Frisch gewagt und viel verloren

Ankalina Dahlem versucht sich mit einer Anthologie kapriziöser Prosa-Miniaturen in Extravaganz und Tiefsinn

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kann man einen Roman in Traumsequenzen schreiben? Handelt es sich um Erzählungen, Märchen, eine Art Suprarealismus? Man könnte meinen, Kafka, Camus und Beckett hätten sich in einer Bar getroffen und Cocteau steht hinter dem Tresen und füllt die Gläser.“ So zu lesen auf der Rückseite des zur Rede stehenden belletristischen Titels.

Dass auf Buchdeckel gedruckte Verlagstexte vorrangig der Werbung dienen, ist eine Binsenweisheit. Der vorliegende, mit Fragen anhebende Verlagstext provoziert allerdings die Gegenfragen, ob man – Werbezwecke hin oder her – denn gleich so übertreiben muss wie dokumentiert und damit das beworbene Buch nicht geradezu unausweichlich der Gefahr aussetzt, an allerdings exzeptionellen Maßstäben mehr oder minder kläglich zu scheitern. Andererseits: Warum dem Verlag einen Vorwurf machen, wenn er vermutlich nur den hoch gegriffenen Selbstanspruch der Autorin wiedergibt?

Zunächst: Bei dem vorliegenden, von der Autorin selbst illustrierten Buch handelt es sich nicht um einen Roman, weder um einen „Roman in 71 Episoden“ (Untertitel) – auch der Begriff „Episode“ wird falsch verwendet – noch um einen „Episodenroman“ – von einer Haupthandlung ist weit und breit keine Spur. Daran ändern weder der wohl auf einen Robert Altman-Film anspielende und darin fehlgehende Zusatz zum Untertitel „Short Cuts“ noch die knappe, kursiv gesetzte und bezeichnenderweise nicht ins Inhaltsverzeichnis aufgenommene Rahmenhandlung etwas, die, selbst ‚suprareal‘, die 71 „Episoden“ als traumgeboren und damit der Erzählerin zugefallen ausweist. Der Roman, eine den Formen nach weiß Gott in alle Richtungen offene und äußerst ‚geduldige‘ Gattung, fragt dennoch nach einem gewissen roten Faden: einem Kern, einem zumindest losen intradiegetischen Zusammenhalt auf personaler, thematischer oder raum-zeitlicher Ebene, der über ein Hyper-Abstraktum wie Conditio humana hinausgeht. Aber selbst dieses Abstraktum bei Reverso in Anschlag zu bringen – der Verlag tut es – bedürfte wohl eines wagemutigen interpretatorischen Freeclimbings.

Und nein, die „Komplexität wie Absurdität“ der menschlichen Existenz wird in diesem Buch nicht „in eindringliche[n] Bilder[n]“ wiedergegeben. Wohl aber wird meist – vgl. hingegen beispielsweise den sechs Seiten umfassenden Erzähltext Am frühen Morgen – „in schnellen Strichen“ gezeichnet, so dass ein Erzähltext auch schon einmal mit sechs oder sieben Zeilen auskommen kann wie im Falle von Ein typisches Frankfurter Mädchen oder Schnell!. Wobei aber auch diese Qualitätsaussage des Verlags einen, nein, gleich mehrere Haken hat.

Zum einen hat die Autorin – sie studierte in den 1990er Jahren Freie Malerei und Bildhauerei; nach den mir nicht bekannten „Romanen“ Zurück nach Limader vergiftete Prinz (2015) und Universe far (2019) ist Reverso ihr dritter „Roman“ – eine ausgeprägte Vorliebe für bildhafte Vergleiche. Die aber gehen häufig genug schief, widersprechen dem erzählten Kontext oder sind von einer geradezu stupenden Kühnheit. Einige Beispiele: 

