Die Zweck-WG als Ort zum Bleiben?
Lars Reichardt hat zwar kein „Zimmer für immer“, dafür aber interessante Erfahrungen mit Wohngemeinschaften
Von Rainer Rönsch
Zunächst löst der Titel Skepsis aus. Trotz Wohnungsnot und Mietwucher – wer will schon ein „Zimmer für immer “, ohne Aussicht auf Veränderung? Der Untertitel „Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben“ klingt schon plausibler, zumal der 60-jährige Autor auf fast lebenslange Erfahrungen mit Wohngemeinschaften zurückblickt.
Die 15 Texte dieses Bandes schildern eigene Wohnerlebnisse des Autors und alternative Wohnformen. Weitere Informationen finden sich in einem Interview für den Bayerischen Rundfunk. Der Autor schildert zunächst seine gegenwärtige Wohnform, eine Zweck-WG in einem Münchener Haus, das zum Teil ihm gehört, so dass er die Doppelrolle als Vermieter und Mitbewohner bewältigen muss, wobei er von wechselseitigem Verlass „in einem engen Rahmen“ spricht. Mit Recht bezeichnet er die Entscheidung, ob man zusammenzieht oder nicht, als Problem wohlhabender kinderloser Paare und das Alleinwohnen als Luxus, den man sich leisten können muss. Weil Zwistigkeiten in der Zweck-WG nicht ausbleiben und beispielsweise das Rauchen und das Reinigen immerzu Probleme machen, lautet die entscheidende und nicht abschließend beantwortete Frage: „Gelangt jede Zweck-WG zwangsläufig an den Punkt, wo alles gegeneinander aufgerechnet wird?“ Der Autor denkt über Privat- und Intimsphäre nach, zum Beispiel über das Abschließen von Bad und Toilette und das Entfernen fremder Haare. Sein Fazit zum Thema Wohngemeinschaft lautet, man müsse dazu nicht befreundet sein, denn das gemeinsame Projekt schweiße zusammen.
Lars Reichardt blickt zurück auf sein Zusammenleben, ab Alter 13, mit der drogensüchtigen Mutter, ihrem neuen Mann und vielen Bekannten, darunter das mietfrei wohnende Schwulenpaar Albu und Freddie als Familienersatz. Später hat er einige Zeit jeweils von Donnerstagabend bis Sonntagmorgen beim 81-jährigen Vater eines Freundes gewohnt, wo ihm die großzügigen Hausregeln und die Schachpartien gefielen.
Viel hält der Autor von Baugenossenschaften und Wohnungsbaugesellschaften als ökologische und soziale Alternative zum Eigenheim. Sie klagen nie auf Eigenbedarf und verlangen vernünftige Mieten. Die Forderung von Friedrich Engels nach Löhnen, von denen man sich das Wohnen leisten kann, bleibt dennoch gültig.
Der Blick geht auch zu einer jahrelang bestehenden alternativen Dorfgemeinschaft zwischen Ulm und Würzburg mit drei Ritualen (darunter das Händewackeln als stiller, den Schlaf der Kinder schonender Applaus), aus der jetzt viele auswandern wollen, weil sie mehr Freiheit als Verbundenheit brauchen – beim Autor ist es umgekehrt. Erwähnt wird die italienische Kommune „Utopiaggia“, die einst ein Versuchsfeld für Solidarität und Achtsamkeit war und jetzt als Alten-WG nach wie vor auf Selbstbestimmung setzt.
Treffend hat Lars Reichardt im genannten Interview sein Buch als „eine Art Selbstgespräch“ charakterisiert. Sein nicht besonders straff organisierter Monolog mündet in der Einsicht, dass das Leben die Wohngemeinschaft zusammensetzt und dass es keine perfekte Lösung für alle Zeiten gibt. Zwar kann der Autor weder für sich selbst noch für die Leserschaft ein „Zimmer für immer“ finden, dennoch sind seine Erfahrungen und Überlegungen interessant. Die humorvolle Toleranz gegenüber den Schrullen und Marotten von Mitbewohnern erhöht das Lesevergnügen, das seinen Höhepunkt im Text „Alles außer Sex“ findet, wo zwei Frauen, die nacheinander mit demselben Mann verheiratet waren, in einer Witwen-WG zusammenleben und sich notfalls als Schwestern ausgeben, um lästiger Fragerei zu entgehen.
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