Arthur Schnitzler als öffentliche Person
Martin Anton Müller ediert Schnitzlers „Interviews, Meinungen und Proteste“
Von Günter Rinke
Soviel vorweg: Diese zweibändige Edition genügt höchsten (nicht nur) wissenschaftlichen Ansprüchen. Die beiden auch optisch ansprechenden Bände sind mit großer Sorgfalt und Umsicht erstellt worden. Jeder einzelne Text, viele davon zweispaltig in der Sprache ihres Erscheinens mit deutscher Übersetzung abgedruckt, wird in Quellennachweisen und Erläuterungen in seinen Kontext eingeordnet und damit dem heutigen Lesepublikum zugänglich gemacht. Der Interviewband enthält ein nach Themen geordnetes Verzeichnis der Fragen, die Schnitzler gestellt wurden und die er (überwiegend) auch beantwortet hat.
Band 2 wird mit einem ausführlichen Register der verzeichneten Personen, Werke, Orte und Institutionen, darunter die Theater, abgeschlossen. Ausführlich werden die Prinzipien der Textauswahl, die editorischen Richtlinien sowie Emendationen, also Eingriffe in die Ursprungstexte wegen offensichtlicher Fehler, dokumentiert und erläutert. Jeder Text ist mit Zeilenzählungen versehen. Aufgelockert wird das Textkorpus durch hier und da eingefügte Porträtaufnahmen und ‑zeichnungen des berühmten Wiener Dichters. Das aufschlussreiche Nachwort des Herausgebers kreist vor allem um die Frage, welches Verhältnis Schnitzler zur Öffentlichkeit hatte, insbesondere wie er zur Form des Interviews stand. Hier hat das sonst sehr zuverlässige Lektorat allerdings einen Fehler übersehen: Der kranke, bald verstorbene deutsche Kaiser hieß Friedrich III. (so auch richtig im Register), nicht wie im Text Wilhelm III.
Die Edition fügt sich ein in die vielfältigen Bemühungen um Schnitzlers Nachlass seit Beginn der ‚Schnitzler-Renaissance‘ Anfang der 1960er Jahre, die zu immer neuen Publikationen geführt hat. Nachdem die fünfbändige Ausgabe der Gesammelten Werke (1961/62/67) erschienen war, wurden in steter Folge nachgelassene Texte publiziert: zuerst die Fragment gebliebene Autobiographie, der man den zugkräftigen Titel Jugend in Wien (1968) gab, dann Entworfenes und Verworfenes (1977) im von Reinhard Urbach herausgegebenen Ergänzungsband zur Werkausgabe, des Weiteren zahlreiche Bände mit Briefeditionen. Es folgten die groß angelegte zehnbändige Edition der Tagebücher (abgeschlossen 2000), Bände mit Schnitzlers medizinischen Schriften, Filmarbeiten, Traumprotokollen, schließlich 2014 die umstrittene Publikation einer frühen Novelle unter dem Titel Später Ruhm, die Schnitzler nach kritischer Einrede von Hermann Bahr für misslungen hielt. Nun also gibt es, zusätzlich zur im Entstehen begriffenen, maßgeblich von Konstanze Fliedl initiierten historisch-kritischen Werkausgabe, die „Interviews, Meinungen und Proteste“ zu lesen.
Die Edition versteht der Herausgeber als „öffentliche Biographie“ in dem Sinne, dass durch die Texte ein Bild davon entsteht, was das damalige Publikum „über einen der bekanntesten Dramatiker [seiner] Zeit wissen konnte[]“. Dementsprechend sind die meisten hier versammelten Texte damals in in- und ausländischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden. Nur Weniges von dem, was in den beiden Bänden zu lesen ist, blieb unveröffentlicht. Es ist mit allen Streichungen und Einfügungen Schnitzlers abgedruckt. Die Problematik der Urheberschaft der Texte deutet der Herausgeber im Nachwort an. Ist es überhaupt legitim, Schnitzler als Verfasser anzugeben, wenn doch Interviews vor allem durch die von einer anderen Person gestellten Fragen strukturiert sind? Zudem gibt es nicht wenige Artikel, die überhaupt von anderen Verfassern stammen und in denen Schnitzler nur erwähnt, zusammenfassend wiedergegeben oder zitiert wird.
