Suchbewegungen oder Zeit zu Erinnern – erinnerte Zeit – Ich-Zeit
Flora S. Mahler fesselt mit dem Denkroman „Die Zeitforscherin“
Von Günter Helmes
Der 2009 gegründete müry salzmann-Verlag begeistert seit Jahren durch, so das „Leitmotiv“ des Verlags, „Gute Bücher, die auch schön sind“. Zu verschiedenen Reihen, die ein unverkennbares, hochwertiges Profil auszeichnen, gehört auch die Belletristik-Reihe. Die brilliert nicht nur durch einige etablierte Autoren und Autorinnen wie Walter Kappacher, Diane Middlebrook, Olga Neuwirth oder Anton Thuswaldner, sondern tut sich ebenso durch „ein Händchen für neue Talente“ (Die Furche) hervor.
Zu diesen Talenten gehört die studierte Philosophin und Germanistin Flora S. Mahler – d. i. die bildende Künstlerin Elisabeth Gabriel –, die, nach Veröffentlichungen in Anthologien und renommierten Zeitschriften wie Literatur und Kritik oder Die Rampe, 2021 mit ihrem Romandebüt Julie Leyroux an die Öffentlichkeit trat. Darin erzählt Mahler, bei Lichte besehen sehr viel mehr als ein Talent, von einer schillernden jungen Künstlerin als „Zentralgestirn im Kosmos einiger ‚Thirtysomethings‘“. Sagt der Verlag.
„Sagt der Verlag“: Der zeichnet sich auch dadurch aus, dass man seinen Texten auf Buchrücken und Innenklappen getrost trauen darf. So auch im Fall von Die Zeitforscherin, 150 Seiten schmal doch ereignis- und gedankenreich wie ein veritabler ‚Ziegelstein‘ von Buch. Den die gesamte Innenklappe ausfüllenden Text, ein Inhaltsstenogramm, das entscheidendes Geschehen selbstverständlich offenlässt, könnte man ungekürzt wiedergeben – was freilich Konventionen halber nicht geht. Aber ein paar Zeilen vom Rückentext dürfen es doch wohl sein? Nun denn:
Was als Roadtrip beginnt, entpuppt sich als brillantes Vexierspiel, in dem die Grenzen zwischen den Welten und den Zeiten verschwimmen. Vertäut ist die voltenreiche Handlung an einer bewegenden Mutter-Tochter Geschichte, die vor Augen führt, was Frau-Sein bedeutet, über die Generationen hinweg.
Am 2. September 2022, vor kurzem also erst: Ina, die Protagonistin des Romans, die eigentlich Martina und mit zweitem Vornamen Anaïs heißt, fährt mit ihrem jüngeren Bruder David und dessen neuer Freundin Ela – die beiden leben polyamourös – im Auto von Wien aus ins fiktive Ametsberg in Kärnten. Zur Beerdigung der Großmutter, die mit 103 Jahren verstorben ist. Ina, „[h]ead in the clouds“, kurz vor dem Vierzigsten, gewollt kinderlos, hängt ihren Gedanken nach. Die kreisen – dies das erste, wie das gesamte Buch meist in parataktischer Nüchternheit gehaltene und gerade deshalb packende Kapitel „Der zweite See“, – um Kindheit und Jugend, vor allem aber um die vor zehn Jahren an Krebs verstorbene Mutter: deren Charakter, Eigenheiten, Vorlieben und Neigungen, deren Erkrankung und Leidenszeit, deren Sterben und Tod, deren Traueranzeige und Beerdigung, deren Verhältnis zu den Kindern und Schnittpunkte mit ihnen. Auch der Vater kommt vor. So wie das letzte Versprechen, das Ina ihrer Mutter gegeben hat, die so gerne noch einmal ins elterliche Ametsberg gekommen wäre:
[I]ch organisiere einen Krankentransport und bring’ dich nach Kärnten. Und einen Hubschrauber. Der fliegt uns hinauf zur Ematinger Alm. Wir landen beim zweiten See. Morgens. Gegen neun. Gerade so früh, als wären wir gewandert.
