Reden zu Israel

David Grossmans Reden im Band „Frieden ist die einzige Option“ plädieren für Humanität und Demokratie und trauern um die Opfer des 7. Oktobers

Von Florian BirnmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Birnmeyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Konflikt zwischen Israel und seinen Gegnern wird seit Jahrzehnten immer wieder – mit Unterbrechungen – von Neuem aktuell, ohne dass bislang ein dauerhafter Frieden in der Region gefunden wurde. Am 7. Oktober verübte die Hamas einen terroristischen Angriff auf israelisches Staatsgebiet und brachte dabei mehr als tausend Menschen um, darunter auch Minderjährige, Zivilisten und Frauen. Es handelte sich um den größten Angriff auf jüdisches Leben seit der Shoah. Seitdem beherrscht der Konflikt zwischen Israel und der Hamas die Nachrichten. Israels Premier Netanjahu rief als Reaktion auf den Angriff der Hamas den Kriegszustand aus und leitete eine Militär-Offensive im Gaza-Streifen ein, der seitdem ebenfalls zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen. Noch immer sind über 100 israelische Geiseln in Gefangenschaft der Hamas, auch sechs Monate nach dem Angriff.

In dem Konflikt zwischen israelischen und palästinischen Kräften ist es schwer, den Überblick zu behalten. Man verliert sich leicht im Dickicht aus vergangenen Kriegen, Unterstützern, Friedensabkommen und gegenseitigen Vorwürfen und Anschuldigungen. Da ist es gut, wenn jemand versucht, mit einer grundlegend menschlichen Haltung Ordnung in die Auseinandersetzungen in und mit Israel zu bringen, wie dies David Grossman in seinem Werk Frieden ist die einzige Option tut.

Der jüdische Schriftsteller, der hierzulande durch Romane wie Kommt ein Pferd in die Bar (2016) und Was Nina wusste (2020) bekannt ist, schaltet sich mit dieser Sammlung seiner Reden aus den Jahren 2017, 2021, 2022 und 2023 in die aktuellen Fragen der nationalen israelischen Debatte und des Nahostkonfliktes ein. Er tritt als Intellektueller auf, der seine Positionen zu Themen wie Verständigung zwischen Israelis und Palästinenser/innen (vor dem 7. Oktober), geplante israelische Justizreform und Zukunft der israelischen Demokratie, Ziel einer Zweistaatenlösung und Besatzung von Gebieten durch Siedler/innen öffentlich äußert.

Dass seine Haltung zur „Besatzung“ in Israels Öffentlichkeit nicht mehrheitsfähig ist, dessen ist sich Grossman bewusst. Auch in der weite Teile der Gesellschaft umfassenden Protestbewegung, die sich gegen die angestrebte Justizreform der nationalistischen Regierung um Premierminister Netanjahu wandte, war das „Besatzungsregime“, wie Grossman es drastisch nennt, kein Thema, da dies laut Grossman die Gefahr geborgen hätte, die Bewegung zu spalten oder zu schwächen. Grossman wiederum hielt eine Rede gegen die Umsetzung der geplanten Justizreform, in der er vor dem Ende der Demokratie und des Rechtswesens in Israel warnt, da die Richter nach der Vorlage des Gesetzesvorhabens von Politikern ernannt werden sollten. Die Justizreform, gegen die sich die gesamtgesellschaftlichen Proteste 2023 richteten, wurde letztlich vom Obersten Gericht des Landes im Kern für nichtig erklärt.

Grossman schreibt über die Verletzlichkeit des jüdischen Staates und fragt sich in einer seiner Reden, was ein jüdischer Staat überhaupt sei und sein könne:

Ein Land ohne einvernehmlichen Grenzverlauf sieht sich, vor allem in einer instabilen Region wie der unseren, ständig einer doppelten Bedrohung ausgesetzt; da ist einmal die Versuchung, in das Territorium der Nachbarn einzudringen, andererseits die Befürchtung, von ihnen überfallen zu werden. Aufgrund dieser ständig spürbaren Spannung ähnelt Israel eher einer Festung als einer Heimstatt. Auch das prägt das Gesicht des heutigen jüdischen Staates.

