Italien kann die Seele öffnen
Bodo Kirchhoffs neuer Roman „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ zeigt Wege auf, um Leichtigkeit und Freiheit im Leben zu finden
Von Thorsten Schulte
Bodo Kirchhoffs neuer Roman Seit er sein Leben mit einem Tier teilt ist ein Kammerspiel. Hauptperson ist der kinderlose, alternde, frühere Synchronsprecher und nur als Nazi-Scherge in Hollywood-Filmen halbwegs erfolgreiche Schauspieler Louis Arthur Schongauer. Nach dem Tod seiner Frau hatte er sich nach Italien zurückgezogen und lebt seither mit seiner Hündin Ascha am Gardasee. Zwei Frauen kommen zu ihm an den See. Die eine, Frida Roth, eine 24-jährige Reisebloggerin, hat sich mit ihrem defekten Wohnmobil verfahren und strandet auf Schongauers Grundstück. Weil der einzige Mechaniker des Ortes keine Zeit hat und weder sie noch Schongauer es eilig mit der Abreise haben, entwickelt Frida sich zur Dauerparkenden. Die andere, die 49-jährige freie Autorin Almut Stein, kündigte ihren Besuch an mit Bitte um Erlaubnis; denn sie kommt, um ein Portrait über ihn zu schreiben. Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto inniger und aufwühlender werden die Gespräche. Und Schongauer und die beiden Frauen kommen sich näher.
Torri del Benaco, der Monte Baldo, Wege mit Seeblick und der Gardasee selbst bilden die Kulisse für das Kammerspiel. Kopfsteinpflaster, vereinzelt Glühwürmchen, Eidechsen wärmen sich an brüchigen Steinmauern. Pfade führen durch Olivenhaine bis zum antiken Ortsviertel Coi. Die Szenerie wirkt wie einem Traum entsprungen. Von großer Schönheit leuchten die Naturbeschreibungen in diesem Roman. Nicht nur jene, welche schon einmal in Norditalien waren, fühlen beim Lesen die Hitze, riechen die warmen Steine und hören das Zikadenzirpen, welches stets Sommertage am Gardasee begleitet. Bodo Kirchhoff beschreibt das Wetter und seine Umschwünge am See so treffend und intensiv, dass drückende Nachtluft und Sommergewitter tatsächlich zu spüren sind. Wenn der Wind über die Bergrücken stürzt, Windstöße mit Tuffsteinen beschwerte Schilfmatten anheben und Oleanderbüsche in Böen rauschen, ist dieses beinahe wirklich zu hören und der Leser kann ein Gewitter aufziehen sehen: „Nach Norden hin gibt es schon Wellen mit schaumigen Spitzen, und wo die Sonne hinfällt, ist das Wasser von leuchtendem Grün […] und trifft die Windfront erst auf den See, entsteht ein Aufruhr, als würde das Wasser kochen.“
Eine solche Blickführung, eine Konzentration auf die Natur und die scheinbar kleinen Freuden des Lebens – den Geschmack von Gnocchi und Knoblauch, Rotwein, Gerüche, Geräusche und die einzigartige, traumhafte Atmosphäre Norditaliens – kann die Seele öffnen. Die Nähe zur Natur kann helfen, wieder zu sich selbst zu finden, insbesondere jetzt. Vielleicht werden seit der Pandemie und in Kriegszeiten häufiger Fragen nach dem Sinn des Lebens gestellt. Täglich mit der Endlichkeit konfrontiert zu werden, sich um die Gesundheit und die Zukunft sorgen zu müssen, führt unweigerlich zum Hinterfragen. In Bodo Kirchhoffs Roman sitzen schon vormittags vor einer Bar neben einer Tankstelle „Männer, die sich übernommen hatten“ und „Männer, die verlassen wurden“. Sie haben sich mit einem Geschäft übernommen, einem Lokal oder „zu schönen Frauen“. Der Leser sieht diese Männer und Schongauer, dessen Herz „drohte, aus dem Takt zu kommen“ und einen Stent gesetzt bekam, und versteht sie. In ihnen manifestiert sich ein aus dem Gleichgewicht geratenes Dasein der Gegenwart, das Post-Corona-Leben, welches geprägt ist von zu vielen Sorgen, geschlossenen Ladenlokalen in zunehmend verödenden Innenstädten, neuer Einsamkeit und Ängsten. Rezession, Inflation und Kriegsangst. So aktuell ist der Roman, Ukraine-Krieg und Pandemie werden mehrfach genannt. „Lies noch was, das ist besser als schießen“, rät Schongauer seiner Besucherin Frida weintrunken. Und der Leser ergänzt in Gedanken unweigerlich, wie sehr ihn tägliche Diskussionen um Waffenlieferungen und die reale Bedrohung durch Russland belasten, weil das Gefühl überhandnimmt, vor ein paar Jahren aus einer Welt gefallen zu sein. Wie Schongauer, den seit dem Tod seiner Frau Erinnerungen quälen; er ist dünnhäutig geworden und sieht „das Seidene, an dem alles hängt, das Hören und Sehen, die Verdauung und seine Beweglichkeit“. Kirchhoffs Roman lädt zur Meditation über einen gegenwärtigen bedrohten Zustand der Welt, den eigenen Abgrund und die eigene Zukunft und Gesundheit ein. Wo sind noch Leichtigkeit und Freiheit zu finden? Ist noch Platz für die Liebe?
