Alles ist Gedicht

Jan Wagner vermittelt in „Steine & Erden“ mit jedem Gedicht einen ebenso spielerischen wie präzisen Blick auf die Welt, in der das Unerwartete Vorfahrt genießt

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nichts ist zu gering, nichts zu klein, zu banal, um nicht beachtet zu werden. Und wenn denn ein Ding in den Blick kommt und Präsenz gewinnt, dann öffnet sich zugleich ein mit Sinnesreflexen angefüllter Raum, macht es zu einem Ereignis und befördert die Vorstellungskraft, die von der Vereinbarkeit des Unvereinbaren lebt. So finden wir beispielsweise in der zu besprechenden Gedichtsammlung Verse über einen Löffel, ein Gegenstand, den wir täglich benutzen, aber wohl nie weiter beachten. Und wem fiele beim Gebrauch die Frage ein, ob so ein Löffel möglicherweise ein metaphysisches Geheimnis enthält? Wenn sich ihm Jan Wagner annimmt, ist das leicht der Fall, der dem wie „herbestellten“ Löffel sogleich huldigt – „[…] herbestellt, / um ihn blitzblank zu lecken“:

wie er ganz glatt bleibt, ohne falten,
ein silberschein, dein ständiger begleiter, / dein mond.

Der Löffel ein Mond. Wer hätte das gedacht? Ja, darin steckt in einem guten Sinne etwas von jener altmodisch erscheinenden Beschaulichkeit, die sich Zeit nimmt für die Wertschätzung des Belanglosen und ihm sein Universum gönnt. Wir finden darin ein poetologisches Prinzip, das in vielen von Wagners Gedichten anzutreffen ist. Er kommt im Gedicht immer irgendwo anders an, bleibt nie dort, wo die Verse ihren Anfang nehmen. Vom Löffel zum Mond – und keineswegs nur der Metapher oder Pointe wegen, auch wenn die naturgemäß eine Rolle spielen.

Das Disparate zusammendenken, Unerwartetes ins Spiel bringen. Das setzt Aufmerksamkeit voraus. Spiel ist übrigens auch so ein Schlüsselbegriff, der auf Wagners Lyrik passt. Er hatte darüber selbst Auskunft gegeben, als er sich 2017 für die Verleihung des Büchner-Preises bedankte. Jan Wagner erhielt einen Preis, dessen Namensgeber selbst einmal gestand, er könne gar keine Verse machen. Aber das hatte ihn nicht gehindert, eine überaus erfindungsreiche, geradezu metaphernsatte und zugleich messerscharfe Sprache zu finden, die „herrlich“ sei, wie Wagner zu Recht versichert. Mit Büchner teilt Wagner mindestens aber die Naturverbundenheit, die ohne Frage eine ästhetische Haltung beinhaltet, und für Fauna und Flora Hauptrollen reserviert. Auffallend viele Gedichte sind Tieren gewidmet. Wagners Menagerie besteht aus Kühen, Wespen, dem Biber, Flamingos, dem Panther, Fliegen und einer Python, um nicht Dürers Rhinozeros zu vergessen.

Dichtung sei ein Spiel, heißt es in der Dankesrede, „das mit Präzision betrieben wird“. Und schon landen wir unversehens bei einem Paradox – etwa der Schwere der Leichtigkeit, den Regeln des Regellosen, dem Radikalen und Umstürzenden in der Bescheidenheit. Gedichte ermöglichen zudem Rollenspiele, so Wagner. Ein Gedicht erlaube ihm zu sagen „Ich bin ein Stein“ – und das mit aller Glaubhaftigkeit. Denn der „Vertrag mit dem Leser lasse ihn sagen, ja, hier spricht ein Stein“. Und wo es ebenfalls um Spiel geht: „Ich mache Verse, die nicht im Reim aufgehen, obwohl sie mit dem Reim spielen […].“

Und weil es eben auch um die Flora geht, müssen wir uns über ein Karotten-Gedicht nicht wundern, in dem die Beobachtung wiedergegeben wird, dass sie sich von der Sonne weg und hin zum Erdmittelpunkt bewegen. Der untergründige Witz dabei: Wagner stellt den Versen ein Zitat von Paul Valéry voran, worin sich jener über eine lächerliche Definition des Wortes „Vie“, also Leben, mokiert, der zufolge es ein Zustand organisierter Wesen sei, „solange sie fühlen und sich bewegen“ und der daran die Frage knüpfte: „Und was ist mit den Karotten?“ Wagners Antwort:

bewegen sich immerzu fort von der sonne,
dem erdmittelpunkt entgegen,
nur langsam, sehr beharrlich, sonden
aufs schwarz zu, unterirdische raketen,

[…]

in einer kürbiswelt zu recht verehrt
von regenwurm und wühlmaus, eine faser
aus wärme, wenn es regnet, wenn es friert,
noch tief im innersten, ein schlückchen wasser

Die Welt im Gartenmaßstab ist bei Wagner nur zum Schein eine Idylle. Er scheut sich nicht, die Botanik als militärische Befestigung mit erkennbarer Defensiv-Strategie zu beschreiben, um mit der Aufzählung von allerlei Kraut und Buschwerk die Wahrnehmung für das große „gartenarsenal“ zu schärfen. Das Gedicht mit dem Titel „das königliche botanikbatallion erläutert seine strategie“ ist der niederländischen Dichterin Maria Barnas gewidmet und beschreibt einen Landschaftsgarten als Schauplatz der Verteidigung und Abschirmung und ist doch nur eine Ansammlung von Pflanzen und Wortspielereien:

keine haubitzen-berberitzen
sind unser metier, statt mörsern mäusedorn;
eher muskatnuß als musketen
und malven, salven, malven!

Wenn Wagner den Regen porträtiert, dann hören wir ihn nicht nur, sondern sehen und riechen ihn förmlich:

der über land zieht wie ein zirkus,
spektakel und vorhang zugleich,
schnürboden des großen wetter-
und wandertheaters; […]
auferstehung – die leichteste übung.
schlummert einstweilen in autoreifen
und starrt aus pfützen und zisternen
zurück auf den eigenen ursprung,
derweil die bäume noch stundenlang
vertieft sind in ihr selbstgespräch.

Neben Fauna und Flora beschreibt uns Wagner, was er alles rund um den Globus gesehen hat. Weltreisen werden in ein paar Zeilen verdichtet und machen nicht nur staunen, wie knapp so etwas ausfällt, sondern auch wie nahe alles ist, als wäre die Ferne gerade um die Ecke und vor allem auch, in welche Ecken ein deutscher Dichter überall hineinschaut und um welche Ecken er mit welcher Anekdote gerade kommt.

Das titelgebende Gedicht finden wir zum Schluss – es ist das Firmenschild eines Unternehmens, das genau damit handelt, mit Steinen und Erden. Sein Sortiment besteht aus Mineralien, aus Sand und Kies in unterschiedlichsten Qualitäten, sprich Körnungen. Im Blick des Dichters wird es welthaltig im direkten wie übertragenen Sinn, um so der (an)fassbaren Welt die Tür zur Metaphysik zu öffnen. Man kann das mögen oder auch nicht, aber das Banale ist hier niemals banal, sondern mindestens einen feinen Sprachwitz wert, und gelegentlich verdeckt das Schöne nur sehr unzureichend und mit Absicht das Grausame und Hässliche darunter, wenn etwa die Halde aus Autoreifen „dort, wo die stadt versickert“ mal eben zur „gummiakropolis“ wird.

Titelbild

Jan Wagner: Steine & Erden. Gedichte.
Hanser Berlin, Berlin 2023.
112 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446277304

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