Vor dem 7. Oktober wünschte sich Grossman mehr israelisch-palästinensische Verständigung. Er schrieb im Juni 2023: „Vielleicht werden, wenn der ,große‘ Konflikt irgendwann beigelegt ist, jüdische und palästinensische Bürger Israels die seelische und mentale Kraft aufbringen, ohne die eine echte, umfassende Versöhnung nicht möglich ist.“ Grossman hatte die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung, die allerdings – ebenso wie die Hoffnung auf mehr Verständigung – nach den Ereignissen des 7. Oktober 2023 zunichte gemacht wurden und angesichts des Ausmaßes der Gewalt und der Zerstörung auf beiden Seiten der Grenze schwer wiederzubeleben sein werden.

Grossman sagt zum 7. Oktober in einer Trauerrede in Tel Aviv: „Ja, unsere Züge sind andere geworden. Die, die wir einmal waren, werden wir nie wieder sein. Die Bilder der Gräuel, die Fratzen des Hasses, denen wir ausgesetzt waren – so etwas sieht ein Mensch nicht, ohne ein anderer zu werden. Als hätte sich inmitten der Realität ein Strudel aufgetan und uns eingesogen.“ Grossman zitiert den jüdischen Dichter Haim Gouri: „Hier liegen unsere Körper, in einer langen, langen Reihe, unsere Züge sind andere geworden. Aus unseren Augen schaut der Tod.“ Diese lange, lange Reihe ist die für beide Seiten prägende und traumatisierende Erfahrung des Nahostkonflikts, der scheinbar nie enden möchte. Es ist für Israel auch der Holocaust, der für die jüdische Erfahrung und Erinnerung immer noch prägend ist und immer sein wird und nun auch der 7. Oktober, der diese wieder wachgerufen hat.

Grossman erhielt 2022 in Amsterdam den Erasmuspreis, seine Rede dazu würdigt den Beitrag der Kunst zu einem gelungenen Leben. Er erinnert darin unter anderem an die Jüdin Etty Hillesum aus Amsterdam, die ins Konzentrationslager Ravensbrück und später nach Auschwitz deportiert wurde. Etty Hillesum schaffte es, selbst in den dunkelsten Stunden der Barbarei ein freier Mensch zu bleiben und der Verzweiflung zu widerstehen. Sie schrieb:

Wenn ich nachts auf meiner Pritsche lag, mitten zwischen leise schnarchenden, laut träumenden, still vor sich hin weinenden und sich wälzenden Frauen und Mädchen, die tagsüber oft sagten: „Wir wollen nicht denken“, „wir wollen nichts fühlen, sonst werden wir verrückt“, dann war ich oft unendlich bewegt, ich lag wach und ließ die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages im Geist an mir vorbeiziehen und dachte: Laß mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein. (…) Ich möchte das denkende Herz eines ganzen Konzentrationslagers sein.

Grossmans Werk ermutigt uns, auch in der Dunkelheit die hellen Seiten zu sehen. Er vertraut auf die Kraft der Humanität, der Freiheit, der Demokratie und der damit seit der Aufklärung verbundenen Werte, die heute von verschiedenen Seiten wieder in Gefahr geraten, aber auch der Kunst, der Literatur und der Schönheit. Mit seinen Reden macht er den Menschen Mut und versucht, sie um die besagten gemeinsamen Werte zu versammeln. Er ist ein Verfechter der Menschlichkeit und der Demokratie, von denen es dieser Tage noch mehr bräuchte.

Titelbild

David Grossman: Frieden ist die einzige Option.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer und Helene Seidler.
Carl Hanser Verlag, München 2024.
64 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783446281561

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