Rainer Maria Rilke historisch-kritisch

Der von Christoph König herausgegebene Band zu den „Duineser Elegien“ bildet endlich den Auftakt zu einer fundierten wissenschaftlichen Werkausgabe

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei kaum einem Autor dürften literaturhistorische Bedeutung und editorische Situation so weit auseinanderklaffen wie bei Rainer Maria Rilke. Zu anderen ‚Klassikern der Moderne‘ wie etwa Franz Kafka, Robert Musil, Georg Trakl oder Robert Walser wurden in den letzten Jahrzehnten ambitionierte wissenschaftliche Ausgaben veröffentlicht. Eine Sonderstellung nimmt die monumentale 40bändige kritische Ausgabe der Werke Hugo von Hofmannsthals ein, die über 55 Jahre hinweg mit erheblichen finanziellen Mitteln erarbeitet wurde. Der Kontrast zu Rilke, Hofmannsthals im Kontext der literarischen Moderne mindestens ebenbürtigem Antipoden, könnte deutlicher nicht sein. Als maßgeblich musste hier immer noch die zwar sehr umfassende, aber weitgehend unkommentierte und mittlerweile überholte sechsbändige Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ gelten, die Ernst Zinn bereits vor etwa 60 Jahren herausgegeben hatte. 1996 folgte eine weniger vollständige, dafür aber kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Beeindruckend wirkte vier Jahre später die Faksimile-Ausgabe von Rilkes Westerweder und Pariser Tagebuch des Jahrs 1902. Zu Rilkes einzigem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge erschien 2012 eine vorbildlich edierte textgenetische Ausgabe.

Eine wissenschaftlich fundierte Gesamtausgabe war somit längst überfällig. Sie ließ unter anderem deshalb so lange auf sich warten, weil wichtige Teile des Nachlasses sich im Privatbesitz von Rilkes Erben befanden. In den letzten beiden Jahren bestand nun doppelter Anlass zur Freude: Ende 2022 erwarb das Deutsche Literaturarchiv Marbach die großen Bestände des Familien-Archivs; 2023 erschien endlich der erste Band der von Christoph König herausgegebenen historisch-kritischen Ausgabe. Als Auftakt wurden Rilkes 1922 nach einem zehnjährigen schwierigen Schaffensprozess vollendete Duineser Elegien philologisch aufgearbeitet. Dieser Gedichtzyklus ist innerhalb der literarischen Moderne von herausragender Bedeutung, indem existentielle Grundprobleme der Zeit mittels eines besonderen motivischen Inventars von Engel, Held, jungen Toten, Liebenden, Puppe, Tier und Gauklern in eine paradox-spannungsvolle poetische Schwingung gebracht werden. Dass dieses lyrische opus magnum nun in einer historisch-kritischen Ausgabe vorliegt, kann alle Interessierten nur erfreuen.

Die Edition überzeugt in mehrfacher Hinsicht. So war es eine gute Grundentscheidung, den Gedichtzyklus in seinem werkgenetischen Kontext wiederzugeben. Teil des Bands sind somit neben den zehn 1922 veröffentlichten Elegien auch die Texte, die Rilke für einen zweiten, Fragmente enthaltenden Band vorgesehen hatte, sowie weitere verstreute Gedichte, Bruchstücke und Entwürfe. Die bekannteren darunter sind etwa Bestürz mich, Musik, Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen oder Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Der Textteil nimmt etwa ein Drittel des Bands ein. Auch der doppelt so umfangreiche Apparat konzentriert sich auf die Wiedergabe von Rilkes Text bzw. auf eine Darstellung der Textgenese. Dies erfolgt ganz traditionell, indem die Textvarianten linear Vers für Vers angeführt werden. Durch die Aufteilung in den die Entwürfe enthaltenden Textteil und den Lesarten-Apparat wird die Rekonstruktion des Schaffensprozesses den Leser*innen überlassen, statt, wie in ambitionierteren, teilweise digitalen oder hybriden Editionen üblich, komplexe textgenetische Modelle zu liefern. Der Herausgeber verweist hierfür auf „pragmatische“ Gründe, eine andere Form der Darstellung habe sich als „unpraktisch“ erwiesen.

