Frühe Erzählungen und Briefwechsel mit Günter de Bruyn

Zwei Neuerscheinungen zu Brigitte Reimann

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum vorjährigen Doppeljubiläum der Schriftstellerin Brigitte Reimann (50. Todestag am 20. Februar und 90. Geburtstag am 21. Juli) startete der Aufbau Verlag neben der Biografie Ich bin so gierig nach Leben von Carsten Gansel eine Edition mit vier aktualisierten Neuausgaben ihrer Werke: neben den Romanen Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963) und Franziska Linkerhand (posthum 1974) auch Reimanns Tagebücher von 1955 bis 1963 unter dem Titel Ich bedaure nichts – Mein Weg zur Schriftstellerin (1997).

Bereits in seiner Biografie hat Gansel den Blick auf Reimanns Frühwerk gelenkt; jetzt hat er einige der frühen Geschichten in dem Band Katja. Erzählungen über Frauen zusammengestellt. Es sind größtenteils unveröffentlichte Texte, in denen junge Mädchen und Frauen im Zentrum stehen. Wie Gansel in seinem Nachwort betont, zeigt sich bereits hier, wie weit „Brigitte Reimann ihrer Zeit voraus war: Sie stellt die Fragen nach Gleichberechtigung und Emanzipation – auch wenn dieses Wort nicht fällt – so früh wie wohl keine andere in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, mit Ausnahme der um sieben Jahre älteren Ingeborg Bachmann.“

Die frühen Jahre der DDR waren geprägt von einer Aufbruchsstimmung und so deckten sich auch Reimanns Ideale anfangs mit den gesellschaftlichen Veränderungen. Einer der frühesten überlieferten Texte ist Die Probe, ein für die Schulweihnachtsfeier 1948 geschriebenes Laienspiel in drei Aufzügen, in dem es um „Kameradschaft zwischen Jungs und Mädchen“ geht. Es war jedoch mehr als eine Talentprobe der gerade einmal Fünfzehnjährigen, die damit erstmals in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit geriet.

Nach diesem Anfangserfolg plante die Heranwachsende bereits einen Novellenband, in dessen Mittelpunkt Frauen stehen sollten. Die Erzählung Die Reifeprüfung (um 1952) entstand dann nach dem bestandenen Abitur, als Reimann ein Lehrerpraktikum absolvierte. Die siebzehnjährige Karla, die die elfte Klasse besucht, wird schwanger und ist völlig auf sich allein gestellt. Sie ist zu jung. Der Arzt weiß, dass ein rechtzeitiger Eingriff dauerhaften Schaden von der Gesundheit des Mädchens abhalten würde. Doch ihm sind die Hände durch die bestehenden Gesetze gebunden.

Mit der Erzählung Claudia Serva (um 1952), die im antiken Rom zurzeit der Sklavenaufstände spielt, beteiligte sich Reimann an einem Schreibwettbewerb „Die schönste Liebesgeschichte“. In diesem Zusammenhang suchte Reimann zu Anna Seghers Kontakt. Ihr großes Vorbild gab der Neunzehnjährigen den brieflichen Rat: „Zum Schreiben gehört eine gewisse Kühnheit wie zu allen wichtigen Unternehmen. Schreiben Sie nur kein Sonntagsdeutsch, schreiben Sie nur, was Sie wirklich denken und erleben. Schreiben Sie nur keinen falschen Pathos und keine gedichteten Artikel.“

Die titelgebende Erzählung Katja (1953) mit dem Untertitel Eine Liebesgeschichte aus unseren Tagen wurde im August 1953 in Fortsetzungen in der Magdeburger Volksstimme, der wichtigsten Tageszeitung der Region, abgedruckt. Sie ist in erster Linie eine Emanzipationsgeschichte, in der Katja, Studentin der Theaterwissenschaften, ihren eigenen Weg sucht. Sie hat sich in einen Arzt verliebt, der jedoch von ihr verlangt, nach der geplanten Heirat mit dem Studium aufzuhören und sich als Hausfrau seiner Karriere unterzuordnen. Katja bricht die Beziehung ab und findet in dem Kommilitonen Jochen einen Partner, der sie nicht vor die Alternative Beruf oder Familie stellt. Wie in ihren frühen Schultexten plädiert Reimann hier für die Eigenverantwortung.

