Auch das war die Bundesrepublik oder: Wie Vergangenes als Geschichte vergegenwärtigen?

Mit Ewald Fries „Ein Hof und elf Kinder“ zu Gast bei einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland der 1940er bis 1970er Jahre

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum eine weitere Besprechung eines Buches vorlegen, das seit mehr als einem Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste „Hardcover Sachbuch“ steht, das im Juni 2023 mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde, das Ende letzten Jahres in der 15. Auflage erschien und das schon oft besprochen worden ist – vermutlich durchweg positiv bis begeistert?

Gewiss zum einen, um auch noch ‚den Letzten‘ auf ein Buch aufmerksam zu machen, das, ohne wissenschaftlichen Jargon und vielmehr in flüssig zu lesendem ‚gutem Deutsch‘ geschrieben, auf gerade einmal 160 Textseiten nicht nur inhaltlich viel Wissens- und Erinnernswertes zu bieten hat, sondern das auch von der (hoch reflektierten) Schreibhaltung her überzeugt und vom methodischen Ansatz her Anstöße gibt. Ein über weite Strecken unterhaltsames Buch aus der oft bzw. von Vielen als dröge und museal empfundenen Disziplin Geschichtswissenschaft – der Bauernsohn Ewald Frie ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen –, das ist doch einmal etwas, auf das gegebenenfalls auch überflüssiger Weise ein weiteres Mal hingewiesen werden kann.

Eine weitere Besprechung dieses Buches zum anderen aber auch, um nicht nur auf dessen offensichtliche Verdienste aufmerksam zu machen, sondern auch – möglicherweise war das noch nicht so oft der Fall – nach dessen Grenzen, das heißt nach dessen Ausblendungen, Reichweiten und perspektivischen Verkürzungen sowie, ganz grundsätzlich, nach der sich an Erkenntnisfülle und nachhaltiger Erkenntnisvermittlung bemessenden Leistungsfähigkeit dieses Typs von Sachbuch zu fragen.

Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis des Buches überrascht angenehm. Kein komplexes, mehrseitiges, trotz (oder vielmehr aufgrund?) aller Begriffsschärfe und aufwändiger Gliederung eher als Suchbild daherkommendes sprachliches und optisches Ungetüm, sondern ein beinahe karg anmutendes und geradezu ‚einsilbiges‘ Gebilde, durch das man sich auf einen Blick informiert fühlt. Hier, wie auch in stilistischer und methodischer Hinsicht, dürften Praktiken aus dem anglo-amerikanischen Raum Pate gestanden haben. Fünf lakonisch mit „Familie, Bauerschaft und Dorf“, „Die Jahre meines Vaters“, „Die Jahre meiner Mutter“, „Auszug“ und „Nachwelten“ überschriebene Kapitel, dazu 3, 4 schlichte Unterpunkte wie „Züchten“, „Arbeiten“, „Glauben“ und „Feiern“ im Falle der Vaterjahre – damit hat es sich, sieht man davon ab, dass mit „Dank“, „Die Geschwister“, „Anmerkungen“, „Quellen“ und „Literatur“ noch ein Apparat folgt.

Gleich im ersten Teil „Elf Geschwister“ des ersten Kapitels legt Frie als „betroffener“ und damit „voreingenommene[r]“, zugleich intim wissender wie gegebenenfalls verschwiegener und nicht zuletzt auch emotional berührter, doch all dieser Subjektivität zum Trotz stets um „Detailtreue und Objektivität“ bemühter „Beobachter“ einlässlich offen, wo sein Erkenntnisinteresse liegt, wie sein Buch zustande gekommen ist, wovon es handelt und was es dem Selbstverständnis nach ist.

Jedes Kind [die Geschwister liegen bis zu 25 Jahre auseinander] musste sich mit seiner Familiengeschichte in einer anderen Umgebung positionieren und daraus Sinn machen. Die Familiengeschichte, die Sinngebung und ihre Rahmen aber wandelten sich, und das interessiert mich.