So stammt beispielsweise die Abhandlung „Die Entstehung des ‚Schleiers der Pierrette‘“, einer Pantomime Schnitzlers aus dem Jahr 1910, von dem heute nicht mehr bekannten Max Messer. Sie beruht auf einem Interview des Verfassers mit Schnitzler, der bissig in seinem Tagebuch dazu bemerkte: „In der N[euen] Fr[eien] Pr[esse] heute eine ausführliche, nicht sehr geschmackvolle und talentlose Wiedergabe des Gesprächs, das ich Donnerstag mit Messer gehabt.–“ Geboten werden also nicht nur Interviews ihrem Wortlaut nach, sondern auch zusammenfassende, teils kommentierte Wiedergaben von Gesprächen, die nicht als Interview deklariert waren. Ein roter Faden, der sich durch den ersten Band zieht, ist die Abneigung Schnitzlers gegen Interviews. Regelmäßig trifft er sich mit Journalisten, Reportern, Feuilletonisten – nur selten ist auch eine Frau darunter – und klärt stets zuerst, dass er nicht bereit sei, ein Interview zu geben. Dennoch zählt Müller insgesamt 87 gedruckte Interviews und 28 Nachdrucke, dazu 40 Meinungsäußerungen, die veröffentlicht wurden. Schnitzler spielte ein Spiel mit der Öffentlichkeit, das Müller mit den englischen Ausdrücken „Cool Conduct“ und „detachment“ umschreibt: „Er entschied sich mitzumachen, um dann seine Nichtzugehörigkeit zu thematisieren.“
In der Spannung zwischen den veröffentlichten Äußerungen und den Kommentaren dazu im Tagebuch, die jeweils im Anhang nachzulesen sind, liegt ein Reiz bei der Lektüre dieser Edition. Sie dürfte daher nicht nur für Schnitzler-Spezialisten interessant sein, sondern sie könnte auch Kommunikations- und Medienwissenschaftlern als Fundgrube dienen. Und ‚Schnitzler-Fans‘, die nicht wissenschaftlich orientiert sind, können neue Facetten der Persönlichkeit des Meisters kennenlernen. Der sprichwörtlich gewordene Titel eines Essays von Max Frisch, Öffentlichkeit als Partner, dürfte auf Schnitzler kaum anwendbar sein. Sein Verhältnis zur Öffentlichkeit, vor allem repräsentiert durch die Presse, stellt sich eher als spannungsgeladen, indigniert, zuweilen sogar feindselig dar. In seinem Diagramm Der Geist im Wort und der Geist in der Tat hatte Schnitzler den Journalisten auf der Seite der Negativtypen als „Aktualist“ und „Tagschreiber“ dem positiv konnotierten Historiker gegenübergestellt.
Umso mehr wundert man sich darüber, dass er doch immer wieder das Gespräch mit Journalisten suchte, besonders auf einer Skandinavienreise, die erstaunliche zwölf Zeitungsartikel mit Interviews und kurzen Stellungnahmen Schnitzlers hervorbrachte. Wegen der vielen inhaltlichen Wiederholungen kann die Lektüre dieser Texte ermüden, sie zeigen aber, welches Bild der Dichter von sich in der Öffentlichkeit erzeugen wollte. Er spielte bewusst eine Rolle, zu der auch die wohldosierte Preisgabe eines Stücks seiner Privatheit gehörte. Sein Auftreten scheint dabei stets betont freundlich gewesen zu sein, in fast jedem der Artikel lächelt er mehrmals, wirkt immer aufmerksam, vital und fast noch jugendlich, obwohl er die sechzig überschritten hat. Hat man da voneinander abgeschrieben? Jedenfalls lässt sich die Interaktion zwischen Autor und Presseleuten am besten mit dem Aphorismus aus dem Stück Paracelsus charakterisieren, der auch einem der Interviews als Motto vorangestellt ist: „Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.“ Echt scheint allerdings Schnitzlers mehrmals ausgedrückte Sympathie für Dänemark zu sein, ausgelöst durch einen lange zurückliegenden, glücklichen Dänemark-Aufenthalt und gefördert durch seine gute Beziehung zu dem im europäischen Maßstab höchst einflussreichen dänischen Schriftsteller, Literaturkritiker und Philosophen Georg Brandes, mit dem er seit den 1890er Jahren in Briefkontakt stand.
