Von unerlaubten Wörtern
Zwölf Autor*innen debattieren in der Aufsatzsammlung „Canceln“ über die Frage, wie wir mit Diskriminierungen in der Literatur umgehen
Von Nora Eckert
Mit Canceln ist gemeint, dass diskriminierende Äußerungen, Haltungen und Begriffe aus Texten und Diskursen verschwinden sollen, weil sie als rassistisch, sexistisch, kolonialistisch, antisemitisch und als diskriminierend in Bezug auf geschlechtliche und sexuelle Identität gelten. Klingt eigentlich selbstverständlich, zumindest für jene, die kein Interesse am Diskriminieren haben. Doch gegen das Verschwinden gerade problematischer Begriffe gibt es Protest, der von „Cancel Culture“ spricht und kulturkämpferisch auftritt.
Es wiederholt sich hier, was bereits im Zusammenhang mit „Political Correctness“ ein Thema war. Beidem liegt der Vorwurf zugrunde, man dürfe wohl nichts mehr sagen. Warum aber sollte man offenkundige Diskriminierungen sagen und gar noch als Meinungsfreiheit verteidigen wollen? Und wie sieht das bei historischen Texten aus? Geschichte kennt keinen Rückwärtsgang. Also, was tun?
Die Kritik an Cancel Culture spricht von einer „Verbotskultur“, vom Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit. Aber was wäre beispielsweise an Rassismus rationales Urteil? Unter den zwölf Autor*innen des hier zu besprechenden Bandes befindet sich auch Adrian Daub, der sich bereits eingehend und sehr beeindruckend mit dem Thema befasst hat und in dem Vorwurf Cancel Culture vor allem eine moralische Panik am Werk sieht, die wenig geeignet sei, die Realität wiederzugeben. So oder so, wir betreten in jedem Fall vermintes Gelände. Was ist nun wirklich Zensur, und wozu sollte Meinungsfreiheit um jeden Preis und gegen alle Rücksicht gut sein, wenn es doch nur um Diffamierung geht?
Mit Blick auf den Buchmarkt scheint jedoch eines klar: Noch ist nicht alles über Cancel Culture gesagt so wenig wie über „Wokeness“. An der Zahl der Neuerscheinungen ist wie an einem Barometer der gesellschaftliche Erregungszustand ablesbar. Natürlich wollen alle recht haben und verlieren sich gern in Rechthaberei. Am wenigsten wohl gelitten ist die sogenannte Identitätspolitik, die als Verhängnis gilt, weil sie die Gesellschaft angeblich spalte. Dabei wird ständig übersehen, dass noch jeder Kampf um Anerkennung notwendigerweise von identitätspolitischen Merkmalen gekennzeichnet war. Yascha Mounk spricht in seiner jüngsten Publikation vom Zeitalter der Identität, aber als Bedrohungsszenario. Darin seien Ideen zu race, Gender und sexueller Orientierung zur Ideologie mutiert, für die er anstelle von Identitätspolitik den neuen Begriff „Identitätssynthese“ verwendet. Aber verbanden sich damit nicht schon vorher Ideologien, und zwar ziemlich üble? Manchen scheint der Abschied davon schwerzufallen.
Dass die neue Ideologie brandgefährlich sei, wird uns stets versichert. Von Kulturkampf im Namen von Liberalismus und Universalismus ist die Rede, eingerahmt von apokalyptischen Kulissen. Und sie sei es auch, die Schuld am Erstarken der Rechten und des Rechtspopulismus trage, und zwar nach der simplen Formel, weil die einen Gerechtigkeit fordern, die ihnen bislang vorenthalten wurde, fühlen sich die anderen, die diese Gerechtigkeit als Selbstverständlichkeit für sich beanspruchten, ungerecht behandelt, als ob ihnen etwas weggenommen werde. Sie verstehen die Welt nicht mehr und radikalisieren sich deshalb in Richtung politisch rechts.
Rechtsruck als Reaktion auf mentale Überforderung, ist es das? Aber lässt sich der sogenannte Backlash wirklich auf diese Weise erklären? Also lassen wir am besten alles beim Alten und alles wird wieder gut. So vielleicht? Ist demnach das Verbot von gendergerechter Sprache bereits die Rückkehr in die vermeintlich heile Welt von gestern?
Allerdings ließe sich über das Thema Identität auch ganz unaufgeregt sprechen, wie dies vor ein paar Jahren Kwame Anthony Appiah mit Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit gelungen ist. Eigentlich ist Appiah nur näher an die Dinge herangetreten und hat sie mal eben zu Ende gedacht, und zwar in der Art: „Geht einmal Euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden.“ Den Satz kennen wir aus Büchners Danton’s Tod und der passt generell, wie ich meine, auch zweihundert Jahre später. Also nichts gegen Realismus.
