Dichten als Widerstand

Yevgeniy Breyger schreibt eine widerständige und bildhafte Münchner Rede zur Poesie 2023, die einige Rätsel aufgibt und zum literarischen Widerstand aufruft

Von Florian BirnmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Birnmeyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yevgeniy Breyger erhielt 2021 den Münchner Lyrikpreis, 2019 den Leonce-und-Lena-Preis und 2023 den Christine Lavant-Preis. Der in Charkiw geborene Lyriker, Herausgeber und Übersetzer hat einige Auszeichnungen für sein Schaffen erhalten, vorwiegend sein lyrisches, das in viele Sprachen übersetzt wurde, darunter Englisch, Georgisch, Rumänisch und Serbisch.

Im Alter von zehn Jahren kam Yevgeniy Breyger mit seinen Eltern nach Deutschland, später widmete er sich dem literarischen Schreiben beim Studium in Hildesheim und Leipzig und veröffentlichte ab 2008 seine Lyrik in Anthologien, Zeitschriften und eigenständigen Gedichtbänden, z. B. bei kookbooks und mikrotext.

Im Jahr 2023 wurde Yevgeniy Breyger ausgewählt, um die Münchner Rede zur Poesie zu halten, die thematisch von der Differenz zwischen ,Wahrheit‘ und ,Wahrhaftigkeit‘ handeln sollte. Die Münchner Reden zur Poesie, die auch schon von Nora Gomringer (Februar 2019), Ulrike Draesner (März 2015), Jan Wagner (März 2012), Marcel Beyer (Mai 2006), Martin Mosebach (März 2005) u. a. gehalten wurden, finden zweimal jährlich statt und werden seit 2005 durch das Lyrik Kabinett München veranstaltet, das auch die Münchner Lyrikpreis ausschreibt.

Die Reden zur Poesie verstehen sich als Ergänzung zu Dichterlesungen, als theoretisches Diskussionsforum, aber auch als Ort der Widerständigkeit, an dem die Form der Rede lebendig gehalten wird, die in der Tradition der dichtungstheoretischen Reden eines Goethe, Schiller, Benn oder Celan stehen. Freilich muss man dazu sagen, dass die Bedeutung der Rede „Zum Schäkespears Tag“ (1711), die „alle Regelpoetik hinwegfegte“ oder von „Was kann eine gute Stehende Schaubühne eigentlich bewirken?“ (1784) die Münchner Beiträge zur Lyriktheorie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer klassischen Kultur übersteigen.

Hingegen sind die Münchner Reden dichtungstheoretische Vorträge zu einer randständigen Form der Kultur und Literatur, der Gattung Lyrik. Bereits im Vorwort zu Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon heißt es zutreffend, Lyrik sei ein „Randphänomen des Randphänomens Literatur“ und die Münchner Reden dienen einer Form der Selbstvergewisserung, in der Tradition der Widerständigkeit, die zur Jahrhundertwende um 1900 in der Münchner Kultur- und Literaturszene zu beobachten war.

In seiner eigenen Rede vom 5. Dezember 2023 spricht Yevgeniy Breygers Rede über Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Der Rede vorangestellt ist ein von ChatGPT verfasster Abschnitt, dem man zunächst vielleicht „auf den Leim geht“, ehe man begreift, dass die darin versammelte Häufung von Gemeinplätzen und simplen Wahrheiten nicht von Breyger selbst stammen kann, sondern aus der Feder einer künstlichen Intelligenz kommen muss, der Breyger die Anweisung gegeben hatte: „Schreibe eine Rede zur Poesie mit dem Thema: Unterschied von Wahrheit und Wahrhaftgikeit.“

Ein origineller Einfall, keine Frage! Denn angesichts dieser künstlich-intelligenten ,Rede‘ fragt man sich unvermittelt, was Künstler und künstlerisches Schaffen noch wert sind, was sie noch bewirken und beitragen können in einer Welt, in der Texte sich quasi selbst schreiben, wie von Geisterhand, da eine Unmenge und Vielfalt bestehender Texte und Informationen frei im Internet verfügbar sind und jederzeit neu kombiniert werden können.