Schnitzler äußerte sich öffentlich nicht zur Tagespolitik, nahm aber wiederholt Stellung zu Themen, die im Zusammenhang mit seinen Werken diskutiert wurden, vor allem zu dem Komplex Zionismus, Antisemitismus und Judentum, zur Frage nach „Schmutz und Schund“ in der Literatur, die er stets mit dem für ihn ausschlaggebenden Kriterium der ästhetischen Qualität beantwortete, sowie zu den Möglichkeiten des Films, die er zwar nicht generell geringschätzte, die er aber mit einer gewissen ironischen Distanz beurteilte. Bei einem Atelier-Besuch anlässlich der Verfilmung seines Stücks Freiwild sagt er: „Sehen Sie, in wie netter Weise die Herren meine Stücke verbessern.“ Im Zusammenhang mit der Behauptung seines Gesprächspartners, die Filme sollten ja eigentlich zeitlos sein, äußert er den Satz, der für die Edition als Titel gewählt wurde: „Das Zeitlose ist von kürzester Dauer.“
Wiederholt äußerte sich Schnitzler zu Problemen des Urheberrechts und der Tantiemen, um die er sich oft betrogen fühlte. Inwieweit er als freier Schriftsteller mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, lässt sich den Texten nicht entnehmen, jedenfalls fühlte er sich häufig ungerecht behandelt, insbesondere was die Verwertung seiner Texte in Russland und in den USA anging. Immerhin lebte er komfortabel in seinem schön gelegenen Haus in der Sternwartestraße, in dem er oft Besucher in seinem Arbeitszimmer empfing. Im Nachwort heißt es zutreffend, der Dichter habe durch „die Auratisierung des Arbeitsraumes […] dem voyeuristischen Bedürfnis des Lesepublikums“ entsprochen.
Eine ähnliche Abneigung wie gegenüber Interviews hegte Schnitzler gegenüber Rundfragen, die er oft zurückwies oder in knappster Form stichwortartig beantwortete. Daraus erfährt man einiges über seine Lektüren, seine Haltung zur Pornographie, seine pazifistische und proeuropäische Einstellung. Eine Rundfrage über das Duell beantwortete er ausführlich, schickte den Text aber nicht ab. Als liebenswerte Persönlichkeit tritt Schnitzler vor allem in seinen Geburtstagswünschen, Festreden zu runden Geburtstagen und Kondolenzschreiben hervor. In den Porträts von Schauspielern, Theaterdirektoren und Dichterkollegen spiegeln sich sowohl Grundzüge ihrer Werke und ihres Wirkens als auch Schnitzlers Einstellung zu diesen Persönlichkeiten wider. So bewunderte er beispielsweise an Thomas Mann seinen erzählerischen Atem und seinen Humor, der es ihm möglich gemacht habe, ein Werk wie den Zauberberg zu schreiben: „Der Humorist lustwandelt innerhalb der Unendlichkeit.“
In seinem im Neuen Wiener Journal veröffentlichten Brief an Hermann Bahr anlässlich dessen 60. Geburtstags greift Schnitzler Bahrs Frage auf, „was wohl von unseren Sachen in hundert Jahren etwa noch übrig sein werde“. Der Brief erschien 1923, also vor ziemlich genau hundert Jahren. Vom Briefschreiber ist jedenfalls sehr viel übrig geblieben, davon manches, an das er damals vermutlich nicht gedacht hat. Sicherlich muss man ein besonderes Interesse an Arthur Schnitzler und seinem Werk mitbringen, um diese beiden Bände mit Gewinn zu lesen. Jedenfalls machen sie es möglich, sich in einen Schriftsteller zu versetzen, der vor allem in seiner zweiten Lebenshälfte als Person des öffentlichen Lebens – im Sinn des Wortes – gefragt war. Den privaten und auch den jugendlichen Schnitzler lernt man besser durch die Lektüre seiner Tagebücher, der Briefwechsel sowie einer der inzwischen vier Biographien kennen, die über ihn verfasst wurden.
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