Schauen wir uns an, was den Autor*innen von Canceln dazu eingefallen ist und wie nahe sie an die Dinge herangetreten sind, wie sie mit Diskriminierungen in der Literatur umgehen und was sie dazu vorschlagen. Denn mit Blick auf die Debatte um Cancel Culture wird auch klar, dass Paradoxien gerade eine Hochkonjunktur erleben, indem beispielsweise Identitätspolitik kritisiert wird, um gleichzeitig Identitätspolitik für die weiße Mehrheitsgesellschaft zu betreiben; kritisiert wird das Jammern und dabei übersehen, dass die Kritik ständig jammert. Auch der Vorwurf Hysterie ist beliebt, ohne die eigene Hysterie zu bemerken – man denke nur an das „Ausflippen“ über das Gendersternchen und die gendergerechte Sprache. Ständig ist von Zensur und Sprechverbot die Rede und die Kritik tut genau dies: zensiert und verbietet das Sprechen. Während auf der einen Seite der Teufel an die Wand gemalt wird mit „gesäuberten“ Bibliotheken, übt dies der Teufel auf der anderen, nämlich politisch rechten Seite bereits als Praxis aus.
Für Ijoma Mangold sind Cancel Culture und Wokeness längst „gegessen“. Er macht es sich damit besonders leicht. Das sei ja nur Aufruhr in der Blase und die identitätspolitische Orthodoxie habe sich ohnehin schon zu Tode gesiegt. Seine Antwort ist deshalb Gleichgültigkeit. „Hinter der Cancel Culture steckt die seltsame Vorstellung, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn nur das Richtige und Gerechte gesagt werden würde […].“ Der Satz gibt zu verstehen, dass seiner Unlust ein eklatanter Mangel an Sprachbewusstsein zur Seite steht. Da böte sich eine Lektüreempfehlung an: Wie wäre es mit Dolf Sternbergers Wörterbuch des Unmenschen.
Interessanter, weil intellektuell anspruchsvoller, sind dagegen einige der Beiträge, die sich mit konkreten literaturwissenschaftlichen Fragen befassen – so etwa mit Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo, mit Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, mit Shakespeares Othello, Monika Marons Sehschwäche auf dem rechten Auge, mit Enid Blytons höchst problematischem literarischen Erfolgsrezept und dem allgegenwärtigen Fall J. K. Rowling und schließlich mit der Frage, wer Amanda Gormans Gedichte übersetzen darf. Darin finden sich von Fall zu Fall bedenkenswerte Anregungen und Vorschläge.
Anderes dagegen darf ruhig überblättert werden, weil nur die hinlänglich bekannte Polemik gegen Cancel Culture aufgewärmt wird – so in Konrad Paul Liessmanns Beitrag. Gewiss, es geht immer auch um Machtfragen, um Deutungshoheit und Meinungsführerschaft – das alles steckt auch in dem Streit. Nur sollten wir nicht wie Liessmann übersehen, wie raffiniert und erfolgreich die vermeintlich Gecancelten die Machtfrage für sich beantworten – Stichwort „mediale Präsenz“. Gecancelt zu werden, kann dem Gecancelten auch nützen und das ist keineswegs paradox.
Hanna Engelmeier hat in ihrem Beitrag über Kleists Erzählung völlig recht, wenn sie schreibt, ein literaturwissenschaftliches Seminar habe seinen Zweck verfehlt, wenn es als Diskussionsergebnis lediglich festhält, „dass Sklaverei zu verurteilen und Gewalt schlecht ist“. Wenn wir heute das N-Wort nicht mehr verwenden, weil sich damit das Anliegen verbindet, „verletzende Sprache nicht reproduzieren zu wollen und, so gut es geht, Distanz zum rassistischen Erbe der deutschen Sprache einzunehmen“, dann doch vor allem, „um damit die sprachliche Gewalt zu beenden, die von ihm ausgeht“. Das sollte wohl einleuchten.
Die Frage, ob Kleist ein Rassist war, lässt Engelmeier zunächst durch Ruth Klüger beantworten, die ihn gegen jeden Verdacht in Schutz nahm, weil sie „bereits auf der Ebene des Satzbaus Kleists Parteinahme für das ‚Herz auf verlorenem Posten‘“ erkannte. Alle Figuren würden ihren „moralischen Kompass“ verlieren, „weil sie sich nicht aus der Verstrickung in ihre historischen Umstände befreien können“. Und das N-Wort durch Schwarz zu ersetzen, würde dem Text nichts nehmen. Als historischer Text bliebe er archiviert und in seiner Historizität erhalten.