Leichtigkeit findet Schongauer langsam im Kennenlernen von Frida und Almut wieder; Freiheit lebt und erlebt Schongauer im Roman mit seiner Hündin Ascha am Gardasee. Sie beleben ihn wie die Gestalten in Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen Antonius den durch Askese ermatteten Antonius. Flauberts Roman liegt auf Schongauers Toilette, er lässt Frida ihn lesen. Und Frida versteht, dass Gott laut Flaubert entweder „das Böse in der Welt gleichgültig sei, sonst wäre die Welt nicht voll davon. […] Oder seine Schöpfung ist mangelhaft – vielleicht ja mit Absicht, sagt Frida. Damit wir sie verbessern, kann man auch auf einer Reise tun.“
Analogien zwischen Kirchhoffs und Flauberts Figuren ziehen sich durch den gesamten Roman: Der Kampf des einsamen Künstlers mit inneren Dämonen aus der Vergangenheit und das Ringen mit der Erinnerung an Liebe, welche sich in der noch gemeinsam mit seiner toten Frau geretteten Hündin manifestiert. Schongauer sorgt sich, dass das „Taglose“ – ein einsames Dämmern zwischen Tag und Nacht – zurückkehren könnte, falls ihn Frida und Almut verlassen und er allein auf dem Hang bleibt „nur mit Ascha, die ihn lange überleben wird“. Denn dann bliebe wohl nur das Warten auf den Tod. Frida fragt, „ob sich überhaupt etwas lohne, wenn man allein sei und alt werde“. Während er sein Boot klarmacht, müht er sich, jung und agil zu wirken; wenn er etwas unterm Sofa hervorholt, fällt ihm das Knien zunehmend schwerer; häufig denkt Schongauer über sein Altern nach. Morgens sieht er erschaudernd ein hageres Gesicht im Spiegel. Und ihm wird die Brust eng, sein Herz schmerzt.
Wie in vergangenen Romanen von Bodo Kirchhoff fallen viele autobiografische Details auf. Schongauer und Kirchhoff sind gleichaltrig. Dem 75 Jahre alten Autor ist die Fragilität des Lebens bewusst, er hat es häufig betont, unter anderem vor einigen Jahren auf der Frankfurter Buchmesse. Bodo Kirchhoff wohnt in Frankfurt am Main und am Gardasee, dem Schauplatz des Romans. Er taucht abwechselnd in das geschäftige Treiben der Bankenmetropole ein und zieht sich wieder in sein Haus mit Blick über das pittoreske Torri del Benaco zurück. Ein Leben zwischen Gegensätzen. Zwischen Hektik und Ruhe. Zwischen Großstadt und Natur. Und zweifellos zwischen geistiger Höchstleistung und spürbarem Altern der Knochen. Bodo Kirchhoff steht am Kreuzpunkt des Widersprüchlichen der heutigen Welt. Er blickt zurück und voraus. Er zeigt Wege auf. Kirchhoff würde diesem Satz vermutlich zustimmen: Italien kann die Seele öffnen. Seit er sein Leben mit einem Tier teilt ist der literarische Beweis. Der Roman ist in jeder Nuance wie die in ihm beschriebene Höhenluft, „die man einsaugen muss“. Die formale Schönheit ist ein ästhetischer Genuss. So kann nur schreiben, wer Abgründe kennt und versteht und in schwierigen Jahren Weitsicht erlangt hat. Bodo Kirchhoff ist ein großer, ganz und gar nicht kitschiger Roman über Liebe, Sinnsuche und Schmerz gelungen, dessen Ende nicht vorweggenommen werden sollte. Denn auch das soghafte Finale ist eine Stärke des Romans, weil es schwer erahnbar ist. Vielleicht kein Lieto fine. Schonungslos realistisch bleibt Kirchhoff bis zur letzten Seite.
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