Solidarität als Naturzustand?

In ihrer Monographie umkreist Karen Gloy den Begriff der Solidarität auf vielfältige Weise und verliert sich dabei in teils recht eigensinnigen Aussagen

Von Lucas AltRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lucas Alt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karen Gloy geht es in ihrem Text ganz augenscheinlich um eine gleichermaßen knappe wie universelle Beschreibung des Solidaritätsbegriffs. Den Ausgangspunkt ihrer 138 Seiten starken Untersuchung bildet eine schlüssige Differenzierung der Kategorien Individuum und Kollektiv. Nun folgt allerdings keineswegs eine intensive Beschäftigung mit dem titelgebenden Phänomen, etwa indem relevante Forschungsergebnisse dieses interdisziplinär doch recht intensiv erforschten Gegenstands präsentiert würden. Die Verfasserin entscheidet sich vielmehr für ein kontrastives, stellenweise dialektisches Vorgehen in Exkursen. Dabei steht – sowohl in historischer wie auch geografischer Hinsicht – ein gewisser anthropologischer Universalismus Pate. Zunächst finden sich Reflexionen über die Entgrenzung des Eigenen im Anderen, für die Gloy auf essentialistische Erzählungen, u.a. aus Religion, Psychoanalyse und Mythologie zurückgreift, um die ‚Versunkenheit des Ich im Anderen‘ zu naturalisieren und gewissermaßen als Konstante allen Menschseins auszuweisen. Gloy operiert zudem mit der alten Vorstellung, dass westliche Gesellschaften individualistisch seien, während sich Angehörige (fern-)östlicher Kulturen am Kollektiv orientierten. Dass die Verfasserin ihre Ausführungen mit Anekdoten ihrer eigenen Reise- und Forschungstätigkeiten untermauert, lässt sich kritisieren, trägt aber auch zum Unterhaltungswert bei.

An diese grundlegenden Überlegungen, denen man (auch aufgrund des suggestiven Tons) über weite Strecken folgen möchte, schließt nun eine nicht ganz unproblematische Differenzierung an. Gloy skizziert verschiedene kulturelle Sozialformen zwischen Egoismus und Altruismus und teilt diese in ‚übersteigerte‘ und ‚ausgewogene‘ ein. Die zugrundeliegende Normativität wird allerdings nicht näher reflektiert, was aufhorchen lässt. Vielmehr setzt der Text das stille Einverständnis seiner Leser:innen voraus, die ganz augenscheinlich auch demselben (nämlich westlichen) Kulturkreis angehören sollten. Gerade die Gloy zufolge ‚übersteigerten‘ Formen altruistischer Beziehung (die er meist als im Grunde egoistische analysiert), entstammen nämlich überwiegend einer nicht-westlichen Welt, während sich die ‚ausgewogenen‘ Verhältnisse in einer idealistisch-konservativ gezeichneten Gegenwart westlicher Prägung verorten.

Die reale Gegenwart unterzieht die Verfasserin dabei mitunter einer harschen Kritik, etwa wenn sie den Abbau der Sozialbeziehungen in der digitalen Kommunikationskultur beklagt. Weitere Themen der Kulturkritik sind die Gesellschaftsverhältnisse unter Corona oder die anhaltende multiple Krise. So sehr man der grundsätzlichen Sorge Gloys hier zustimmen möchte, die dargelegten Meinungen zu aktuellen politischen Themen wirken mitunter deplatziert und oftmals auch wenig informiert – es handelt sich um oberflächliche Kulturkritik.

Nicht ganz klar wird auch, wie genau die Beobachtungen und Exkurse der Verfasserin nun im Zusammenhang mit dem eigentlichen Thema des Buchs stehen. Zwar staunt man oftmals über die vielfältigen Wissensbestände, die Gloy in ihre Vorüberlegungen zum Solidaritätsbegriff einbringt, am Ende widmet sie diesem allerdings lediglich knappe elf Seiten. Eine gründliche wissenschaftliche Arbeit findet hier nicht statt: Zu Beginn des Kapitels werden einige Literaturhinweise gebündelt hinterlegt, der weitere Text besteht vorwiegend aus einer freien Assoziation, die kaum mehr auf Quellen und Bezugnahmen angewiesen zu sein scheint. Ärgerlich ist dabei vor allem, dass Gloy sich mit einem sehr eindimensionalen, letztlich exkludierenden Solidaritätsbegriff begnügt, wenn sie festhält: „Einzelgruppen stehen in der Durchsetzung ihrer Ziele stets in Konkurrenz zueinander, so dass es keine Solidarität einer Einzelgruppe gibt, die sich nicht zugleich in Konkurrenz zu einer anderen Einzelgruppe befände. Solidarität ist stets tendenziell.“ Die Parameter Essentialismus, Normativität und Eigensinn, die Gloys Text von Beginn an prägen, fließen in einer zynischen, aber gleichermaßen ignoranten Gegenwartsdiagnose zusammen, die die Möglichkeit einer gruppenübergreifenden, etwa internationalen, Solidarität schier undenkbar erscheinen lässt: Bezogen auf die Gesamtaussage von Gloys Text lässt sich nicht nur fragen, inwieweit die zahlreichen exotisierenden Exkurse im Vorfeld der Arbeit am Solidaritätsbegriff dienen, auch bleibt fraglich, ob Gloys Text überhaupt den Kern der Sache zu treffen vermag. Bei allem Verständnis für eine kritische Perspektive auf den Begriff der Solidarität – möglicherweise wäre ein anderer Titel für dieses Buch zielführender gewesen.

Als Leser:in mit einem Interesse für anthropologische Sensationen mag man Gloys Ausführungen vielleicht etwas abgewinnen können. Spannend lesen sich etwa die Rückgriffe auf Quelltexte europäischer Kulturgeschichte. Die Beschreibungen fremder Völker und Kulturen, die oft ins Anekdotenhafte abgleiten, erinnern hingegen an eine abenteuerliche und kolonialistisch geprägte Ethnologie vergangener Jahrhunderte. Ob derartige Be- und Überschreibungen des Anderen heute noch zeitgemäß sind, darf durchaus bezweifelt werden. Gerade im Angesicht der multiplen Krisen unserer Zeit, die nicht nur Gloy mit Sorge erfüllen, wären vielleicht etwas mehr pragmatischer Optimismus und der Glaube an eine Solidarität als „Zärtlichkeit der Völker“ (Gioconda Belli) hilfreicher als die völlige Absage an ein genauso wertvolles wie dringend benötigtes Konzept zwischenmenschlichen Zusammenhalts.

Titelbild

Karen Gloy: Solidarität. Formen der Beziehung zu Anderen.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
151 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783826081477

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