Wobei die Erzählung auch ohne jegliche Trigger-Warnung denkbar ist. Engelmeier verweist hier auf Dorothee Elmigers Aus der Zuckerfabrik, einer Nachdichtung, die zugleich eine Überschreibung ist – mit dem Ergebnis: „Anders als Klüger muss sie den Autor nicht zu ihrem unbescholtenen Zeitgenossen machen, um den Text als unbedingt lesbar und instruktiv zu erhalten.“ Und weiter „Elmigers Antwort besteht in einem literarischen Aneignungsverfahren, das sich zur Nachahmung anbietet. Voraussetzung ist, dass man Kleist liest.“
Was Shakespeares Othello anlangt, so meint Jürgen Kaube zu Recht, müsse man doch wohl zwischen einem rassistischen Stück und einem über Rassismus unterscheiden, wobei das Konzept „Rasse“ für Shakespeare noch unbekannt war. Ist ein Kunstwerk rassistisch, helfe ihm auch die schöne und perfekte Form nichts. Und wie im Fall von Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb, wo erbittert darüber gestritten wurde, wer dieses Gedicht einer Schwarzen übersetzen darf, wird ebenso im Fall Othello gestritten, wer darf wen spielen. Diese Frage kann nicht wirklich ernsthaft gestellt werden, denn zu Ende gedacht hieße das, nur ein Jude darf Shylock, nur ein Däne Hamlet, nur eine Ägypterin die Kleopatra usw. auf der Bühne verkörpern. Schauspieler*innen spielen immer jemanden, der*die sie selbst nicht sind. Die Legitimation zum Spiel liegt allein im künstlerischen und darstellerischen Vermögen. Weshalb die Antwort ohne rassistischen oder sexistischen Ausschluss gilt – eine Schwarze Desdemona, ein japanischer Macbeth oder ein weiblicher Hamlet und Lear. Dies als Überlegungen, die Kaubes Ansatz weiterdenken, wie ich meine, und die mir als ebenso legitim wie realitätsnah erscheinen.
Und das künstlerische Vermögen ist auch das alleinige Kriterium bei Übersetzungen, sollte es zumindest sein, weshalb mir Daniela Strigls kritischer Kommentar zu der unseligen Übersetzungs-Debatte um Gormans Gedicht berechtigt erscheint: „Nicht die individuelle Fähigkeit, das Gedicht der Stunde inhaltlich und formal angemessen zu übertragen, war nunmehr ausschlaggebend, sondern der Grad der Verwandtschaft mit der Dichterin in Herkunft und Habitus.“ Was hier zähle, sei nur noch die Optik. Es sieht so aus, als habe man Identitätspolitik tatsächlich nur als Mittel im Verteilungskampf eingesetzt. Das muss man so klar sagen.
Lothar Müller zitiert in seinem Beitrag den Schwarzen Juristen und Harvard-Professor Randall Kennedy, der beim Thema rassistischer Begriffe (wie etwa dem N-Wort) eine strikte Unterscheidung vornimmt, und zwar „zwischen illegitimen Gebrauchsformen des N-Worts als Beleidigung und ‚hate speech‘ und legitimen kulturellen Formaten und in der Wissenschaft“. Auch weist Kennedy die Forderung zurück, eine pädagogische Lizenz für den legitimen Gebrauch sei an die Hautfarbe des Sprechers gebunden. Für die Zitierbarkeit im Sinne einer Kritik gebe es keine Einschränkung, denn es gehe ja um die Kenntlichmachung von Rassismus. Fraglich allerdings, ob Kennedys Unterscheidung von illegitim und legitim im Lehr-Alltag wirklich funktioniert.
Am Ende des Bandes plädiert Johannes Schneider nicht wie Ijoma Mangold am Anfang für die Gleichgültigkeit, sondern für mehr Nüchternheit und Realismus, denn als ein intellektueller Streit kommt ihm die Sache ganz und gar nicht vor. Alles in allem und mit nur wenigen Einschränkungen bietet der Band eine Reihe diskussionswürdiger Beiträge. Im Übrigen stimme es einfach nicht, so Schneider, dass etwas wirklich gecancelt sei, was uns freilich nicht daran hintern darf, Diskriminierungen als solche zu kennzeichnen – im Gegenteil:
Cancel Culture hat Karriere gemacht als politischer Kampfbegriff der Rechten nach links, während die gleichen Personen für rechte Hetze, die wirklich Stimmen zum Schweigen bringt (in Deutschland durch die Einschüchterung, anderswo auch durch Jugendschutzgesetze, Book Bans und dergleichen mehr) beziehungsweise für die Beschwerde darüber nur Tränenlachsmileys übrighaben.
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