Vom eigensinnigen Studenten Uwe Johnson

André Kischel gräbt nach den Wurzeln des Dichters in seiner Promotion „Wofern man nur richtig zu lesen versteht“

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1961 verfertigt Günter Grass eine Kohlezeichnung des siebenundzwanzigjährigen Uwe Johnson. Zu betrachten ist ein in sich gekehrtes Gesicht, dessen Augen nicht auf die äußere Welt gerichtet zu sein scheinen. Kurz: ein Charakterkopf.

„Einen Tag nach seinem 22. Geburtstag und zwei Tage vor seiner mündlichen Abschlussprüfung bietet Johnson dem Aufbau-Verlag sein Romanmanuskript ‚Ingrid‘ an.“ Auf etwa zwanzig Seiten skizziert André Kischel, seine Ausführungen abschließend, wie es dazu hat kommen können, dass ein kaum dem Jugendalter entwachsener Student sein Manuskript „beim wohl renommiertesten Verlag der DDR“ veröffentlicht sehen wollte. Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953 wird erst 1985, ein Jahr nach dem Tod von Johnson, im Suhrkamp-Verlag erscheinen. Und das, obwohl den gerade erst aus dem Nichts geborenen Autor „schon nach zwei Wochen“ eine „erste, beinahe euphorische Reaktion auf sein Manuskript“ erreicht. Aufbau-Lektor Herbert Nachbar ist „begeistert von Johnsons Roman. Er habe das Buch ‚in zwei Tagen und einer Nacht‘ nicht nur ‚gelesen‘, sondern sogleich auch ‚begutachtet‘.“ Wer auch nur bruchstückhaft über die politische wie kulturelle Stimmung in der damaligen DDR informiert ist, den wird es nach der Lektüre von Ingrid Babendererde nicht verwundern, dass auf diesen Enthusiasmus des Lektors keine Veröffentlichung folgen konnte, Tauwetterlage nach Stalins Tod 1953 hin oder her.

Tragisch allerdings, dass sich genau dieser Vorgang ein Jahr später im Suhrkamp-Verlag wiederholen sollte. Es ist Hans Mayer, der das Manuskript seines ehemaligen Studenten bei Suhrkamp ins Gespräch bringt. Im Nachwort der Romanausgabe lässt Siegfried Unseld uns wissen, wie Peter Suhrkamp auf Johnsons Text in einem Brief an den Urheber reagiert hat: „‚Es juckt mich, ein Buch daraus zu machen, und zwar sollte das Buch möglichst noch im Herbst herauskommen.‘“ Eben dieser Siegfried Unseld wird dem Verleger diesen dringlichen Wunsch ausreden, ohne im Nachhinein begreifen zu können, wie es soweit hat kommen können. Kurz vor Suhrkamps Treffen mit Johnson „hatte ich ihm noch einmal meine Bedenken mitgeteilt. Sie ließen ihn völlig ungerührt.“ In seinem Nachwort zeigt sich Unseld selbst erstaunt darüber, dass Suhrkamp das Buch dann doch nicht veröffentlicht hat, es „wird sein Geheimnis bleiben (…)“.

Kischel allerdings zeigt Verständnis für Unselds Ablehnung, die uns nicht nachvollziehbar erscheint. Und er widerspricht sich nach unserem Dafürhalten selbst, wenn er Unselds Ablehnung zunächst rechtfertigt mit der Behauptung, Unseld tue dies „in der sachlich gebotenen Form und Gesittung sowie mit Argumenten, die sich hören lassen“. Seine Beobachtungen am Text seien „als Kritik im Grunde nicht tragfähig genug (…), um eine grundsätzliche Zusage des Verlegers rückgängig zu machen.“

Kischels Arbeit beschäftigt sich ausführlich und akribisch mit den schriftlichen Arbeiten des Germanistikstudenten Johnson, die dieser seinem akademischen Lehrer Hans Mayer vorlegt. Er analysiert Johnsons Arbeitsweise, indem er aufzeigt, wie eigenständig, eigensinnig und nicht zuletzt unorthodox Johnson sich mit den Gegenständen auseinandersetzt.

