Euphorie und Beklommenheit

Der Niederländer Gerrit Kouwenaar begleitet in „Fall, Bombe, fall“ einen Jungen durch die ersten Kriegstage 1940

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Widerstreit von Gefühlen der Ohnmacht und Allmacht ist ein Charakteristikum der Pubertät. Machtfantasien duellieren sich mit der familiären Beengtheit. So jedenfalls empfindet es der siebzehnjährige Karel Ruis bei Kriegsausbruch 1940. Wie wäre es, spricht er mit sich selber, wenn er „mit einer Art Zauberformel alles und jeden seinem Willen unterwerfen könnte“? Der boshafte Mathematiklehrer bräche vor der Klasse am Pult zusammen, das begehrenswerte Mädchen unterwürfe sich ihm, und den ausgelassenen Jungen auf der Straße würde er mit einem Blick erledigen: „Stürz nieder, stirb! Ich, Karel Ruis, sage dir: Stirb auf der Stelle, Bürschchen mit eisernem Reifen. Fall, Bombe, fall!“ Selbst ein Krieg erschiene ihm weniger eine Katastrophe als eine Hoffnung auf Veränderung und eine Gelegenheit, sich zu beweisen. „Ich würde die Welt von Hitler erlösen.“

Karel Ruis ist die Hauptfigur in der Novelle Fall, Bombe, fall. Mit psychologischem Feingefühl erzählt der niederländische Autor Gerrit Kouwenaar (1923-2014), welche Empfindungen im Kopf des jungen Protagonisten durcheinanderwirbeln. Angesichts der allgemeinen Beklommenheit, die die Nachricht vom deutschen Überfall auf die Niederlande verbreitet, bleibt Karel jedoch seltsam gelassen, als könnten ihm die Bomben, die auf seine Stadt niedergehen und Häuser in Brand setzen, nichts anhaben. Eigentlich hat er sich diesen Krieg ja erhofft, nun fühlt er sich bestätigt: „Gestern habe ich gesagt, ‚Fall, Bombe, fall‘, und heute ist sie gefallen.“

Tatsächlich scheint sich auch sein Verhältnis zu den Eltern zu entkrampfen. Der Vater bekommt auf einmal etwas Kumpelhaftes und Onkel Robert teilt mit ihm ein intimes Geheimnis, indem er ihm eine delikate Aufgabe überträgt. Er soll einer gewissen „Frau R. Mexocos“ einen Brief überbringen und gleich auf Antwort warten. Was ihn im Auftrag des „alten Bonvivant“ erwartet, ist allerdings nicht nur eine zerstreute Künstlerin, sondern auch deren aufgeweckte 16-jährige Tochter Ria, in die sich Karel augenblicklich verliebt. Doch der Krieg dämpft die aufkeimenden Gefühle sogleich wieder. Mutter und Tochter müssen fliehen, weil sie von den Deutschen nichts Gutes zu erwarten haben. Kaum gewonnen, verliert Karel die Liebe wieder. Allmacht, Ohnmacht, Einsamkeit, Gefahr und Hoffnung verheddern sich in seinem Innern zu einem unentwirrbaren Knäuel. Der Krieg und die fallenden Bomben sind für ihn das faszinierend Außergewöhnliche, nach dem er in seiner Langeweile förmlich giert, zugleich zerstören sie seine Träume. Frau Mexocos und ihre Tochter lassen ihn zurück, ohne ihn gefragt zu haben, ob er mit ihnen nach England, Amerika oder wohin immer mitkommen wolle. „Die Bombe ist gefallen, dachte er, die Bombe ist gefallen, die Bombe ist gefallen“ – so wie er es sich wünschte, und sie hat auch ihn getroffen. Die „große Wende“, die er sich mit dem Krieg erträumt hat, verpufft in der klammen Einsicht, dass alles anders läuft, als er es sich vorstellt. Das kränkt ihn. „Ist alles meine Schuld? Warum haben sie mir keinen Gott gegeben, keinen Glauben, kein Ideal?“

Für die hundertseitige Novelle Fall, Bombe, fall; die im Original bereits 1950 erschien, suchte sich Kouwenaar kurz nach Kriegsende eine literarische Form zwischen Experiment, Lyrik und Erzählprosa, um seine eigenen Erfahrungen zu beschreiben. Er selbst war 1940 wie Karel siebzehn Jahre alt. Wiel Kusters zitiert Kouwenaar im Nachwort: „Auch ich stand am Nachmittag des 9. Mai am elterlichen Wohnzimmerfenster und schaute gelangweilt nach draußen und auch für mich begann am Tag darauf die Invasion des Chaotischen und Destruktiven.“ Karels Gefühlslage steht gewissermaßen für eine gesellschaftliche Stimmung, der Kouwenaars Novelle intime Züge verleiht. In Karel tobt ein Widerstreit zwischen Anziehung und Abscheu, auch im Sexuellen, auf der Suche nach einem von hierarchischen, familiären Zwängen befreiten Leben. Wenn er daraus eine Faszination für den Krieg ableitet, so auch, weil er gar nicht weiß, was das genau bedeutet. Das Aufeinandertreffen von Frustration und Krieg könnte so vielleicht eine brandgefährliche Dynamik entfachen, würde sich Karel nicht verlieben. Als er nach der Abreise der Geliebten zu seinem Onkel aufs Land reist, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, findet er ihn tot vor: von einer Bombe getroffen. Unverrichteter Dinge kehrt Karel in die Stadt zurück, zu Fuß durch die finstere Nacht, weil keine Züge mehr fahren. Der ferne Horizont wird von der brennenden Stadt illuminiert. Da hält unvermittelt neben ihm eine deutsche Patrouille – der Krieg hat Karel eingeholt.

Mit seiner Novelle ist Gerrit Kouwenaar ein wunderbar stimmiges Bravourstück gelungen, in dem er behutsam Einblick in die verwirrten Gefühle eines siebzehnjährigen Jungen gibt. Er erklärt sie nicht, sondern bannt sie in pubertären Selbstgesprächen und subtil verdrehten Beschreibungen aus dessen Optik. Unversehens weitet sich so Karels verschlungene Gedankenwelt ins Kollektive. Seine Erregung angesichts der fallenden Bomben und der Aussicht auf etwas unvorstellbar Neues lässt erahnen, weshalb sich Menschen fatalerweise immer wieder von Kriegseuphorie anstecken lassen.

Titelbild

Gerrit Kouwenaar: Fall, Bombe, fall. Novelle.
Mit einem Nachwort von Wiel Kusters.
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.
Verlag C.H.Beck, München 2024.
124 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406813900

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