Jenseits des Klischees:

Dominik Wichmanns kleine Anatomie des amerikanischen Traums

Von Christian BerkemeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Berkemeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der SZ-Redakteur Dominik Wichmann versteht es, in Reportagen dem Leser kurzweilig Eindrücke aus den weitläufigen USA zu vermitteln. Das können andere auch. Lesenswert aber wird dieses Buch in der Auswahl und Darstellung dieser Eindrücke. Es sind die Verschiedenheit, die Bildlichkeit und Beispielhaftigkeit der geschilderten Szenen, die den schmucken kleinen Hardcover-Band zu einer gekonnt illustrierten Reise in ein Land "Jenseits von Utopia" werden lassen. Wichmann kennt dieses Land und die Untiefen seiner kulturellen Identität, falls es so etwas gibt. Er ist klug und bescheiden genug, gar nicht erst den Anspruch auf eine representative Auswahl und eine objektive Darstellung zu erheben. Statt dessen führt er seine Leser in das andere Amerika, in die Geschichte und die Geschichten hinter den Schlagzeilen und abseits der Klischees, in die Leere zwischen den Fassaden, zwischen Freiheitsstatue und Golden Gate.

Diese Sammlung von Reportagen kommt ohne didaktische Systematik aus. Es gibt keinen Reiseleiter, keinen Führer mit Schild und Zeigestock, keine wortreichen Belehrungen, keine Manierismen oder Star-Allüren à la Kronzucker oder Scholl-Latour. Hinreichend persönlich sind die Momentaufnahmen dennoch immer: Wichmann berichtet mit Humor und Selbstironie aus den Kaderschmieden verschiedener amerikanischer Eliten, seien dies nun die knarrenden Bänke der Harvard University, die der Journalist selbst gedrückt hat, oder die lichten Hallen der New Economy in Austin, Texas, deren Schattenseiten der Münchner nicht ausspart. Wichmann visualisiert lakonisch und mit Sinn für das Symptom; das ist wohltuend und wertvoll in Zeiten des Tränendrüsen-Infotainment, gerade in den Elendsvierteln von Chicago und im bettelarmen Süden, abseits der Trampelpfade der Touristen: "Die Taylor Homes sind das größte Sozialbauprojekt der Vereinigten Staaten. Es sind die Ärmsten der Armen, die hier ein Zuhause gefunden haben: alle schwarz, alle Sozialhilfeempfänger. Jeden Tag wird hier durchschnittlich ein Mensch umgebracht, doch wie viele Menschen auf Taylor noch leben, verrät die Statistik nicht. 'Ungefähr 18.000', schätzt Philips, und er weiß, dass es erst dann eine Lösung gibt, wenn die Stadt das Gelände braucht. Nur: Sie braucht es nicht."

Zehn Berichte und Porträts verteilen sich scheinbar willkürlich über das Territorium der USA, und erst in der Retrospektive zeigt sich, dass hier eine Vielzahl amerikanischer Mythen, Ikonen und Archetypen unterschiedlichster Regionen unter die Lupe genommen wird. Dabei mischen sich Anekdoten und Annalen, skurrile Details, schräge Gestalten und kurz gefasste historische Hintergründe, Gleiches und Gegensätzliches. Ohne den Finger in die Wunde zu legen, kartographiert Wichmann die Risse, die dieses Land zwischen Traum und Trauma durchziehen. Er steckt Positionen ab und lässt den Lesern die Freiheit, die geographische, kulturelle, historische und soziale Diskrepanz zwischen Amazon.com, Amish people und Austin, Texas, selbst zu ermessen. Er beschränkt sich auf das Abbilden. Kein elitärer europäischer Zeigefinger, keine hemmungslose Bewunderung: "Europa ist anders."

Den Leckerbissen des Bandes bilden zwei Interviews, die wohl als Raria gelten dürfen. Marie Barrow gibt Innenansichten vom trauten Familienleben Bonnie und Clydes, und hier zeigt sich, dass Wichmann auch gute Gespräche führt. Er ist überaus flexibel, neugierig, ohne indiskret zu werden, er ist gut vorbereitet, versteht es offenbar, sich in Ton und Stimmung seinen Gesprächspartnern anzupassen, ohne Aufdringlichkeit Bezüge herzustellen und Ergänzungen zu machen. Wie das erste Beispiel zeigt sich auch das Interview mit dem Architekten Philip Johnson zudem noch in gelungener, flüssiger Übersetzung, auch wenn der Nebenfach-Philosoph Wichmann den Architekten hier mit Nietzsche- und Heidegger-Bezügen malträtiert, so dass dieser ihm zuletzt einen Haken schlägt, die Situation umdreht und entkommt: "Genau. Richtig. Perfekt. Oh Mann, können Sie mir das Zitat aufschreiben?"

Insgesamt aber wirkt Wichmann auch als Interviewer soverän. Manchmal lügen Klappentexte eben doch nicht: "Seine Reportagen handeln von den unterschiedlichsten Wahrheiten und Wirklichkeiten, die, zu einem Mosaik gefügt, eine Ahnung von Amerika vermitteln."

Titelbild

Dominik Wichmann: Jenseits von Utopia; Amerikanische Träume.
Picus Verlag, Wien 2000.
161 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3854527314

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