Aus „Fotografien, raren Schriftzeugnissen, Wikipedia und den Erinnerungen meiner Geschwister“ – leitfadengestützte, auch hinsichtlich ihrer „Erzählmuster“ reflektierte Interviews, die bestimmten „Logiken“ folgen und als solche ein „Tor zu einer Geschichte der Bundesrepublik“ öffneten – habe er die im Buch wiedergegebenen „Familienszenen rekonstruiert“, so der Autor. In diesen „Familienszenen“ spiegele sich „die Geschichte der Bundesrepublik, aus dem ungewöhnlichen Blickwinkel einer katholischen Bauernfamilie.“ Dabei verhält es sich so, dass Frie – der angesprochene Apparat macht das bereits deutlich – diese „Blickwinkel“ mit einer Reihe von Quellen und mit Sekundärliteratur ‚ins Gespräch‘ bringt, also „eigene[] Erfahrungen mit zeitgeschichtlichen Zusammenhängen“ (so der Verlag) verwebt: neben dem „Hofarchiv Frie“ neunzehn Jahrgänge des Landwirtschaftlichen Wochenblatts für Westfalen und Lippe sowie Quellen aus dem Landesarchiv Münster und dem Gemeindearchiv Nottuln, dazu annähernd fünfzig Forschungstitel vorwiegend orts- und regionalgeschichtlicher Art mit Schwerpunkten in Land- und Agrarsoziologie sowie Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Titel mit überregionalem Anspruch hingegen oder solche, die ‚großflächig‘ die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in dem thematisierten Zeitraum in den Blick rückten, sind in der Minderheit oder fehlen.

Das kommt nicht von ungefähr, geben es doch die familialen Quellen „Fotografien“ und „Erinnerungen“ einfach nicht her, wie zitiert von einer Spiegelung der „Geschichte der Bundesrepublik“ zu sprechen. Das ist zu hoch gegriffen, da aberviele Bereiche und Aspekte der Vergangenheit dieser Bundesrepublik – man denke nur an städtische Räume, Ballungszentren und regionale Unterschiede, von anderen Milieus oder der ‚großen‘ Politik ganz zu schweigen – ausgeblendet bleiben; selbstverständlich ausgeblendet, richtet sich doch das Erkenntnisinteresse der zu Rate gezogenen Zeitzeugen auf ganz Anderes. Frie selbst stellt im Übrigen an einer Stelle heraus, dass die Verhältnisse in der Landwirtschaft im Süddeutschen andere waren als die im thematisierten Münsterland.

Was also ist Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben, dieser „Grenzfall […] von Wissenschaft und Familiensinn“, von Geschichte ‚von unten‘ und Geschichte ‚von oben‘? Es ist Familien-, Alltags-, Mentalitäts- und Geschichte einer Standes- und Arbeitswelt im übergeordneten Rahmen von Orts-, Heimat- und Regionalgeschichte. Der Versuch, eine räumlich wie zeitlich begrenzte, makro-, meso- und mikrostrukturell dynamisch-komplexe Lebenswelt der Vergangenheit als das von personalen Voraussetzungen (Geburtsjahr, Geschlecht!), (Ab)Neigungen, Erwartungen, Perspektivierungen und Akzentuierungen durchdrungene Zugleich von Erinnertem, Behauptetem, Gemutmaßtem und von transpersonalem Faktischem, sogenanntem Objektiven zu (re)konstruieren – wobei es Fakt sein dürfte, dass trefflich darüber gestritten werden kann, was Fakten sind und was keine und wie sie gegebenenfalls zu gewichten sind. Dieser Versuch, der mehrere unentbehrliche, bislang möglicherweise vernachlässigte oder nicht in Zusammenschau gebrachte Mosaiksteine zu einer Geschichte der Bundesrepublik beiträgt, ist auf beeindruckende Weise gelungen.

Nicht übersehen werden sollte, dass sich Frie aber nicht darauf beschränkt, nur von seiner Stammfamilie und von den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik zu berichten. Immer wieder geht er auch weiter in die Vergangenheit zurück, in die 1930er und 1940er Jahre und teils sogar bis ins 17. Jahrhundert. Dass es dafür zwingende Gründe gibt, lässt sich, sieht man von den Biographien der Eltern ab, mehrheitlich in Frage stellen. Aber muss es, zumal bei einem zwar wissenschaftsgesättigten, doch der Gattung nach ‚nur‘ wissenschaftsorientierten Werk, in dieser Hinsicht immer hieb und stichfest zugehen? Es ist jedenfalls ein lehrreiches Vergnügen, Frie auch in die ferneren und fernen Vergangenheiten seiner Altvorderen zu folgen.