Komplettiert wird die Neuerscheinung durch die Geschichten Zwei schreiben eine Geschichte (1955), Ein Stern fällt aus der Nacht (um 1956), Ich werde in dieser Nacht allein sein (1956) und Bei der halben Nacht (1961). Die drei Episoden der letzten Geschichte handeln in der sozialistischen Wohnstadt Hoyerswerda, wo auch später Reimanns Romanfragment Franziska Linkerhand angesiedelt sein wird.

In einer weiteren Neuerscheinung des Quintus-Verlages widmet sich die Literaturkritikerin und Autorin Carola Wiemers dem Briefwechsel von Brigitte Reimann und dem Schriftsteller Günter de Bruyn (1926-2020). Beide begegneten sich zum ersten Mal am 15. März 1965 zur Verleihung des Heinrich-Mann-Preises an Reimann. Ihre „freudige Aufregung“, jemanden getroffen zu haben, mit dem man vertrauensvolle Gespräche führen konnte, notierte sie nicht nur in ihrem Tagebuch, sondern teilte sie auch Freunden in Briefen mit. In Günter de Bruyns autobiografischen Schriften wurde diese Bekanntschaft jedoch nie erwähnt. Erst in seinem Nachlass fanden sich Briefe an Brigitte Reimann und sie betreffende Tagebucheintragungen.

Acht Jahre – von 1965 bis zu Reimanns Tod Anfang 1973 – verband die beiden eine kollegiale Freundschaft. Die knapp dreißig (bislang auffindbaren) Briefe umfassende Korrespondenz konzentriert sich dabei auf die Zeit zwischen 1969 und 1973. Die von der Herausgeberin kommentierten Mitteilungen sind von einer „respektvollen Zuneigung und dem Verständnis für die Probleme des anderen“ geprägt. Erst in den letzten Briefen (mit Reimanns fortschreitendem Krebsleiden) sprechen sie sich mit dem Vornamen an, bleiben aber beim „Sie“. Zunächst ging es meist um Hinweise auf Veröffentlichungen in Zeitschriften oder Terminabsprachen zu Lesungen; später unterrichtete man sich auch kurz über den Fortgang der eigenen literarischen Arbeit. Günter de Bruyns letzter Brief ist an die Eltern Elisabeth und Willi Reimann gerichtet: „[…] Und ihr Buch noch fertig schreiben war ihr großer Wunsch, der ihr nun versagt blieb. […] Ich wünsche Ihnen und Ihren Kindern viel Kraft in Ihrem Leid und grüße Sie herzlich!“

In ihrem Epilog beleuchtet Wiemers dann auch das Erscheinen des Fragments Franziska Linkerhand 1974 und die Würdigung von Günter de Bruyn:

Heulende Wut packt mich beim Lesen von Brigittes „Franziska Linkerhand“ – weil es so gut ist, so viel besser als alles, was sie vorher gemacht hat – und das erlebt sie nicht mehr! Ständig das Gefühl, ihr schreiben zu müssen. Ständig auch das Gefühl, sie unterschätzt zu haben.

Ergänzt wird die Neuerscheinung durch den Abdruck aller Briefdokumente und Karten.

Titelbild

Brigitte Reimann: Katja. Erzählungen über Frauen.
Hg. und Nachwort von Carsten Gansel.
Aufbau Verlag, Berlin 2024.
235 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783351039899

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Brigitte Reimann / Günter de Bruyn: Ein fertiges Buch ist ein Argument. Brigitte Reimann und Günter de Bruyn in Briefen.
Hg. von Carola Wiemers. Mit 20 Abbildungen.
Quintus-Verlag, Berlin 2024.
112 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783969820889

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