Politik und Dichtung
Hans-Michael Speier hat wieder ein Celan-Jahrbuch vorgelegt
Von Wilfried Ihrig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas neue Celan-Jahrbuch versammelt Forschungsaufsätze auf Deutsch, Französisch und Italienisch, kurze Essays und Rezensionen, auch eine über einen englischsprachigen Tagungsband. Unter den Beiträgern finden sich bekannte Namen wie Bertrand Badiou und Barbara Wiedemann neben weniger bekannten Forschern wie dem ukrainischen Germanisten Petro Rychlo, der in Celans Geburtsstadt Czernowitz lehrt, und der russischen Schriftstellerin Maria Stepanova, Berlin, deren Essay übersetzt wurde. Dadurch wird die Internationalität der Forschung zu Celan wiedergegeben. Ein Nachruf für die Celan-Forscherin Marlies Janz beschließt den Band.
Eröffnet wird er mit einem Aufsatz über Celan und Paul Klee. Der bulgarische Literaturwissenschaftler Germinal Civikov, der als Autor in den Niederlanden lebt, beweist anhand von Notizen den unbekannten Bezug eines Gedichts von Celan auf ein Bild von Klee, mit dem Celan bisher nicht in Zusammenhang gebracht wurde. Dadurch wird ein anscheinend noch nie gedeutetes Gedicht durch eine Quelle zugänglich und die Fülle der auf diese Art deutbaren Gedichte ergänzt. Prägende Bedeutung für Celans Gesamtwerk hat Klee, wie die meisten Künstler und Lyriker, auf die sich Celan einmal bezogen hat, allerdings nicht.
Das Jahrbuch ist erfreulich politisch. Als jüdischer Emigrant aus einem deutschsprachigen Gebiet von Rumänien mit prägenden Erfahrungen durch den Nationalsozialismus wird Celan häufig mit den antikommunistischen Dissidenten aus osteuropäischen Ländern in einen Topf geworfen. Tatsächlich verstand er sich als Kommunist, vermutlich einer der Gründe, weshalb er nicht in dem Deutschland leben wollte, das seine Bücher veröffentlichte, aber die Kommunistische Partei verboten hatte. Celans kommunistische Überzeugung, in der BRD geradezu systematisch verschwiegen, wird von Barbara Wiedemann und Maria Stepanova thematisiert. Unter den politischen Themen findet man auch den ausführlichen Bericht über einen antisemitischen Zwischenfall bei einer Lesung in der BRD, zwei kurze Essays über die berühmt-berüchtigten Gespräche mit Heidegger und einen Aufsatz zu Celan und Peter Weiss über Dokumentation und Dichtung nach dem Auschwitz-Prozess.
Größere Interpretationen und poetologische Kommentare zu einzelnen Werken bieten Giulia Puzzo zu dem fragmentarischen Zyklus Eingedunkelt, Sieghild Bogumil zu dem Gedicht Corona und Badiou zu einem poetischen Imperativ. Puzzo erforscht die Anspielungen auf Homer, Badiou gibt einen souveränen Kommentar zu einem Motiv, das in Celans Gedichten häufig wiederkehrt. Die wiederholte Vorstellung des Gedichts Corona in einem Aufsatz und in einer Rezension gilt einem bekannten Text, sie wirkt etwas makaber, auch wenn man sie liest, als entlarve sie unfreiwillig die wie immer ungelenken Begriffsbildungen der Medizin.
Weniger ausführliche Ansätze für die Interpretation einzelner Gedichte findet man in Passagen zu den berühmten Gedichten Huhediblu, mit der Anspielung auf die nationalsozialistische Literatur, zu Eine Gauner- und Ganovenweise, mit der Anspielung auf Villon und den Galgen, und zu ein dröhnen, mit dem Zitat von George und dem politischen Kontext seiner Entstehung, aber natürlich auch zu vielen anderen Gedichten.
Was das Jahrbuch nicht enthält, ist ein Vorwort, eine Bibliographie der Neuerscheinungen zu Celan, wie sie früher versucht wurde, und eine Ankündigung, wann der nächste Band zu erwarten ist. Es erscheint in unregelmäßiger Folge, nicht in jedem Jahr wie der Titel erwarten lässt, der neue Band ist erst der zwölfte seit 1987. Die ersten neun Bände wurden bis 2007 in Heidelberg im Winter Verlag veröffentlicht, die nächsten Bände nach einer längeren Pause ab 2018 im Verlag Königshausen & Neumann. Man erfährt nicht, weshalb keine Bibliographie aufgenommen wurde, vielleicht weil die Bibliographen inzwischen kapituliert haben, vielleicht weil die Bibliographie den Rahmen des Bandes gesprengt hätte, vielleicht weil es zu vermessen erschien, ihn durch eine Bibliographie als repräsentativ für die Forschung darzustellen.
Damit ist ein grundlegendes Problem angedeutet. Es gibt bisher kein Medium, das in jedem Jahr über den Forschungsstand zu Celan informiert. Im Jahr 2019 wurden auch noch die Celan-Perspektiven begründet, herausgegeben von Bernd Auerochs, Friederike Felicitas Günther und Markus May, als Jahrbuch im Winter Verlag. Auch wenn sie sich nicht unbedingt Konkurrenz machen, wird wohl keines der Jahrbücher für sich beanspruchen, den einzig gültigen Überblick über die Forschung zu geben. Dadurch ist auch keines ein zentrales Medium der Forschung, wie die meisten Jahrbücher, die für andere Autoren ediert werden. Der Grund ist vermutlich, dass es keine Paul-Celan-Gesellschaft gibt, in der sich Forscher verständigen und ein zentrales Medium herausgeben könnten. Es gibt viele Forscher in vielen Ländern, Forschungsstellen in Czernowitz, Bukarest, Paris, eine kleine Paul-Celan-Gesellschaft in den Niederlanden, die Publikationen auf Niederländisch fördert und nur von nationaler Bedeutung ist, aber keine repräsentative Paul-Celan-Gesellschaft, wie sie angemessen wäre.
Von den Ländern, die für die Gründung einer repräsentativen Paul-Celan-Gesellschaft infrage kämen, Rumänien, Deutschland, Frankreich, vielleicht auch Österreich, wird keines wie selbstverständlich beanspruchen können, dass es zuständig wäre. Am längsten gelebt hat Celan in Frankreich, geschrieben hat er auf Rumänisch und Deutsch, seine Bücher erschienen in Deutschland. Frankreich wäre wenig geeignet für einen Autor, der überwiegend deutsch geschrieben hat, es hat ihn auch noch zum Psychiatrieopfer gemacht; eine Gesellschaft in Deutschland müsste sich bis an die Grenze der Pietätlosigkeit wagen, da er nicht in Deutschland leben wollte. Vielleicht bleibt das Problem ungelöst, vielleicht wird nie eine repräsentative Paul-Celan-Gesellschaft gegründet.
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