Wohltuend zurückhaltend verfährt die Ausgabe, was die inhaltliche Kommentierung betrifft. Dies erfolgt im Wissen darum, dass jeder Versuch, die Elegien zu verstehen, die Leser*innen vor ein solches Ausmaß an Schwierigkeiten stellt, dass einzelne Stellenerläuterungen zwangsläufig Gefahr laufen würden, die in der Lektüre zu realisierende Deutungsoffenheit zu reduzieren. Insbesondere wird auf das Heranziehen von Parallelstellen aus anderen Werken oder Briefen Rilkes verzichtet. Damit wird bewusst der Anschein vermieden, Rilke mit Rilke erklären zu können, wo es sich doch tatsächlich immer um jeweils eigenständige poetische Ausformungen handelt. Nützlich ist hingegen die Auswertung von Rilkes Taschenbuch, etwa in der Erläuterung zu den in der Ersten Elegie erwähnten Grabinschriften in der Kirche Santa Maria Formosa in Venedig. Ebenso hilfreich sind die im Kommentar jeweils gegebenen Hinweise zur Entstehung der einzelnen Elegien. Dabei kommt es im Fall der zweiten und sechsten Elegie, vermutlich aufgrund von Druckfehlern, allerdings leider zu falschen Datierungen.

Knapp gehalten ist auch das Nachwort. Es verzichtet wiederum bewusst auf eine inhaltliche Gesamtdeutung, liefert aber präzise Charakterisierungen, etwa wenn es den Zyklus als „mäandernde Gedankenerzählung“ beschreibt oder auf die „Produktivität einer imaginierten, zurückgewiesenen und diesseitig bemeisterten, nur vorweggenommenen Überschreitung“ hinweist. Dieser Genauigkeit kontrastiert eine gewisse Neigung zu normativen Aussagen. So wird den zeitgleich zum Abschluss der Elegien entstandenen Sonetten an Orpheus pauschal eine ‚dialektische‘ Argumentation attestiert und wird der Zyklus auf schwer nachvollziehbare Weise als eigene „Gattung“ bezeichnet. Auch der Begriff „elegisch“ wird auf diese Weise sehr eingeengt verwendet. Was die Gattungstradition der Elegie betrifft, beruft sich der Herausgeber auf die nun wirklich problematisch veraltete Monographie von Friedrich Beissner aus dem Jahr 1941 sowie auf einen weiteren eher essayistischen Gattungsüberblick von Daniel Frey. Friedrich Gottlieb Klopstock als für Rilke wichtiger gattungsgeschichtlicher Bezugspunkt wird nicht beachtet.

Eigenwillig wirkt, dass die „Kommentierte Ausgabe“ der Werke Rainer Maria Rilkes von 1996 nicht einmal erwähnt wird, und unklar ist auch, warum im Hinblick auf die Rezeptionsgeschichte der Poststrukturalist Paul de Man ausgerechnet in einer Reihe mit Otto Friedrich Bollnow und Erich Heller genannt wird. In editorischer Hinsicht bleibt etwa fraglich, was mit den „orthographischen und rhetorischen Regeln des Erstdrucks“ gemeint ist. In Bezug auf die seit Ende 2022 zugänglichen Original-Handschriften wird nicht offengelegt, inwiefern sie für die unmittelbar darauf publizierte Edition bereits genutzt wurden. Ob schließlich der für die Edition als grundlegend erklärte Begriff „Geschichte der Kreativität Rilkes“ gegenüber dem gängigen Begriff der Textgenese wirklich notwendig ist, müsste genauer diskutiert werden.

Fraglos stellt der Band eine unverzichtbare Grundlage für jede künftige Beschäftigung mit den Duineser Elegien dar. Den folgenden Bänden der nun endlich begonnenen historisch-kritischen Ausgabe ist mit großer Spannung und Vorfreude entgegenzusehen.

Titelbild

Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien und zugehörige Gedichte. 1912-1922.
Herausgegeben von Christoph König (Reihe: Rainer Maria Rilke. Werke. Historisch-kritische Ausgabe).
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
494 Seiten , 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835354654

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