Schreiben als Magie

Elke Heinemann vermittelt nicht nur am „Nachmittag einer Dichterin“ tiefe Einsichten ins literarische Schaffen

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um zu erfahren, wie der „Nachmittag einer Dichterin“ abläuft, las ich zuerst den titelgebenden Text, den zehnten von fünfzehn in dem schmalen Band mit Essays und Erzählungen. Sogleich traten zwei Merkmale der Autorin Elke Heinemann hervor: scharfe Ironie inklusive Selbstironie und souveräner Umgang mit der deutschen Sprache. Auf nur vier Seiten geht es um viel mehr als nur einen Nachmittag: vor allem um Defekte in zwischenmenschlichen Beziehungen, die Dichtung nicht (ab)dichten kann. Krass abgewertet werden die biederen, für eine Künstlerin „denkbar ungeeigneten Mittelschichteltern“ und der Geliebte, der das erträumte „Einehehäuschen“ wie ein Kartenhaus zerstören wird. Vielleicht wird die Dichterin einen Roman schreiben, als „Buchstabensuppe“ aufwärmbar, doch die Muttersprache kommt in verspielter Zweisprachigkeit als „always tückische deutsche Sprache“ daher.

Das abfällige Urteil über die Eltern führt zu einem anderen Text. „Der Brief an den Vater“, betitelt wie der gleich zu Beginn erwähnte berühmte Brief Franz Kafkas, ist gnadenlos. Der Vater erscheint als übler Besserwisser, der alle GermanistInnen – auch die eigene Tochter – für anmaßend und chaotisch hält. Aus Osteuropa waren seine Leute einst ins Ruhrgebiet gekommen. Seinen deutschen Familiennamen setzte er aus den Namen zweier berühmter deutscher Autoren zusammen, die wie er Heinrich hießen. Emporgearbeitet hat er sich, so dass die Tochter studieren konnte, und die Verantwortung für ihr von ihm als verantwortungslos angesehenes Leben lehnt er ab. Wie sehr muss sie jahrelang unter ihm gelitten haben, wenn sie seine Stimme als tosenden Waldbrand erinnert, „der eine schroffe Landschaft schwärzte“! Sein mehrfach zitiertes Gebot lautete: „Du sollst kein Ich neben mir haben!“ Dann stirbt er, und der Brief an ihn wird nicht geschrieben.

Sowohl in „Kleists Briefwechsel mit einer Dame“ als auch in „Wahre Fälschung“ ist von Heinrich von Kleist die Rede. Dieser Dichter, dem der Ruhm als „das größte der Güter der Erde“ zu Lebzeiten verwehrt blieb, redigierte in seiner kurzlebigen vierseitigen Tageszeitung „Berliner Abendblätter“ die Beiträge von Berühmtheiten wie Achim von Arnim und Clemens von Brentano ganz nach eigenem Belieben und wird von der Autorin als „Urvater aller literarischen Blogger“ bezeichnet.

Kleist als Theaterautor kommt auch im Text „Under Cover“ vor. Der Titel stammt von einer unveröffentlichten Erzählung des Engländers James Falconer Kirkup (1918 – 2009). Elke Heinemann geht deren Entstehungsgeschichte akribisch und mit sage und schreibe 35 Literaturhinweisen nach. Der rätselhaft zurückgezogen lebende postmoderne amerikanische Autor Thomas Ruggles Pynchon, Jr. (geboren 1937) spielt darin eine wichtige Rolle.

Tief in die menschliche Psyche greift der Text „Vom Überleben der Scham“, in dem bestürzende Parallelen zwischen der Entwürdigung von Opfern des Holocaust und dem Schicksal des schuldlos angeklagten Angestellten Josef K. in Franz Kafkas unvollendetem Roman Der Process aufscheinen.

In „Du, schreib doch mal einen Roman!“ wird die „Literaturreklame“ karikiert, die ein Buch nur nach der Vermarktbarkeit beurteilt und damit zum Untergang der Hochliteratur beiträgt. „Berlin Blues“ ist eine bitterböse Betrachtung zur Literaturförderung. Der bezuschusste Arbeitsaufenthalt führt entweder in ein Tag und Nacht erschüttertes Bahnwärterhäuschen oder in ein Künstlerhaus, wo „Leberschaden und Scheidungsklage“ drohen. Bissig wird in „Mensch. Mann. Autor. Wichtig.“ das pompöse Gehabe mancher Autoren bei Signierstunden karikiert.

Über den englischen Frühromantiker William Beckford (1760 – 1844) hat Elke Heinemann promoviert. Der „Versuch über William Beckford“ erweist sich als geschliffene biographische Skizze, die die Interessen dieses Sonderlings als Schriftsteller, Baumeister und vieles mehr schildert und ihn satirisch charakterisiert: „im Brotberuf Millionenerbe“. Der Tagträumer hatte reichlich Blutgeld aus dem Sklavenhandel geerbt und konnte es sich leisten, kostspielige sonderbare Bauten zu errichten und wieder abzureißen. Prägnant das Urteil der Autorin: Beckford ist „der Kunst nahe, den Menschen aber fern geblieben.“

Unter dem Titel „Augenblicke aus dem Leben des Entdeckers“ wird in stiller Bewunderung an den Schriftsteller Nicolas Born (1937 – 1979) und dessen Gedichtsammlung „Das Auge des Entdeckers“ von 1972 erinnert. Zwei Sätze klingen nach: „Es ist ein besonderer Augenblick im Leben des Entdeckers. Es ist sein letzter.“ Dieser Beitrag enthält eine gewichtige Aussage über das literarische Schaffen: „Schreiben ist kein Sprachspiel, sondern Magie, die Fakten bannt, verwandelt.“ Elke Heinemanns Essays und Storys entbehren dieser Magie auch dort nicht, wo es um persönliche Erschütterung geht.

Titelbild

Elke Heinemann: Nachmittag einer Dichterin. Essays & Storys.
Edition Isele, Eggingen 2023.
102 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783861426370

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch