Das nächste Mal lieber den Notruf

Noa Yedlins Roman „Unter Freunden stirbt man nicht“ handelt von einem aberwitzigen Plan und ist eigentlich eine Gesellschaftssatire als Kammerspiel

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was, wenn ein guter alter Freund plötzlich stirbt, und zwar einige Tage bevor der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verkündet wird, für den er ein aussichtsreicher Kandidat ist oder besser war? Pech, würden wir wohl denken. So spielt das Leben eben. Und so verpasst man die letzte und ultimative Ehrung in einem prominenten, mit Auszeichnungen und Anerkennungen angefüllten Leben. Denn der Nobelpreis wird bekanntlich nur an Lebende verliehen. Richtig, gäbe es da nicht einen kleinen Freundeskreis, zwei Freundinnen und zwei Freunde des Verstorbenen, die entscheiden, Schicksal zu spielen und ihren Freund Avischai weiterleben zu lassen, nämlich so lange, bis der Preisträger in Stockholm verkündet wurde, der dann natürlich Avischais Namen trägt, so die Kalkulation.

Und damit beginnt ein irrwitziger, immer grotesker werdender Wettlauf gegen die Zeit, denn Avischais Leichnam tut, was die Biologie als unabänderliches Skript vorgibt – er beginnt zu verwesen. Der Plan der vier Freunde fängt also an, buchstäblich zum Himmel zu stinken. Aber das ist längst nicht das einzige Problem, denn schließlich gibt es da noch die Welt außerhalb von Avischais Schlafzimmer, wo er nun durch eine kühlende Klimaanlage als Leiche lagert. Dieser Welt muss jetzt ständig etwas vorgespielt werden bei gleichzeitiger Abwesenheit des Hauptdarstellers. Eine Entdeckung des Schwindels vor der Zeit, wäre für die Beteiligten nicht nur blamabel.

Damit ist das dramaturgische Gerüst des Romans beschrieben. Aber eigentlich geht es darin nicht um die Komplikationen, die sich die Autorin für den Freundeskreis plus Leiche recht zahlreich ausgedacht hat und wie die Vier damit fertigwerden, sondern im Mittelpunkt stehen die Freunde selbst und ihre Beziehungen untereinander und natürlich auch zum Verstorbenen, dem sie scheinbar selbstlos den Nobelpreis sichern wollen. Oder doch nicht selbstlos? Jedenfalls sind sie sich einig, dass sie das dem Freund schuldig seien. Über ethische Bedenken stolpern die Vier mal großzügig hinweg und setzen allein auf Sieg, der für sie alles legitimiert.

Noa Yedlin, Jahrgang 1975, wurde in Israel mit ihrem Roman Leute wie wir zur Bestseller-Autorin. Auch der hier zu besprechende Roman könnte im Untertitel „Leute wie wir“ heißen, denn Yedlin zeichnet Porträts einer soziokulturell homogenen Kleingruppe. Die Beteiligten in dem Roman sind alle etwas über Siebzig und gehören dem Mittelstand an, waren beruflich mehr oder weniger erfolgreich und leben im Ruhestand in gesicherten Verhältnissen. Bei so viel Bürgerlichkeit wirkt ihr bizarrer Entschluss freilich noch befremdlicher und dadurch abgründig wie eine Komödie à la Feydeau.

In Yedlins Roman ist dieses Befremdliche Teil des Konzepts, denn wenn die Autorin die psychologisch aufbereiteten Porträts nach und nach serviert, dann wird klar: Die Fassade der Freundschaft und auch der Bürgerlichkeit ist etwas anderes als das, was die kleine Gruppe bisher verband und zusammenhielt. Da stimmt am Ende kaum noch etwas, außer dass Freundesbande gerade durch das zusammengehalten werden, was zugleich genügend Gründe enthält, sie eigentlich auseinanderzubringen: Neid, Ignoranz, Heimlichtuerei, Unaufrichtigkeit und mehr dieser Art. Das Seltsame: so funktionieren menschliche Beziehungen und ziemlich stabil. Es funktioniert durch ein ungeschriebenes Gesetz, „dass man seine Freunde vor der Realität schützt“ – also vor der Wahrheit.

Da wäre Sohara, die mit Avischai eine schon zwanzig Jahre dauernde, aber geheime intime Beziehung führt, über die sich Avischai wohl schämte. Yedlin schildert sie als eine Frau, die Biografien auf Bestellung schreibt, und zwar über Menschen, über die sonst niemand etwas schreiben würde. Noch mit achtundsechzig glaubte sie vehement an die große Liebe. Andererseits sank sie nach Affären stets in die „alte Halb-Beziehung“ mit Avischai zurück, „wie in eine mit Trost gefüllte Badewanne“. Sie ist es auch, die ihn tot im Bett findet und die anderen zusammenruft. Sie fühlt sich als die legitime Witwe und Erbin.

Nili ist die zweite Frau im Bunde. Ehemals Kinderärztin, die aber mit Kindern überhaupt nichts am Hut hat und sich deshalb entschieden dagegen wehrt, als „Großmutter gegen ihren Willen in eine vielschichtige Elterngalaxie einbezogen zu werden“, um beispielsweise die Enkelkinder zu hüten. Sie lebt seit einiger Zeit mit einem Mann zusammen – ein ungleiches Paar. Jehuda aus der Viererbande fragt sich, wie Nathan überhaupt Nili begehren könne, denn „sie war alt und dick, das auszusprechen war verboten, aber denken durfte man es wohl noch, denn wer würde das nicht denken, wenn er die beiden zusammen sähe“?

Von Jehuda stammt der Vorschlag, Avischai nicht sterben zu lassen, damit ihm der Nobelpreis nicht verloren gehe. Jehuda hat eine völlig banale Erfindung, nämlich ein Tütenöffner, steinreich gemacht – ein Ding, das „die Oberseite von der Unterseite“ trennt, „man öffnet die Tüte mit dem Ding anstatt mit den Fingern“. Aber als Lebensinhalt reicht weder das noch die große Villa, die vegan lebende Ehefrau und die Töchter. Also schreibt er ein Buch über sich, das jedoch kein Verlag haben will und am Ende nur durch einen Trick unter Vertrag kommt. Die Auflösung findet Sohara und fühlt sich „wie Agatha Christie beim Knacken eines Kriminalfalls“.

Bleibt noch Amos, der Avischai seit der Jugendzeit kennt und auch durch das gemeinsame Studium an der Universität. Zwischen beiden entwickelte sich ein schwieriges Freundschaftsverhältnis, denn während Amos im Berufsleben immer in der 2. Reihe blieb, wurde Avischai berühmt und beachtet. Wenn er ihn umringt von bewundernden jungen Menschen sah, machte ihn das „schier verrückt“. Anders hingegen, wenn sie mit Altersgenossen zusammentrafen, die ohnehin weniger begeisterungsfähig waren – „vielleicht sogar bereits unheilbar beschädigt und dösten in alten Freundschaften dahin“.

Yedlin versteht es großartig, all diese Biografien und Psychogramme als ein zwar fragiles Geflecht der Freundschaft darzustellen, dass aber dennoch funktioniert, weil sie sich die Beteiligten an die Regeln des ungeschriebenen Gesetzes halten. Das alles ist flüssig, auch immer wieder spannend und mit Witz und Sinn für Situationskomik geschrieben. Helene Seidlers Übersetzung garantiert hier den nötigen erzählerischen Drive. Die Dramaturgie wird durch immer neue Episoden allerdings mächtig strapaziert. Dieser Roman liest sich zudem wie eine Fernseh-Serie (wurde von RTL auch verfilmt) und darin liegt auch die Erklärung für die unzähligen erzählerischen Volten, die die Autorin schlägt. Am Ende müssen dann immer auch sämtliche Finten und Täuschungen aufgedröselt und gelöst werden. Wovon hier nichts verraten werden darf, außer dass Avischai am Ende sein Grab finden wird:

„Avischai versank in der Tiefe der Grube, von dort, wo sie standen war er schon nicht mehr zu sehen, und mit ihm sanken die vergangenen acht Tage ins Grab, als wären sie nie gewesen.“

Titelbild

Noa Yedlin: Unter Freunden stirbt man nicht.
Aus dem Hebräischen von Helene Seidler.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2023.
480 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958996

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