Vier Kilometer von meinem Haus am See entfernt, war der Tank leer und trocken wie der Atem einer schlafenden Schildkröte. / Enrico flog den schwarzen Wagen über den Berg wie ein Learjet. Es jagte ihn die Angst, der Frau seines Bruders restlos wie ein Häufchen Kakao zu verfallen. / Wie im Zeitraffer glitt ihre rechte Hand über das kühle blütenweiße Bettlaken […]. / Es war der Abend der schwarzen Strickkleider […]. Vielleicht lag es auch am Schnee, der einen weißen Pelz über die Stadt gelegt hatte, und an den Frauen, die sich wie eine Klaviertastatur aufgestellt hatten. / […] ihr Haus war gestopft mit Büchern wie die Strumpfhosen der ärmsten Kinder. / Mein Schwanz hing schlaff an mir herunter wie ein Putzlumpen am Besen.

Zum anderen ist es so, dass die Erzählminiaturen von Sätzen, die den Aussagen nach nicht aufgehen oder die gestelzt daherkommen, sowie von abgegriffenen oder redundanten Formulierungen wimmeln. Da hilft es auch nicht, dass man mit „gulpen“ (In wilden Strähnen) einem unbekannten, gut klingenden, als Tätigkeit Schlangen zugesprochenen Wort begegnet – was ist gemeint, der Text gibt keinen Aufschluss, ganz zu schweigen vom Duden oder generell vom Netz? Wiederum einige Beispiele: 

Mit dünnen Ästchen zielte der Schöne gekonnt vorsichtig auf das Vögelchen. / Ich trank Unmengen Wodka, das Getränk meiner Heimat. Ich bin zur Hälfte Russe. Nachdem ich etwa die halbe Flasche geleert hatte […]. / Fiebrig zog ich ihr den kleinen schwarzen Slip aus […]. / Gierig suchte mein Schwanz ihren Tempel.

Zum dritten widersprechen viele Geschichten wie Als ob ihre Beine, Vor hundertzwanzig Jahren und Die Kinder waren doch dabei! ihrer – Traum hin oder her – eigenen Logik, sind von brüchiger Kohärenz oder selbst im übertragenen Sinn schlicht unglaubwürdig. Im erst genannten Text baut sich eine Frau, die sich kurioser Umstände halber nicht mehr fortbewegen kann, eine Maschine zur Fortbewegung, kann nunmehr aber „niemanden mehr [Hervorhebung G.H.] besuchen“, der nicht parterre wohnt, da die Maschine keine Treppen bewältigen kann. Der erste Satz des zweiten Textes lässt wissen, dass die Familie der Protagonistin Lea Müller vor einhundertzwanzig Jahren nach Haifa „emigriert“ sei. Nachfolgend spielt dieser Sachverhalt allerdings keine Rolle mehr. Und glaubt man, zum dritten, dass ein Vater eine bei Rot über den Zebrastreifen gehende Frau absichtlich totfährt, um seinen mit ihm fahrenden Kindern zu lehren, dass man bei Rot nicht über die Ampel geht? Soll der Text vielleicht als Parabel gelesen werden? Was wäre dann der Lehrsatz?

Was nebenbei deutlich geworden sein dürfte: Ankalina Dahlem verfügt über eine blühende, ja wild wuchernde Phantasie. Dagegen ist grundsätzlich selbstverständlich nichts einzuwenden, insofern – – – aber hier soll ja nicht ausufernd gefachsimpelt oder gar zensuriert werden. Dahlems Phantasie jedenfalls tobt sich bevorzugt im Grotesken, Skurrilen, Gruseligen und Verstiegenen aus, doch finden sich auch leisere, märchenhafte und phantastische Züge wie in E und A und Das grüne Reh. Dennoch setzt sie in erdrückender Mehrzahl auf Knalleffekte.