Erster kleiner Lesetipp: Die ebenfalls fiktive Ematinger Alm und den zweiten See in Erinnerung behalten. Sie werden später noch einmal eine wichtige Rolle spielen. Und sich fragen, ob die Autorin in Ametsberg und Emating – Stichwort: Anagramm – nicht Wichtiges versteckt hat.
Schnell wird im Übrigen offenbar, dass Ina von Kindesbeinen an ein, zurückhaltend formuliert, Faible für Mathematisches und für Sprache hat: „Allibert. Deonym. Generalisierter Name für Badezimmerschränke.“ Und dass es noch eine große Schwester gibt, die Lehrerin Claudia, „[d]own to earth“, die „immer recht“ hat. Die aus zwei Beziehungen zwei Kinder hat, die Tochter Sophie und den Sohn Ulli, der eigentlich Claudius heißt. Dessen Name verrät wiederum das zweite Kapitel, das auch den zweiten „Mann, mittlerweile Ex, de[n] Vater von Ulli“ Dominik einführt. Nicht zu vergessen, dass Claudia und Ina mehr oder minder kurz nach dem Tod der Mutter ihre Partner verlassen haben: „Ich habe noch am Begräbnisabend mit Adam gebrochen und ihn seither nicht wieder gesehen.“ Schließlich: Dass Ina gerne fliegt, „und ich fliege viel und weit.“ Alles in allem: Es wird nicht nur für ein Setting und für ein flüchtiges Kennenlernen gesorgt, sondern auch für Verwirrung. Es gilt den Überblick zu behalten.
Das zweite Kapitel, „Die Angst kommt später“ überschrieben: Es wird weiter erinnert, an Autofahrten zu den Großeltern beispielsweise in der Kindheit. Der Zeit, in der, so später Kapitel drei, „alles gut wurde, / Das Leben eine Reihe, eng, eindeutig und verlässlich war.“ Dann: Die eingeführten Figuren werden näher in Augenschein genommen. Insbesondere Ina, ein zu „Exzessen“ neigender Egghead, sie ohne Freunde schon in Kinder- und Jugendjahren, eine ziemlich angeschlagene Außenseiterin dann als Erwachsene:
„Du [Ina zu sich selbst] bist in letzter Zeit wieder zu viel allein. […] Dabei weißt du. In einem geschlossenen System nimmt die Unordnung zu. Im Schlafzimmer, in der Küche. Auf dem Desktop. Im Kopf.
Doch dann ist’s mit einem Mal vorbei mit mehr oder minder konventionellen Erzählinhalten der geschilderten Art, mit Geschichten von X und von Y und von mehr oder minder beliebigen Geschehnissen damals und heute. Vielmehr, diese Geschehnisse treten in den Hintergrund, werden zu erforschendem Untergrund, eine einzige tritt ins grelle Rampenlicht. Denn nun wird’s philosophisch, eminent real und erlesen surreal, hyperreal zugleich, kriminell auch, wenn man so will. Es durchdringen sich Komik, Tragik und Groteske. Das Absurde scheint auf.
Ina nämlich, die ohne Abschluss alles Mögliche studiert hat, „[a]m konsequentesten Physik“, was sie allerdings unfreiwillig aufgeben musste, Ina entpuppt sich als „Zeitforscherin“. Als „Leiterin eines globalen pataphysischen Zeitforschungsclusters“, die „zeitoptimierende Algorithmen“ entwickelt. Die damit gut verdient. Die das Verdiente, wie bereits angedeutet, für Flüge ausgibt, Flüge Richtung Osten, der Erdrotation folgend, der lastenden Vergangenheit entgegen, auf dass diese Gegenwart – und dergestalt ver- und behandelbar werde. Und die „demnächst als virtuelle Festrednerin“ auf der „Gründungsveranstaltung einer pataphysischen Gesellschaft über Wert und Funktion einer von mir erfundenen biografischen Zeitmaschine referieren“ wird.
Pataphysik, „biografische Zeitmaschine“? Richtig, die Wissenschaft von den Epiphänomenen, des Partikulären, der Gesetze der Ausnahmen. Die nach Regeln betriebene Sinnverweigerung. Alfred Jarry, König Ubu und Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll. Näheres dazu dann im Roman selbst in Kapitel drei „Im Innersten ist die Welt ungewiss“. Das nämlich enthält, einem mit Persönlichem durchwirkten bzw. veranschaulichtem Manifest gleich, das angekündigte Referats. Ist dieser Roman, der von der „biografischen Zeitmaschine“ spricht, selbst schon diese Zeitmaschine, zumindest ein Vorschein derselben im Bloch’schen Sinn?
