Dystopische Dorfgemeinschaft

Greta Lauers Roman „Gedeih und Verderb“ ist eine Therapiesitzung

Von Tino KirschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tino Kirsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verstörend ist Greta Lauers Roman, welcher vom Luftschachtverlag veröffentlicht wurde. Dabei passt der Name des Verlags sehr gut zum Geschehen des Romans – die Hauptfigur bekommt in einer dysfunktionalen Dorfgemeinschaft kaum Luft zum Atmen. 

Da liegt es das Kehlköpflein, reglos und rot. In ihren grobfaltigen Handschalen wiegt sie es und betrachtet es froh.

Die Vorstellung eines ausgerissenen Kehlkopfes, welcher blutverschmiert in den Händen liegt und dabei glücklich betrachtet wird, irritiert. Lauer nutzt in Gedeih und Verderb immer wieder eine verniedlichende Sprache. Neben dem „Kehlköpflein“ werden besonders häufig die „Augäpfelein“ erwähnt, welche die Schandtaten im Dorf sehen müssen.

Die Geschichte wird aus der Perspektive einer jungen Frau erzählt, welche in dem Dorf aufwächst und in einem Generationenkonflikt mit der Dorfgesellschaft und ihrer eigenen Familie steht. Dialoge finden sich kaum in diesem Werk – wie auch? Denn die Gräueltaten lassen die Figuren sprach- und machtlos zurück, mit der Konsequenz, dass sich die Kommunikation auf einen Erfahrungsbericht der Protagonistin beschränkt. In diesem werden die einzelnen Sequenzen mit Rückblenden beschrieben. Die Erinnerungen tauchen bei der Protagonistin immer wieder auf, haben aber kaum einen Einfluss auf das Verständnis der Lesenden dieser Geschichte. Es bleibt unklar, zu welcher Zeit sich die Handlung abspielt. Als Leser*in kann man davon ausgehen, dass es sich hier tendenziell um eine historische Erzählung handelt, obwohl es Straßenbahnen und Busse gibt. Es muss eine Erzählung über die jüngere Vergangenheit in einem gesellschaftlich zurückgebliebenen Dorf sein, welches sich an irrsinnige Traditionen hält.

Das Buch ist von einer stark bildhaften und hässlichen Sprache geprägt. Dies liegt an der Verwendung von „unästhetischem“ Vokabular wie, „reißen“, „kratzen“, „gespreizt“ oder „Putzperlen“. Sie erzeugen einen Ekel vor dem geistigen Auge der Rezipient*innen. Die Nutzung dieser Art von Sprache führt dazu, dass die verstörende Handlung mit der Sprache vereint wird. Die ‚Hässlichkeit‘ wird den Leser*innen durchweg präsentiert. Des Weiteren finden Neologismen ihren Weg in dieses Buch, was zeigt, dass es für das Erzählte keine Worte in der vertrauten Sprache gibt. So wird etwa sexueller Missbrauch mit Wortneuschöpfungen wie „Schenkelkehlen“, „Klumpenmenschen“ oder „Kinngras“ umschrieben, um das Geschehene verarbeiten zu können. Darüber hinaus sehen die Opfer ihre eigenen Körper nicht als integrale Bestandteile des eigenen Wesens an, welche geschützt werden sollen. Sie stellen etwas Plastisches dar, mit dem man leben und umgehen muss. Der menschliche Körper wird somit durch die Sprache degradiert.

Das berichtende Erzählen geschieht häufig im inneren Monolog. Die Hauptfigur erzählt also persönlich aus der ‚Ich-Perspektive‘, aber auch auktorial, denn sie ist über alle Geschehnisse der Vergangenheit und Gegenwart vielseitig informiert. Die Erzählstimme berichtet von Geschehnissen, von denen sie eigentlich nichts wissen kann. Neben der häufigen Verwendung von Signalwörtern fällt auf, dass die Erzählungen wiederkehrende Motive aufweisen. Dazu gehört insbesondere das der Ohnmacht: 

Es gibt auch kein Glück, Geben tut es überhaupt nichts, außer Ohnmacht, aber die ist nicht zu greifen mit den Fingern, nicht mit den Sprachfingern, schon gar nicht mit den Stümpfen.

Die Ohnmacht ist folglich nicht nur haptisch nicht zu greifen, sondern auch mit der Sprache nicht zu erfassen. Die Stümpfe – die eine Metapher für das seelische Innenleben der Opfer darstellen – sind der bildhafte Ausdruck der Ohnmacht.

Die Dorfgemeinschaft vollzieht schon seit Generationen menschenverachtende Rituale, wie das Sammeln des Blutes von menstruierenden Mädchen oder das Abtrennen und Lagern der Vorhäute von jungen Heranwachsenden. Mittendrin sind die Mutter und die Großmutter der Hauptfigur, die für diese Gräueltaten zuständig sind. Alle Dorfbewohner verhalten sich wie in Trance und brechen aus diesen Traditionen nicht aus, sondern leben nur vor sich hin – oder begehen Selbstmord. Als ein treffendes Beispiel für diese Passivität gelten die sogenannten „losen Frauen“, die sich mit den Wänden der Einrichtungen verschmelzen. Diese Verschmelzung soll keinen sexuellen Akt, sondern die Trist- und Bedeutungslosigkeit der Frauen, die in den barbarischen Anstalten, die für wiederholten sexuellen Missbrauch verantwortlich sind, behandelt werden oder arbeiten müssen, darstellen. Als die Großmutter stirbt, entscheidet sich die Protagonistin dafür, das Dorf zu verlassen. Die Wächterfrauen verfolgen sie allerdings bis in die Stadt hinein, sodass es kein Entrinnen gibt. Die kurze aufkeimende Hoffnung wird schnell wieder zunichte gemacht, denn ein ‚Happy End‘ ergibt sich nicht. Die Traditionen gehen weiter und die Hauptfigur findet keinen Seelenfrieden.

Greta Lauer schreibt in ihrem Roman über sexuelle Kindheitstraumata. Sie beschreibt kreativ und plastisch, wie sexuelle Rituale vonstattengehen und die Seelen der betroffenen Personen misshandelt werden. Die Mischung aus einer verniedlichenden und ‚hässlichen‘ Sprache zeigt deutlich, dass die Erzählerin und die weiteren Opfer im Roman ihre Traumata nicht verarbeiten konnten. Im Gegenteil: sie nutzen Wortneuschöpfungen, um ihr Unglück teilen zu können. 

Gedeih und Verderb ist ein interessanter, aber auch verstörender Roman, welcher den Leser*innen keine Ruhe schenkt. Es lässt einem kaum Luft zu atmen und zeigt, welche Auswirkungen struktureller sexueller Missbrauch haben kann. Dieses naturalistische Buch ist nicht für alle Leser*innen geeignet. Doch für diejenigen, die manchmal aus ihrer Komfortzone ausbrechen oder sich seiner eigenen Komfortzone bewusst werden möchten, ist Gedeih und Verderb ein empfehlenswerter Roman. Der Titel ist Programm.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Greta Lauer: Gedeih und Verderb.
Luftschacht Verlag, Wien 2023.
120 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783903422193

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