Wie Normalität produziert wird

Jürgen Links "Versuch über den Normalismus"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Revolution in der mittlerweile untergegangenen DDR 1989 und die Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik 1990 haben dem Begriffsparadigma der "Normalität" eine starke Rekurrenz im medienpolitischen Raum beschert. Trotz der in den siebziger und achtziger Jahren verstärkt geführten Sonderwegdebatte und des inzwischen als "normal" und erfolgreich betrachteten Bonner "Provisoriums" wurde, als sich "drüben" die Grenzen öffneten, sofort die Wiederherstellung eines nationalstaatlichen Normalzustandes betrieben, ungeachtet der Tatsache, daß es ihn so zuvor nie gegeben hat.

Bis zum Beginn der achtziger Jahre war die Wiedervereinigung als Form nationalstaatlicher Normalisierung aus der öffentlichen Debatte so gut wie verschwunden. Die Bonner Republik hatte sich gut eingerichtet, es war ihr gelungen, die notorisch quengelnden Vertriebenenverbändler ruhigzustellen und ihre Forderungen im politischen Ritual zu entkräften. Ende der siebziger Jahre kamen dann vereinzelt Stimmen aus anderen Lagern auf, die bekannteste vielleicht von Martin Walser, den Status quo nicht als Normalität zu begreifen.

Die Wiedervereinigung der beiden Nachfolgestaaten des "Dritten Reiches" wurde dann als logische Folge des Zweiten Weltkrieges und Wiederherstellung deutscher Normalität bewertet, mit drei Ausnahmen: 1. Die Vereinigung unter dem Dach des Grundgesetzes wurde von Teilen der Bevölkerung als nicht-normale Vereinnahmung interpretiert; west- und ostdeutsche Intellektuelle ging die Vereinigung zu weit, sie forderten die "Wiederherstellung Deutschlands in seinen Grenzen von 1989". 2. Den Vertriebenenverbänden ging die Vereinigung nicht weit genug; sie betrachteten den so geschaffenen Normalzustand als defizitär, da er ihre "Heimat" nicht berücksichtigte. 3. Der Vereinigungsprozeß selbst, die Aufarbeitung der DDR-Diktatur, die Angleichung der Lebensstandards und der Lohnniveaus konnten bis heute nicht so weit vorangetrieben werden, daß im öffentlichen Bewußtsein von einer normalen Integration gesprochen würde.

Immerhin werden die Indikatoren für die deutsche Normalität auf anderen Feldern gesucht, die Holocaust-Mahnmal-Debatte und die Bubis-Walser-Debatte sind Beispiele dafür. Und es ist sicherlich kein Zufall, daß es ausgerechnet wieder Martin Walser war, der die Normalität deutscher Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit in Abrede stellte und hier wiederum vor allem den medienpolitischen Diskurs verantwortlich machte.

Seit etwa zehn Jahren wird also über das Begriffsparadigma der Normalität verstärkt nachgedacht, und Jürgen Link, Literaturwissenschaftler in Dortmund, ist es zu danken, daß er mit seiner Studie die "Normalität" aus dem toten Winkel der theoretischen Reflexion geholt hat. Seine analytisch-deskriptive Monographie aus zehn Kapiteln zeigt begriffsgeschichtlich, daß von "Normalität" erst seit dem 18. Jahrhundert sinnvoll gesprochen werden kann. Um 1800 konstituieren sich die später als Humanwissenschaften bezeichneten Fächer und es vollzieht sich der Wechsel vom "taxonomischen" zum "historizistischen" Denken. Michel Foucault hat das eingehend dargestellt. Zuvor ist das Begriffsfeld besetzt durch protonormalistische Begriffspaare wie "Gleichgewicht/Ungleichgewicht", "Identität/Nicht-Identität", "gesund/krank", "legitim/illegitim", "schön/häßlich", "natürlich/unnatürlich" usw. Nicht Normalität ist hier der Bezugsrahmen, sondern Normativität.