Einige Hinweise auf die m. E. zentralen ersten drei Kapitel: Neben bereits Ausgeführtem skizziert das erste Kapitel die in der Tat außergewöhnliche Familienstruktur, stellt die Familienmitglieder knapp vor, reißt später ausführlich Verhandeltes bereits an, klärt darüber auf, was unter „Bauerschaft“ zu verstehen ist, deren einer mit Namen Horst die Fries angehörten, und erläutert, wie es um das benachbarte Dorf Nottuln bestellt war. Das war das ganz andere zu der dem Selbstverständnis nach lange Zeit hierarchiehöheren Bauerschaft.

Kapitel zwei (re)konstruiert, mit Schwerpunkt auf den 1950er Jahren („Vaters große Zeit“), bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre hinein die Familiengeschichte (wie stets in übergeordnete Zusammenhänge eingebunden) vorwiegend aus der Sicht der vier ältesten Geschwister. Einlässlich und perspektivenreich wird über den Vater und dessen Einstellungen, Überzeugungen, „Wissen und „[Nicht]Handeln“ diskutiert. Dabei gerät vielerlei in den fortwährend auf „(Paradigmen)Wandel“ gerichteten Blick, beispielsweise die personale Zusammensetzung des Hofes sowie bäuerliche Arbeitsbedingungen, -abläufe, -aufteilungen und, was Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts anbelangt, -erwartungen. Es geht aber auch um die voranschreitende Technisierung der Höfe auch im Haushalt, die Aufgabenbereiche der Bäuerin, die „Rindviehzucht“ und alles, was damit zusammenhängt, die Monetarisierung des bäuerlichen Miteinanders, um Kulturpraktiken im engeren wie im weiteren Sinne sowie um „die Verkehrung der Verhältnisse“ zwischen Bauerschaft und Dorf. Darüber hinaus und mehr oder minder losgelöst von der Vaterfigur erzählt das Kapitel von Ausprägungen und Gefährdungen des Katholizismus, von Festtags- und Sonntagsritualen sowie von Unterhaltungs-  und Freizeitmöglichkeiten im Spannungsfeld von bäuerlicher und dörflicher Welt.

Das dritte Kapitel gehört Fries Mutter, deren Antwort auf die Frage, wie „Gegenwart und Zukunft der Bauersfrau“ auszusehen habe, „vor allem die mittleren und jüngeren Kinder geprägt“ habe. „Aus deren Erinnerungen vor allem werden die 1960er- und 1970er Jahre auf der Horst rekonstruiert“. Brillant wird beispielsweise herausgearbeitet, wie unterschiedlich, doch jeweils guter Gründe halber sich Begriffe wie „Freiheitsgewinn“ und „Emanzipation“ füllen lassen, wenn man nur historisch denkt. Neben im vorhergehenden Kapitel schon angesprochenen Themen wie „Verkehrung der Verhältnisse“ oder „Möglichkeitsraum Kirche“  sind z. T. von „Normveränderungen“ zeugende Themen wie „Zeit des Nationalsozialismus und Krieg“, „Politik und zivilgesellschaftliches Engagement“, „Ehe als ‚eine Liebes-, eine Lebens- und eine Wirtschaftsentscheidung‘“, „Kinderpolitik“, „Familienreligiosität“, „neues Frauenideal“, „Hygienestandards“, „Taschengeld“, „Geschenke“, „Urlaub“ und „Kleidung“ zu nennen. Frie bilanziert: „Die Jahre unserer Mutter waren alles in allem gute Jahre.“ Angesichts der skizzierten, dank ungezählter Unterstreichungen rekonstruierten Flut an Beobachtungen und Erkenntnissen, die ein Ein Hof und elf Geschwister ist, stellen sich abschließend die Fragen nach deren Gewinnung, Vermittlung und Verbleib im Gedächtnis der Leser.

