körperlich spürbar, wie hilflos die Erwachsene ist. In noch kleineren Bemerkungen gibt es dann Hinweise auf die Ausbürgerung Biermanns und die Selbstverbrennung Brüsewitz’, die nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun haben, aber die die Verhärtung der gesellschaftlichen Situation assoziativ verdeutlichen.
Viel mehr als um die politische Situation geht es um die Jugendlichen, die unter ihr leiden, jedoch von den Erwachsenen unwissend gehalten werden: Die Eltern verweigern Informationen zur Familienkonstellation und -geschichte, in der Schule wird Karin zum Direktor gerufen, findet unerwartet ihren Stasioffizier auf dem Direktorenstuhl sitzend vor, und der Geliebte Paul wagt es nicht, Karin in seine Fluchtpläne einzuweihen. Dieser schmerzhafteste Verrat ist es ja, der Karin in die Fänge der Stasi treibt.
Eine Rolle spielt dabei auch Karins Familie. Diese bietet der Heranwachsenden keinerlei Schutz. Der Vater ist liebevoll, aber brav und handlungsunfähig wie ein kleines Kind, die Scham darüber ertränkt er im Alkohol. Die Mutter drängt es aus der ungeliebten Ehe hinaus in die Ferne, ihre Verantwortlichkeiten überlässt sie ihrer Tochter. Der tatkräftigen Oma, die den Haushalt zusammenhält, geht es nur um den Gehorsam. Es ist also keineswegs eine DDR-Durchschnittsfamilie, wie über Gittersee schon zu lesen war – so wie ja zum Beispiel die Buddenbrooks keine Durchschnittsfamilie des bürgerlichen 19. Jahrhunderts waren – sondern eine Familie, in der die Probleme der Zeit verdichtet zum Roman werden. Die Autorin zeichnet in ihr das Bild einer Gesellschaft, die von Gewalt und Diktatur geprägt ist, und damit ist nicht nur die DDR gemeint: Beide Großväter wurden aus politischen Gründen inhaftiert – der eine vor, der andere nach 1945 – die Großmutter handelt nach nationalsozialistischen Maximen, die Eltern wirken verängstigt und wenig souverän.
Es sind vor allem die Männer, die unter der gesellschaftlichen Situation versagen: Da ist der feige Trinker-Vater, da ist der unehrliche Geliebte (und dessen Freund Rühle treibt auch ein doppeltes Spiel mit Karin), da ist der Direktor, der seinen Chefsessel nicht einnimmt, und da ist der völlig verwahrloste Hausmeister – Karin begegnet ihm in einer erschütternden, fast surreal wirkenden Szene in seiner vermüllten Wohnung voller Katzen und leerer Flaschen. Sie alle überlassen die Bühne dem hübschen, verlogenen, fürsorglich tuenden Intriganten: Der Geheimdienstoffizier handelt, wo die anderen Männer ausfallen. Ein kluges Fazit.
Es irritiert an Gneuß’ Roman nur ein wenig, dass er so gekonnt, frisch und locker erzählt wird. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein flotter Jugendroman mit ein bisschen DDR-Grusel – wer ihn zu schnell liest, liest leicht über die wirklich erhellenden Stellen hinweg. Mir ging es beim Lesen mehrfach so, dass ich erst ein paar Seiten später aufmerkte: Moment, was hab ich da gerade gelesen? Offenbar schreibt Gneuß mit einem gewissen understatement – wie gut ihr Roman ist, erschließt sich erst, wenn mensch ihn eine Weile auf sich wirken lässt.
Insofern ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass sich an dem Text eine kleine Feuilletondebatte entzündete, die wenig mit dem Buch und gar nichts damit zu tun hat, was dieses Buch so lesenswert und ergiebig macht: Es ging um mutmaßliche Vorwürfe Ostdeutscher oder heimlicher DDR-Freunde, Charlotte Gneuß als in Westdeutschland Geborene dürfe nicht über die DDR schreiben. Schnell stellte sich heraus, dass es solche Vorwürfe nicht gibt. Das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatte die Vermutung aufgebracht, wie um nachträglich Dirk Oschmanns bekanntes Diktum von Ostdeutschland als westdeutsche Erfindung noch einmal zu bestätigen. Dem Roman von Gneuß hat die oberflächliche Debatte wohl kaum geschadet – und sollte sie ihm genutzt haben, so ist das diesem klugen Text und seiner Autorin nur zu gönnen.
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