Liest man Breygers eigentliche Rede, die sich aus mehreren Kapiteln zusammensetzt, wird klar, dass die menschliche Schaffenskraft und Kreativität über die Fähigkeiten einer künstlichen Intelligenz hinausgeht. Breyger verfügt über die Fähigkeit, in der Literatur eine fantastische, bildhafte und metaphorische Welt zu sehen, die manchmal aufgrund der zahlreichen miteinander verschränkten Bilder wie eine Chiffre oder ein Rätsel anmutet, bei dem nicht sofort klar ist, worum es gerade geht. Doch im gleichen Augenblick ist einem die ganze Zeit bewusst, welche Bedeutung der verrätselte und beziehungsreiche Text Breygers ständig in sich trägt: Dass Literatur dazu einlädt, vom Weg abzuschweifen, Rätsel aufzugeben, zu träumen, Bilder zu kreieren.

Man würde sich in Breygers Rede manchmal etwas mehr Klarheit und Stringenz wünschen, denn bisweilen bleibt es etwas verschleiert, wo in seiner Rede die Themen ,Wahrheit‘ und ,Wahrhaftigkeit‘ gerade abgeblieben sind. Wir erfahren zum Beispiel im ersten Kapitel von dem Knäuel, das jedem Gedicht innewohnt, er gibt ihm den arabaischen Namen Zharaa, und in dem die Kraft des Wortes pulsiert. Das Innere eines Gedichtes sei ein Tier, das einem Menschen ähnele. 

Man kann bei Breyger viel über Dichtung, Sprache, Metaphern, Märchen, Widerstand und Schreiben, über die Wahrheit in der Literatur und Sprache lernen, wenn man ihn aufmerksam liest, auch über Traumata in der Literatur. Denn Breyger ist der Ansicht, dass Dichtung nicht nur dafür da ist, Traumata zu verarbeiten und dass Dichter nicht immer unglücklich sein müssen, stattdessen sollte das Verhältnis zwischen Dichter*in und Leser*in gleichberechtigt, emanzipiert sein, z. B. durch Humor und eine humorvolle Distanz zum Geschriebenen, durch Rhythmus und Sprachspiele, und durch Metaphern.

Für Breyger sind Lyrik, Literatur und Kunst eine Möglichkeit, Wunden zu heilen, zu schließen und zugleich auch Widerstand zu leisten. In seinem vorletzten Kapitel geht er auf eine Geschichte aus der antiken Mythologie um den Helden Telephos ein, dem mit der Lanze eine Wunde geschlagen wurde, die nur mithilfe derselben Lanze wieder geheilt werden kann, um auf die Heilkraft der Literatur und des Wortes, auf die Selbstermächtigung und die Überwindung von Traumata durch Reflexion zu sprechen zu kommen.

Das Schlimmste für Breyger ist die Zustimmung: „Der Zustimmung folgt kein Denken, Zustimmung ist das Ende der Kunst, Zustimmung ist Tod, Widerstand hingegen ist das Leben.“ Dem Widerstand widmet sich Breyger in seinem letzten Kapitel, in dem es recht politisch wird:„Sicher ist – Gedicht muss Widerstand sein, widerspenstig gegen eine Macht, die darauf einwirkt, die Macht kann dabei Gott sein, Gesellschaft, ein Freund, ein Feind, das eig’ne Aug’ im Spiegel, der eigene Mund, wie das Wort, das diesen verlässt.“ Als Beispiel dient Breyger ein Gedicht von Christine Lavant.

Und so ist Yevgeniy Breygers Rede ein Plädoyer für die Metapher, das Märchen, die Chiffre, die Kraft des widerständigen Wortes und die politische Macht der Lyrik. Man hätte sich ein wenig mehr Fokussierung auf das Thema ,Wahrheit‘ und ,Wahrhaftigkeit’ gewünscht. Breyger neigt zur Abschweifung, zur Aufsplitterung des Themas in verschiedene Themen und Sparten, die wiederum bildhaft und metaphernreich ausgeführt werden.

Breyger überträgt das Prinzip der Lyrik auf die von ihm gehaltene Rede. Eine lyrische Rede, voller Wahrheit und mit Hinweisen auf das Wahrhaftige, das ist Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon.

Titelbild

Yevgeniy Breyger: Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon. Münchner Reden zur Poesie, Band 10.
Stiftung Lyrik Kabinett, München 2023.
28 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783938776636

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