Das 19. und 20. Jahrhundert bezeichnet Link als "Epoche des Normalismus". In dieser Epoche entfalten sich im akademischen Raum, getragen durch die seit 1800 institutionalisierte Statistik (auch Moralstatistik) und Empirie, diverse Spezialdiskuse und vernetzen auch die Erfahrungswissenschaften. Die traditionelle Psychologie wird von Link als im Grunde protonormalistisch und "typologisch" eingestuft. Sie hat, ebenso wie der Spezialdiskurs der Psychoanalyse, keinen Anteil an der Herausbildung des Normalismus. Die Diskontinuität, Heterogenität und Pluralität der vielen "Typen" von "Geisteskrankheiten" widerspricht den Prämissen des Normalismus. Eindrucksvoll charakterisiert Link den Kölner forensischen Psychiater Paul Bresser, der sich 1965 mit einer Arbeit über die Begutachtung jugendlicher Rechtsbrecher habilitierte. Bresser ist ein Vertreter jener "Geistes- und Charaktertypologie", die "psychosomatische Persönlichkeiten" nach Art einer Industrienorm klassifiziert. Anhand Bressers erläutert Link die für seine Untersuchung zentrale Differenz zwischen "Protonormalismus" und "Flexibilitätsnormalismus": Der Protonormalismus orientiert sich an präexistenten Normen. So vertritt Bresser noch 1965 die Auffassung, daß Homosexualität wesenhaft abnorm und die "natürliche" Sexualität auf Zeugung ausgerichtet sei. Es ist klar, daß Bresser die Erkenntnisse der Statistik ablehnen muß, die ergeben haben, daß sich zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung homosexuell verhalten. Mit diesem statistischen Wissen arbeitet aber der flexible Normalismus, indem er aus den erhobenen Zahlen die Normen "errechnet" und es den "Individuen" überläßt, "ihr Verhalten aufgrund ihres Wissens über die Statistik selbst zu adjustieren".

Die Geschichte der Normalität bekommt mit Freud eine neue Wendung. "Wir glauben nicht mehr", schreibt er in seinem Aufsatz "Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci" (1910), "daß Gesundheit und Krankheit, Normale und Nervöse, scharf voneinander zu sondern sind." Gleichwohl läßt diese protonormalistische Begriffsverwendung darauf schließen, daß Freuds Psychoanalyse im strikten wissenschaftlichen Sinne in die Entfaltung des Normalismus nicht integrierbar ist. Bei Freud, argumentiert Link, gerate das Normale "in Anführungszeichen". Beispielhaft wird der Beitrag der Psychoanalyse zum flexiblen Normalismus anhand der amerikanischen "Therapiekultur" beschrieben, die eine "Therapierung der Normalen" betreibt und - im Unterschied zum Protonormalismus mit seiner "Außensteuerung und Dressur" - tendenziell die gesamte Gesellschaft erfaßt. Link referiert hier auf Robert Castel, der die Aufgabe der Psychoanalyse darin sieht, "die beiden grundsätzlichen Anforderungen an eine `moderne Politik der geistigen Gesundheit´ zu übernehmen: erstens den absoluten Charakter des Einschnitts normal/pathologisch der alten psychiatrischen Symptomatologie aufzubrechen, um in den Übergangszonen greifen zu können, wo die Grenzen von Anormalität und mangelnder sozialer Anpassung sich verwischen; zweitens die Langzeitproblematik in den Griff zu bekommen, das Risiko einer Pathologie während der Latenz zu antizipieren, um den Übergang von der Repression a posteriori zur Prävention a priori zu gewährleisten."

Jürgen Link, von Haus aus Literaturwissenschaftler, analysiert in seinem Buch auch literarische Texte. In den "(Nicht) normalen Fahrten" analysiert er unter anderem Texte von Hans Magnus Enzensberger (1965) und Rainald Goetz, Bernward Vesper und Adelbert von Chamisso, Emile Zola und Céline. In Hans Magnus Enzensbergers Gesellschaftsmetapher vom "Untergang der Titanic" sei die "Normalität der Katastrophe" als Grundprinzip der High-Tech-World beschrieben. In einem Exkurs über "Festung" (1993) entwickelt Link die These, daß Rainald Goetz in seinem Theatertext "Café Normal" einen neuen Typ von Montagetechnik entwickelt habe, der keine vorgängige Sortierung von Ideologemen mehr gestatte: hier ist alles normal.

Einziges Handicap dieser Arbeit, die verschiedene Modelle der Normalität (von Georges Canguilhem über François Ewald und Jacques Donzelot bis hin zu Marc Guillaume, Ulrich Beck und Niklas Luhmann) beschreibt und eine "subjektivitäts- und symbolanalytische Schlagseite" entwickelt, ist ihr problematischer Stil. Beispiel: "Für das Praktiziertwerden sprechen die auf Dynamik zielenden Dressuren mittels Konkurrenzen."

Titelbild

Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1997.
450 Seiten, 37,80 EUR.
ISBN-10: 3531128809

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