Das erwähnte ins Rampenlicht tretende Geschehnis besteht in einem „Insider-Revenge-Joke. Gone wrong. Das Motiv. Verletzte Eitelkeit. Neid.“ Bohrs und Heisenbergs Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik spielt dabei – und für den weiteren Romanverlauf! – eine zentrale Rolle, vor allem aber Schrödingers dazu gehörendes ‚Katzen-Gedankenexperiment‘. Ina als „gute Studentin, ein Kätzchen“, des Professors „Schoßtierchen“. Ina, die der „Joke“ dauerhaft traumatisiert, die das Physikstudium abbrechen muss, die sich, Schrödinger lässt grüßen, in „[z]wei Martinas“ spaltet, in Realität und Möglichkeit, „die eine nur unmerklich lebendig, / die andere nur ein bisschen tot.“ Als Astronautin startet dieses zweite Martina ins All, gebiert dort eine Tochter Miranda – „Ein Feuermahl bedeckt ihr linke Wange“ –, die, zurück auf der Erde und noch am Sterbebett der Großmutter, also Inas Mutter, zu „verblassen“ beginnt und rückwärts altert.
Zweiter und dritter kleiner Lesetipp: Zur Kenntnis nehmen, dass es mit der Rede von Ina als „Kätzchen“ nicht eben wenig auf sich hat, keine Katze ist ‚eine Insel‘. Und: Die mal gerade eine Seite lange und ganz schön schräg wirkende Miranda-Episode in Erinnerung behalten und so ernst nehmen, dass sich der Begriff „Episode“ schließlich als falsch erweist.
Zur Buchmitte hin dann die Ankunft an der Autobahnraststation St. Marein. Da will man sich mit Schwester Claudia und deren Tross treffen, bevor es gemeinsam ‚in Kolonne‘ weiter nach Ametsberg geht. Aber merkwürdig, man kommt zweimal an, Martina jedenfalls bzw. zumindest. Einmal im ersten Unterkapitel „Die gedehnte Zeit“ des vierten Kapitels, ein zweites Mal im zweiten Unterkapitel „Ein Sprung zurück“, ans Ende des dritten Kapitels nämlich. Dazwischen: Weitere unabweisbare Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an die Mutter, Vorfahren, an Geschehnisse der jüngeren Zeit, an Adam. Und die Begegnung mit einer Fremden, die Martina gesucht hat, um ihr „von Gott zu erzählen und von Hannes, dem Täufer, der das wahre Wesen Gottes erkannte.“
Sie verlieren den Roten Faden? Nur nicht den Mut sinken lassen. Am ‚Ball‘ bleiben und weiter scharf mitdenken! Auch wenn es noch zu weiteren Merkwürdigkeiten und Wunderlichkeiten kommt. Und dazu kommt es. Spätestens mit dem „Postskriptum“.
Ein „Denkroman“. Diesen Begriff hat meines Wissens 1921 der Wiener Expressionist und Aktivist Robert Müller (1887-1924) geprägt, in einer Besprechung von Otto Flakes Roman Nein und Ja (1920). Er bezeichnet einen Romantypus, dem es nicht mehr um die „dingliche monumentale oder punktierende Beschreibung“, um „lesebuchartige[] Verläufe[]“ als solche und um die „Erfrischung“ des Lesers geht, sondern um eine „Bewußtseinsfrage“ bzw. „Bewußtseinslage“. Um „Wahrheit in der denkenden Analyse und radikale Reinheit, die zu einer Lebensverhältnistheorie führt wie der von Einstein […], also eine Art kosmischen Naturalismus“. Ist Flora S. Mahlers Die Zeitforscherin nicht ein Denkroman in eben diesem Sinne? Mir scheint, ja. Falls es an dem ist: Wie schön dann, ein hundertjähriger Schlaf der anderen Art ist vorbei, es schließt sich ein Kreis in Wien, ein anderer Wiener Kreis.
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