Beispielsweise heißt es im letzten Satz von Erschöpft, einer Sie-Erzählung, dass vom Leben einer Brieftaube und nicht, wie der Leser bis dahin glaubt, von einer Frau erzählt worden sei. Vorher hat man freilich – wie geriet der Leser bloß auf die falsche Fährte? – über die Brieftaube Stellen wie die folgende gelesen: „Sie war überrascht, als sie die Frau erblickte. […] Ihr Gesicht erinnerte sie an Medaillons aus der hellenischen Zeit.“ Andere Beispiele sind Schon früh, wo zum Schluss von biologisch, physikalisch und (tier-)psychologisch äußerst Unwahrscheinlichem erzählt wird, oder Schnell!, wo jemand über die noch aus dem Boden herausschauenden Ohren eines begrabenen Hasen gestolpert sein und sich dabei das „rechte Bein gebrochen“ haben will. Ob die steil aufragenden Hasenohren, die dem Text zur Illustration beigegeben sind, Zweifel am Erzählten ausräumen und es beglaubigen sollen?

Aber es gibt auch Miniaturen, wo der Knalleffekt darin besteht, dass ein Geschehen mit dramatischem Potential ein ganz banales Ende findet wie in dem Dialog zwischen Mann und Frau Bist du traurig?. Da stellt sich zum Schluss und nach bohrendem Nachfragen der Frau heraus, dass der Mann deshalb bedrückt ist, weil er „uns ja extra Eiswürfel rausgestellt“ hat, die aber „alle geschmolzen“ sind.

Thematisch geht es in Reverso vor allem um Sex und Erotika, um One-Night-Stands, Affären und Liebesgeschichten wie in Nach knapp zwölf Jahren, Am frühen Morgen, Thomas Schwarzbacher und vielen weiteren. Dabei spielt das Extravagante eine große Rolle, beispielsweise in Die kleine Frau, wo von einer Frau erzählt wird, deren „Spalt […] nicht vertikal sondern horizontal“ ist. Selbst in einer thematisch anders gelagerten Geschichte wie Mein Freund taucht das Thema auf – „Schließlich brauchte er eine schöne Aussicht, außerdem konnte man von dort den Eichhörnchen gut beim Schnackseln zusehen.“ –, so dass einem Begriffe wie Obsession und Frauenphantasien in den Sinn kommen.

Es gibt aber auch Texte, die von Kunst und vom Kunstbetrieb (Wo sind denn eigentlich, Oh Gott, Die Malerin) handeln, vom Schreiben (bspw. Am liebsten würde ich eine wilde Geschichte schreiben), von Autobiographischem (In wilden Strähnen) oder von Identität (Optiker), sodass für eine recht begrenzte thematische Bandbreite gesorgt ist.

Ein Hinweis noch auf eine ganze Anzahl von Fehlern, die ein sorgfältiges Lektorat hätte vermeiden können, beispielsweise auf eine nach dem gewählten amerikanischen Kontext falsche Datumsangabe (30/4/01) gleich zu Anfang, „Zahntausend“ statt „Zehntausend“, „Die Zeit reicht nicht sie aus“, „Ober dem linken Auge“, „Am Nachmittag des 12. Oktobers“ und „so stelle ich es mir“ – es fehlt das Wort „vor“.

Nach so viel Kritik zum Schluss aber der Hinweis auf drei Texte, die mir, da weitgehend frei von allem Gesuchten, gefallen haben – die Kriminalgeschichte mit Auschwitz-Hintergrund Die Polizei fand den alten Mann, die ‚Familiengeschichte‘ Kriegerisch wie eine Amazone sowie die Liebesgeschichte Als er auf die Welt kam –, und ein Geständnis obendrein: Die letzten 20 Geschichten habe ich, ermüdet von der Lektüre, nicht mehr gelesen. Wie sehr würde ich mich aber für das Buch freuen, sollte mir dadurch etwas entgangen sein.

Titelbild

Ankalina Dahlem: Reverso. Short Cuts: Roman in 71 Episoden.
edition faust, Frankfurt am Main 2023.
176 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783949774249

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