Befragungen von Zeitzeugen – Zeitzeugenproblematik hin oder her – sind grundsätzlich begrüßenswert. Ich frage mich aber, ob die Entscheidung für Leitfadeninterviews anstelle von narrativen Interviews nicht eine zwar pragmatisch nachvollziehbare ist, doch von der zentralen Sache her – bäuerliche Lebenswelt im Münsterland der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre hinein – ‚ohne Not‘ einengt und gewichtet. Auch die gewählte Vermittlungsform – Familiengeschichte als Ausgangspunkt und Rückkoppelung für allgemeine, einlässlich dargelegte und mit viel Zahlenmaterial versehene geschichtliche Entwicklungen und Befunde – gewinnt geschichtswissenschaftlichen Forschungen sicherlich ungleich mehr Interessenten als herkömmliche akademische Darstellungsverfahren ab. Aber wie steht es um die ‚Nachhaltigkeit‘ des Gelesenen? In diesem Zusammenhang das Ergebnis eines methodologisch fragwürdigen und aufgrund von verschiedenen Parametern – bspw. Jg. ’54, dörflicher, bildungsferner Herkunft, Literaturwissenschaftler im Hauptfach und Historiker im Nebenfach – allein schon auf personaler Ebene nicht einmal ansatzweise verallgemeinerbaren Selbstversuchs.

Der bestand einerseits darin, zwischen der Lektüre von Ein Hof und elf Geschwister und dem Beginn der Arbeit an der Rezension einige Wochen ins Land gehen zu lassen und mich dann zu fragen, was mir an präsentiertem Individuellem, Familialem, Standes- und Arbeitsweltlichem sowie Lokalem und Regionalem in Erinnerung geblieben ist. Zum anderen bestand der Selbstversuch darin, mich zu fragen, wie es diesbezüglich um Romane wie Hermann Sudermanns Frau Sorge, Anna Seghers’ Der Kopflohn, Adam Scharrers Maulwürfe oder Oskar Maria Grafs Das Leben meiner Mutter und generell um Zeit-, Familien- und Generationenromane bestellt sei, die zu Ein Hof und elf Geschwister themenaffin sind und deren Lektüren zum Teil schon viele Jahre zurückliegen.

Das Ergebnis war für mich selbst überraschend: Die in den Romanen entfalteten Lebenswelten waren mir unterm Strich präsenter als diejenige des den Fakten nach sicherlich präziseren, doch damit nicht mehr Wahrheit vorhaltenden, unlängst gelesenen Sachbuchs. Das könnte an der Anschaulichkeit und Immersionsfähigkeit von Literatur liegen, daran, dass diese in eine zwar fiktive, doch wirklichkeits- und wissen(schaft)sgesättigte und von Handlungen bestimmte Lebenswelt aus ‚Fleisch und Blut‘ entführt.

Ein gutes Beispiel dafür liefern aktuell Romane wie Die Legende von Montecassino und Palmengrenzen von Gerhard Köpf, die wie ein Sach- bzw. Fachbuch auch mit einem Quellen und Forschungsliteratur vorhaltenden Apparat arbeiten. Wie sympathisch in diesem Zusammenhang aber, dass Frie mit Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga für das Ende des 19. Jahrhunderts selbst ein Werk nennt, an dem man Differenzerfahrungen im bäuerlichen Alltag studieren könne. Das zeigt, dass es selbstverständlich nicht darum gehen kann, die eine, als Fach- oder als Sachbuch daherkommende Bemühung um ein kulturelles Gedächtnis gegen die andere, Literatur, auszuspielen oder umgekehrt. In einer Zeit, die von Kanzeln welcher Art auch immer nichts mehr wissen will und stattdessen das Canceln stark macht, ist es vielmehr wichtig, dass komplementär gedacht und mit vereinten Kräften an einem Strang gezogen wird. In diesem Sinne möge es der Historiker dem Literaturwissenschaftler nachsehen: Der singt halt das Hohelied der Literatur als eines weiteren Wissens- und Erkenntnismediums.

Titelbild

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
190 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783406797170

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