Sichtbar wird dabei die geistige Haltung eines Studenten zwischen Anpassung an die vorgegebenen marxistisch geprägten Normen der Literaturbetrachtung einerseits und dem Beharren auf einer eigenständigen Lust am Widerspruch andererseits. Zu Recht fasst Kischel diese Haltung wie folgt zusammen, dabei auf Ingrid Babendererde verweisend: „Erst der Bibelbezug, der Bezug auf die Verfassung der DDR (…) lassen erkennen, wie jede Form von Gängelung in ihr Gegenteil umschlagen muss. Und je kanonischer ein Text, je strikter seine Auslegungsregeln, desto größer die Versuchung, sich über sie hinwegzusetzen.“

So wird Johnson sichtbar als ein junger Mann, der – und damit sind wir erneut beim einerseits-andererseits – einerseits in diesem Staat DDR seinen Platz finden möchte und dem deshalb „daran gelegen sei, dass aus seinem Manuskript ‚ein Buch wird in der Demokratischen Republik‘.“ Andererseits ist Johnsons Bereitschaft zur Anpassung aus moralischen wie intellektuellen Gründen begrenzt. Die Versuchung, sich über strikte Auslegungsregeln hinwegzusetzen, ist keine der Sünde, sondern eine der eigenständig gewonnenen Einsichten, dass es dem Autor wie auch den Figuren seines literarischen Erstlings unmöglich ist, sich das selbst- und eigenständige Denken verbieten zu lassen. Und die Ergebnisse dieses Denkens dann auch auszusprechen und aufzuschreiben in einem Roman.

André Kischel ist es wichtig, die studentischen Arbeiten Johnsons deutlich von seinem literarischen Werk abzugrenzen; eine Grenze, die aus wissenschaftlicher Sicht nachvollziehbar erscheint, eine Grenze aber auch, die man sich besser als äußerst durchlässige denn als Mauer vorstellen sollte:

Gleichwohl gehört auch diese Klausur nicht zum Werk des Schriftstellers Uwe Johnson. Es ist zuallererst eine Klausur des Studenten, die mit der darin angewandten, ganz deutlich auf das literarische Schreiben des späteren Autors verweisende Darstellungsmethode, zum Werkhof, zum engeren Werkzusammenhang zu rechnen ist.

Ohne es deutlich auszusprechen, offenbaren Kischels Analysen der studentischen Texte Johnsons, dass dieser, als Student wie als Autor, letztlich nicht bereit war, seine eigenen Überzeugungen zu opfern, um seine Existenz als potentieller Lektor und Schriftsteller in der DDR nicht zu gefährden. Die Abgrenzung und Unterscheidung zwischen Werk, Werkhof und Werkzusammenhang entsprechen sicherlich akademischen Vorgaben. Wichtiger erscheint Kischels Beobachtung, dass Johnson sich mit der Klausur über den Schriftstellerkongress 1956 „über die Gepflogenheiten des universitären Lehrbetriebs hinwegsetzt“. Zwar ist er schließlich bereit, die nicht zensierte Klausur zu wiederholen, weil es zwingend notwendig war, „‚auf jeden Fall einen Abschluss von der Uni‘“ zu erhalten. In Johnsons Begleitumständen, die Kischel zitiert, heißt es dazu: „‚Hier gab er klein bei vor dem, was ihm angeraten wurde als Vernunft.‘“

Auf solcherart Ratschläge wird der Autor Uwe Johnson künftig verzichten.

„Geduld und Ausdauer zeigten auch meine Eltern, waren einerseits interessiert am Gegenstand, andererseits verwundert, dass es da so viel aufzuschreiben gebe – vielleicht hätte es weniger sein können.“ Dieser dezenten Selbstkritik Kischels in seiner Danksagung können wir uns nur anschließen. Und wie seine Eltern waren wir über die komplette Lektüre dieser weit über fünfhundert Seiten „interessiert am Gegenstand“, sind allerdings der Meinung: der Autor hätte sich kürzer und dafür prägnanter ausdrücken sollen. Häufig verdeckt das Heu der Details die dort zu findende Stecknadel der Erkenntnis. Denn André Kischel führt seinen Lesern vor Augen, dass Uwe Johnson, wie er in einem Brief an den Lektor des Mitteldeutschen Verlages der DDR schreibt, „nach der Ablehnung von Ingrid Babendererde“, zu folgendem Ergebnis kommen musste: „‚für die Republik reicht es erwiesener Massen nicht‘“.

Eine Notiz am Rande können wir dem Autor nicht ersparen. An einer Stelle ist Hans Mayer in den Worten Kischels der „kleine jüdische Gelehrte mit seiner bewegten Vergangenheit“, etwa zweihundert Seiten später ist von Heine als „dem kleinen jüdischen Emigranten“ die Rede. Was genau will Kischel mit diesen Formulierungen zum Ausdruck bringen? Haben Mayer und Heine sich selbst als klein, jüdisch und damit angreifbar bezeichnet, oder bedient Kischel hier ein Klischee, das zu verwenden die so benannten in ein zwielichtiges Licht rückt und gegen das sie sich nicht mehr wehren können?

Titelbild

Andre Kischel: wofern man nur richtig zu lesen versteht. Weder Lektor noch Autor – der Student Uwe Johnson.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023.
557 Seiten , 80,00 EUR.
ISBN-13: 9783847115922

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