Eine neue Comic-Biographie zu Kafka
Nicolas Mahler hat Leben und Werk von Franz Kafka gezeichnet
Von Wilfried Ihrig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer österreichische Comic-Zeichner Nicolas Mahler zeichnet seit Jahren erzählerische Comics nach literarischen Vorlagen, zunächst aus Österreich Alte Meister von Thomas Bernhard und Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, danach Werke der Weltliteratur wie den Ulysses von James Joyce. Er hat sich von dem Begriff Graphic Novel, den viele Comic-Zeichner und Forscher verwenden, distanziert, seine Comics sind zu minimalistisch für den Begriff Roman. Komplett Kafka ist Mahlers erster Comic, der die Biographie eines Schriftstellers erzählt, eine Comic-Biographie von Franz Kafka.
Die Comic-Biographie ist, wie die Gattung Biographie vorgibt, chronologisch strukturiert. Mahler hat viele Quellen verarbeitet, viele Zitate zu einer modernen Montage zusammengefügt. Die Biographie steht unter dem Motto “Betrachten Sie mich als einen Traum”, was sie in die Nähe der undeutbaren Alpträume Kafkas stellt, aber den Leser nicht etwa dazu aufruft, den Text einer ridikülen psychoanalytischen Traumdeutung zu unterwerfen. Er beginnt: “Prag. Bei Rabbi Löw brennt noch Licht. Aber kein elektrisches.” Es folgt eine Zeichnung von altertümlichen Häusern und einem einzigen erleuchteten Fenster, darunter nur die Worte: “Wir schreiben das Jahr 1852.” In dieser Nacht kreiert der legendäre Rabbi Kafkas Vater, Jahre später auch Kafka. Mahler erzählt einen Traum aus dem Mythos, nicht aus dem Schlaf.
Fast alle Blätter zeigen Text und Bild, von den letzten zwei Blättern ist eines gezeichnet, eines betextet. Die Zeichnung zeigt Kafka und den Vater, der Text nennt Kafkas Todesdatum und die Todesumstände wichtiger Frauen in seinem Leben, mit einer Ausnahme alle Opfer des Nationalsozialismus. Danach folgen, abwechselnd, Text-Bild-Blätter mit Zitaten aus dem letzten Interview von Max Brod über Kafka und viele Textseiten mit Anmerkungen, Quellen und Materialien. Brod beklagt: “In jeder Stadt sitzt ein Narr, der, wenn ich einen Vortrag gehalten habe, zu mir kommt und irgendeine abstruse, gänzlich unbegründete Meinung zu Kafka eröffnet.”, vor Mahlers Liste seiner Materialien. Als unbegründet darf man seine Meinung danach nicht bezeichnen. Das letzte Wort hat Brod: “Ich glaube nicht, daß es ein Vorteil ist, Kafka nicht gekannt zu haben.” Dem hat Mahler nichts hinzuzufügen, auch er hat Kafka nicht gekannt.
Die Biographie ist chronologisch, aber Mahler versucht nicht, eine illusorische Kontinuität herzustellen. Die Zitate werden durch minimalistische Kommentare eingeordnet, mit Lücken, die er nicht zu füllen versucht. Anfangs verwendet er den Brief an den Vater, bald auch Kafkas Tagebuch, Briefe und literarische Texte. Die wenigen Zitate, die nicht von Kafka sind, stammen von Brod und zeitgenössischen Kommentatoren.
Angefangen mit den ersten Veröffentlichungen Kafkas bildet die graphische Erzählung einzelner Erzählungen und der Romane längere Passagen der graphisch erzählten Biographie. Mahler gelingt das Kunststück, Literatur-Comics in die Comic-Biographie einzufügen, ohne zu suggerieren, Kafkas Figuren wären mit Kafka identisch. Die Erzählung Die Verwandlung, schon Vorlage für ein Gedicht mit Bild in Mahlers solar plexy (2018), und die Romane werden als Comics erzählt, bevor die Erzählung Der Hungerkünstler Kafkas Hungertod infolge von Tuberkulose vorwegnimmt. Damit erscheinen Literatur-Comics in die Comic-Biographie integriert, nicht der Biographie gleichgestellt.
Es gibt eine Zeichnung Kafkas von einem Mann auf einem Stuhl mit dem Kopf auf einem Tisch, mit wenigen Strichen gezeichnet, berühmt geworden als Einbandillustration der Taschenbuchausgabe des Romans Der Prozeß (1960). Ein Comic von Robert Crumb mit dem Titel Stoned agin (Wieder bekifft) zeigt einen Mann, der reglos an einem Tisch sitzt, von Haschisch euphorisiert zerfließt der Kopf, postsurrealistisch, nicht ‘kafkaesk’. Deshalb wäre nicht an Crumb zu erinnern, hätte er nicht die erste Comic-Biographie Kafkas veröffentlicht. Komplett Kafka ist die zweite Comic-Biographie Kafkas. Crumb hat Kafka gezeichnet wie Crumb immer zeichnet; Mahler hat Bilder zum Kontext gezeichnet wie er immer zeichnet, aber wenn er Kafka zeichnet, nimmt er Bezug auf die bekannte Zeichnung, zeichnet Kafka wiederholt wie Kafka sich, oder zumindest K, selbst gezeichnet hat. Das Buch von Crumb erschien in unzähligen Ausgaben und Übertragungen. Eine deutsche Ausgabe hieß Kafka Kurz und Knapp, es scheint, als hätte sie Mahlers Titel angeregt, auch wenn er in seinen Materialien nur die deutsche Ausgabe Kafka anführt.
Die Forschung hat, wenig überraschend, festgestellt, dass Mahler Autoren und Werke wählt, die Grundgedanken seiner eigenen Werke nahekommen. Mit Kafka wählt er einen Autor, der seiner Gedankenwelt nicht nur in Romanen entgegenkommt. Der von Mahler selbst gestaltete Einband gibt ein Zitat wieder, in dem sich Kafka als Zeichner darstellt: “Du, ich war einmal ein großer Zeichner … ich werde Dir nächstens paar alte Zeichnungen schicken, damit du was zu lachen hast.” André Breton hat Kafka, der in Deutschland als ernster, geradezu düsterer Autor gilt, in die Anthologie de l’humour noir aufgenommen; Mahler begreift Kafka als komischen Zeichner, als Vorläufer des künstlerischen Comic. Er ist vermutlich der erste, der den Zeichner Kafka als künstlerisches Vorbild gewählt und ihm damit einen Platz in der Kunstgeschichte eingeräumt hat. Den Roman Das Schloß bezeichnet Mahler als Vampirroman ohne Vampir, er vergleicht ihn mit Murnaus Film Nosferatu. Weniger überraschend erscheint der Vergleich, wenn man an Loriots Bildgeschichte Der Vampyr denkt, die einen Mann am Schreibtisch zeigt, mit wenigen schwarzen Strichen, nur nicht in Kafkas Zeichenstil. Loriot hat nie wie Kafka gezeichnet, aber Mahler deutet vielleicht an, dass es in Loriots Werk eine Anregung des Zeichners Kafka zu vermuten gibt.
Mahlers minimalistisches Zeichnen ist Kafkas Zeichenstil verwandt, zu dessen Lebzeiten es keine Ausstellung der Zeichnungen gegeben hat. Die meisten wurden erst 2021 in einem Bildband publiziert, der unter Materialien genannt wird. Er hat minimalistisch mit wenigen, meistens schwarzen Strichen gezeichnet, gern die eigene magere Figur, in desillusionierten Posen. Die Zeichnungen wurden verglichen mit Werken von Paul Klee und Alfred Kubin, sie lassen auch an Graffiti von Harald Naegeli, Zeichnungen einiger Karikaturisten oder Plastiken von Alberto Giacometti denken, sind aber früher entstanden. Er selbst hat sich für einen guten Zeichner gehalten, inzwischen wird er als solcher gewürdigt, die Zeichnungen werden erforscht.
Mahler zeichnet den Kontext in seiner gewohnten Art, minimalistisch, treffend. Aber Kafka zeichnet er in Kafkas Manier, wie um zu zeigen, dass Kafkas Zeichnungen großartig waren und er auf derselben Ebene fortzuzeichnen fähig ist, vielleicht auch um anzudeuten, dass es keine treffendere Art gäbe, Kafka zu zeichnen, als wie er sich selbst gezeichnet hat. Eine Illustration zu dem Begriff Doppelleben zeigt, an die berühmte Zeichnung erinnernd, zwei Kafkas, die sich am Schreibtisch gegenüber sitzen. Eine Koketterie mit dem Kongenialen, die es gleichzeitig vorführt, ironisiert und aufhebt, kennzeichnet schon Einband und Titelblatt, genannt werden nur die Namen Kafka und Mahler, beide Vornamen wurden weggelassen. Mahler reiht sich nicht ein unter die Verkäufer, wie die berühmte Formulierung Brechts lautet, er reiht sich gleich ein unter die modernen Klassiker, als Nachfahre Kafkas, provokativ und selbstironisch.
Aus Kafkas Junggesellenbiographie ist zu lernen, welche Anstrengung es kostet, sich jede Ehe zu ersparen. Dies prägt auch Komplett Kafka. Das Thema Sex wird nur angedeutet, in der Comic-Biographie von Crumb, dem Zeichner berühmt-berüchtigter Comics for adults, wird es zynisch hervorgehoben, Sex als Strafe für Unterhaltung. Mahler ist weniger anstößig, was den künstlerischen Rang seiner Arbeit nicht mindert. Nur ist er vielleicht nicht frei von der Prüderie deutschsprachiger Comic-Zeichner, wenn er neben der Dauerverlobten Felice Bauer deren Freundin Grete Bloch erwähnt, aber nicht, dass Kafka mit ihr unkomplizierten Sex ohne Bindungsabsicht gehabt haben dürfte. In Mahlers Buch macht eine plötzliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands Kafka bewusst, dass die Krankheit natürlich das kleinere Übel ist, verglichen mit jeder Ehe.
Das Buch ähnelt einem Künstlerbuch, nur das Impressum macht es als Taschenbuch kenntlich. Der Titel auf dem festen Einband ist wie eine Kolorierung, ein tastbarer Farbauftrag. Die Einbandzeichnungen wirken wie von Kafka, eine variiert die Zeichnung des Mannes am Tisch. Aber die Farben bleiben Mahlers Geheimnis, in Alte Meister verwendet er gelb, in Der Mann ohne Eigenschaften grün, in anderen Roman-Comics blau oder rot, in Kafka Komplett schwarz und lila, für Kafkas Normalzustand schwarz, lila vielleicht für das, was ihn bedroht.
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