Wo Poesie und Wissenschaft Klangbilder gebären
In ihrer Gedichtsammlung „vibrieren in dem wir“ schlägt Ann Kathrin Ast eine Brücke zwischen Naturwissenschaften und Lyrik und öffnet so auch durch metasprachliche Experimente einen neuen Blick auf die Welt
Von Manfred Roth
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn nach Ludwig Wittgenstein die eigene Sprache der eigenen Welt ihre Grenzen setzt, dann ist die Lyrik Ann Kathrin Asts der Versuch, diese Grenzen aufzulösen, indem sie manchmal auf staunenswerte Weise vorführt, wie sich der Umgang mit Sprache neu entdecken und damit das Erleben der Welt reicher machen lässt. Erst ganz allmählich wird klar, was die Gedichte dieser Sammlung inhaltlich vereint, nämlich das Thema Mutterschaft, und ganz sicher handelt es sich dabei um eine Erfahrung, der man nicht gerecht wird, indem man sie bloß benennt. Ast inszeniert sie in einer Art sprachlichen und formalen Doppelbelichtung, indem sie eine naturwissenschaftliche Perspektive mit einer existenziellen, emotionalen Bedeutung überblendet. Das erste, nicht betitelte Gedicht, wirkt fast wie eine vorangestellte Rezeptionsanleitung und gibt die Richtung vor:
dieser text in erfundener sprache in der es unmöglich ist zu lügen du glaubst zu verstehen während du liest obwohl die Wörter nichts sagen können […]
Wenn also die Gedichte Asts jedes Verstehen als Illusion entlarven, was ist dann ihr Anliegen? Warum geschieht dies in einer Sprache, in der es „unmöglich ist zu lügen“?
Vielleicht entfalten die Gedichte ja erst genau deshalb ihre Wirkung, weil sie sich einer unmissverständlichen Deutung, und damit einer Vereinnahmung durch die Lesenden widersetzen. Vielleicht geht schon der Versuch einer inhaltlichen Zusammenfassung an ihrem Kern vorbei, gerade weil in ihnen kein naives Lyrikverständnis zum Ausdruck kommt, das sich damit zufriedengibt, Gedichte zu konsumieren, sie nur wirken zu lassen. Die in ihnen vorherrschende Poetik, bei der Mathematik und Naturwissenschaften mit Lyrik versöhnt werden, ist ja genau das Gegenteil dessen, worin sich manche Gedichte und vielleicht auch manche Lesende allzu bequem eingerichtet haben, nämlich in der Behauptung von den „Zwei Kulturen“, von dem Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Oder plakativ formuliert der Vorstellung, dass, während in der Poesie Natur als Raum der Idylle gefeiert wird, sie in der Wissenschaft als komplexes System gilt, dessen Einzelbestandteile sich auf eine Ansammlung von Zellen herunterbrechen lassen.
Noch auf einen weiteren Doppelcharakter von Lyrik geht Ast im ersten Gedicht ein, wenn sich nämlich Wörter als „formlinien des stifts“ erst im Aussprechen in „auf und ab / springende vokale“ übersetzen, sodass der erste Text mit der Aufforderung endet: „schauhör wie / sich die buchstaben an ihren säumen aufspalten und kringeln kringeln“. Dieser Sprache, der es auch auf den Klang ankommt, lässt sich unter anderem in den Wortneuschöpfungen Asts nachspüren, im „prischen“ und „quillern“ etwa, wohingegen sich das Schauen darüber hinaus ganz wörtlich auf die jedem Gedicht vorangestellten Abbildungen der bildenden Künstlerin Michelle Concepción beziehen lässt.
Bei diesen bildlichen Darstellungen in schwarz-weiß mag man zunächst an einen Blick durch das Mikroskop denken, bei dem sich organisch anmutende Formen offenbaren, die manchmal an Zellen erinnern oder bei kanal) irgendwann hat es angefangen an eine Nabelschnur. Die Ränder der dargestellten Formen sind vervielfacht und leicht verschoben, das Dargestellte wirkt unscharf und körnig. So entsteht paradoxerweise nicht der Eindruck von Klarheit, sondern das Gegenteil. Dem Abbildungsverzeichnis lässt sich entnehmen, dass es sich bei den Bildern dazu noch um Gemälde, Acryl auf Leinwand, handelt, sodass sich auch bei den Abbildungen eine Vorgehensweise herauskristallisiert, bei der ein zunächst exakter, wissenschaftlich anmutender Blick für Deutungen geöffnet wird. Dieses Verfahren findet sein sprachliches Pendant besonders eindringlich in dem mit der Zwischenüberschrift radius radierung versehenen Abschnitt des titelgebenden Gedichts vibrieren in dem wir gehört, wo mit mikroskopischem Blick eine Landschaft entsteht, und in dem es heißt:
hautkuppen mit denen (was ich ist) fasst was umgibt / aus denen Umgebung auf steigt / eine landschaft z.b. / nicht schön aber friedlich / ein nadelkissen schräg auf und absteigend punkte zwischen feinen biegungen in hautkuppen liegenden fingerrillen […]
Unschärfe, oder positiv formuliert, Vieldeutigkeit erzielt Ast in ihrer Lyrik auf formaler Ebene vor allem, indem sie Satzzeichen weglässt, durchgängig Kleinschreibung benutzt und häufig Satzbrüche verwendet. Die Zeilen sind manchmal in Blocksatz gesetzt, ein andermal unterschiedlich weit eingerückt, sodass sie an Computercode erinnern, mit Schrägstrichen inmitten der Zeilen als Pausen. Dazu Klammerungen, zum Teil als Einschübe, wobei sich einige offene Klammern vielleicht erst weit im nächsten Absatz schließen, andere gar nicht und manche geschlossenen Klammern haben sich nie geöffnet: Was zunächst sperrig anmutet, ist eine Aneignung, öffnet visuell wie inhaltlich die Poesie zu den vermeintlich prosaischen Naturwissenschaften, zur Mathematik hin. Es ist aber auch eine Öffnung des poetischen Raums selbst, eine Hinwendung dorthin, wo Form und Bedeutung von Sprache nicht schon be- und abgeschlossen sind, eine Zuwendung zu einem offenen Erfahrungshorizont. Vielleicht lässt sich ja deswegen, wie eingangs behauptet, in dieser Sprache kaum lügen, weil sie Möglichkeitsfelder und Erfahrungsräume entwirft, bei denen es vorrangig nicht um binäre Entscheidungen zwischen wahr und falsch geht.
Ann Kathrin Ast hat Violoncello studiert und kommt dementsprechend aus einem Umfeld, in dem Berührungsängste mit Mathematik fehl am Platz wären, fußen doch auch Harmonien in der Musik auf mathematischen Verhältnissen – wie im Übrigen auch der Goldene Schnitt in den Bildenden Künsten – und gilt doch Musik trotzdem als die Kunstform, die vor allem das Empfinden anspricht. Wenn vor dem hören, das letzte Gedicht des Bandes, einen Weg zum Klang und zu den Tönen beschreibt und mit der Zeile „ab hier bitte nur singen“ endet, könnte man die Sammlung auch als ein Suchen nach ihrem eigenen musikalischen Ausdruck, ihrem Klang lesen und wieder in Anlehnung an Wittgenstein feststellen: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man… singen.
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