Geister wie wir

Sachiko Kashiwabas Jugendbuch „Sommer in der Tempelgasse“ schildert das jenseitsbezogene Ferienprojekt eines japanischen Schülers

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Eindruck verfestigt sich, dass beinahe alles, was heute an japanischer Literatur in Übersetzung den Weg in den westlichen Buchmarkt findet, stets zwei Themen aufzuweisen hat: Katzen und Geister. Inhalte aus Japan, d.h. „J-Content“, bleiben seit den 2000er Jahren in dieser Hinsicht verlässlich. Leser und Leserinnen scheinen diese Ausrichtung zu begrüßen. Neben dem Faktor Originalität, den Erzähltes aus Japan zu bieten hat, schätzen sie vermutlich auch die psychoregulative Komponente in vielen Geschichten – man hat sie in der Forschung als iyashi-Formel identifiziert. Während iyashi tröstende/heilende Impulse aussendet, erfüllt die sogenannte iyashi bungaku zugleich die Aufgabe, den Rezipienten aufzubauen und ihn für das Leben zu stärken. Sachiko Kashiwabas Sommer in der Tempelgasse kommt als Jugendliteratur ohnehin einem pädagogischen Anliegen entgegen, das Buch plädiert aber in erster Linie für die Überwindung von Ängsten sowie für Eigeninitiative und Mut.

Das Mädchen im weißen Kimono

Held der „Tempelgasse“ ist der Schüler Kazuhiro Sada, seines Zeichens ein bekennender Angsthase. Er wohnt mit seinen Eltern und der älteren Schwester in einem großen alten Haus. Vor wenigen Monaten hat er seinen Großvater verloren, gegenwärtig stehen die Sommerferien bevor. Der Autorin gelingt es auf wenigen Seiten, ein dichtes Bild von Familie, Schule und Freundeskreis zu zeichnen, wobei die oft als „Klein-Kyoto“ bezeichnete Stadt Masuda als Heimat des Protagonisten „Kazu“ eine auf das traditionelle Japan hin angelegte Hintergrundkulisse bietet. Zum Auftakt der Geschichte wird Kazu, der bis spät Gruselsendungen im Fernsehen ansieht, mit dem Anblick eines Mädchens im weißen Kimono konfrontiert. Er befürchtet, ein Geist sei in das Haus Sada eingedrungen, wird jedoch von seinen Verwandten nicht ernst genommen.

Familiengeschichte, Heimatgeschichte

Kashiwaba belässt es nicht bei dieser Erscheinung. Bald wird klar, dass sich Akari – so der Name des Geistermädchens – in ihrer neuen menschlichen Form als Mitschülerin Kazus manifestiert hat. Nur er erkennt das wahre Wesen der Klassenkameradin, den Rest der Klasse täuscht eine trügerische Erinnerung. Im Rahmen des obligatorischen Schulferienprojekts führt er Recherchen zu den rätselhaften Vorgängen durch. Er erfährt nach und nach, in welcher Weise seine Familie mit Akari und der Tradition der „Wiedergänger“ in Verbindung steht: Es existiere eine geheimnisvolle Buddhastatue, deren übernatürliche Kräfte Tote in ein zweites Leben zu rufen vermag. Sie besitze eine Gruppe von Anhängern, einen sogenannten Tempel, ihr Standort wechsle von Haus zu Haus. Zuletzt befand sich der Buddha im Besitz der Sadas. Bei den Erkundigungen beschäftigt sich der Junge mit der Historie seines Wohnorts und lernt eine Reihe von Personen aus der älteren Generation kennen, die ihm auch Details aus der Familiengeschichte nahebringen, zum Beispiel seinen Großvater betreffende Dinge. Zu ihnen zählt Frau Minakami, bei der die notorische Katze wohnt, ein Exemplar mit dem Namen Kiriko, im Text als „dreistes Fellknäuel“ adressiert. Kazu vertieft zudem die Beziehung zum Onkel, einem Archäologen, den er zum Tempel befragt, und erweitert so Horizont und Bewegungsradius.

Die Geschichte in der Geschichte

Der Schüler will vor allem Informationen über Akari erhalten und stößt dabei auf die unvollendete Erzählung aus einem alten Mädchenmagazin. Es handelt sich um eine von der Verfasserin Mia Li geschriebene Fantasy-Story mit dem Titel Der Mond steht links, die offenbar in einem fiktiven Mittelalter spielt: Protagonistin Adi stammt aus einer armen Familie, wird vom Vater auf dem Markt in der Stadt verkauft und muss fortan für die böse Hexe im Eismeer nach einer Perle tauchen, die dem untoten Sohn der Zauberin die Rückkehr ins Leben sowie die Inbesitznahme des Landesthrons ermöglichen soll. Kashiwaba schafft mit dieser „Geschichte in der Geschichte“ die Gelegenheit, das Erzählpanorama zu erweitern: Augenscheinlich spielt die Schilderung von Adis Schicksal in einem eurasischen Umfeld. Zauberin, Schloss, Kerker und Prinz lassen an europäische Märchenstoffe denken bzw. an ein Kunstmärchen wie Hans Christian Andersens Schneekönigin. Parallelen könnten ebenfalls zum ikai-Boom der 1980er Jahre gezogen werden, in dessen Gefolge zahlreiche Werke mit Jenseitsthematik, d.h. mit Bezug zur „Anderen Welt“ (ikai) publiziert wurden, u.a. Taichi Yamadas (1934-2023) Ijin to no natsu („Sommer mit Fremden“). Generell gehört es zur Schreibtechnik Kashiwabas, die Genres zu mischen: Geistergeschichte und Adoleszenzroman treffen auf Fantasy und Light Novel im Magazinformat.

Das Sommerferienprojekt als Reifungsschub

Sommer in der Tempelgasse bietet spannende Lektüre. Das von einem Newcomer-Verlag schön gestaltete Buch profitiert von der gelungenen Übersetzung, die den Ton trifft. Allerdings sind sowohl die Geistergeschichte um Akari wie auch die Hexenstory mit Adi von einer pädagogischen Subnarration durchwebt, die auf dem Ideal des Ganbarismus fußt. Unter Ganbarismus versteht man ein in Japan vielgelobtes Durchhaltevermögen. Es versetzt das Individuum in die Lage, angesichts der Widrigkeiten der Welt nicht aufzugeben. Akari und Adi repräsentieren diese Fähigkeit in einem hohen Grad. In Adis Mittelalter bleibt den Armen keine Qual erspart. Sie sind als Teil einer monarchischen Klassengesellschaft rechtlose Verfügungsmasse, die ein von Grausamkeiten geprägtes Sklavenleben führt, ohne jede Aussicht auf Freiheit und Selbstverwirklichung. Wenn Adi und ihre Freunde die schlimmen Situationen bewältigen konnten, muss dies umso mehr für Kazu in einer doch deutlich zivilisierteren Zeitzone gelten. Eine zusätzliche Botschaft bezieht sich auf die im Buch positiv bewertete Erweiterung der Perspektiven: Grenzlinien zwischen Menschen und Geistern wären nicht immer klar, man solle den Wiedergängern ein Existenzrecht zubilligen. Wer weiß schon, ob Vorfahren oder Verwandte am Ende nicht den „Anderen“ zuzurechnen sind. Kashiwabas Argument für Diversität erstreckt sich also bis in die Jenseitswelt: Ihr Kollektiv umfasst auch untote Mitbürger.

Um Akari zu helfen, nimmt der Protagonist einiges auf sich. Da es bis zum Schluss von Sommer in der Tempelgasse ungewiss ist, ob sie ihr zweites Leben auf Erden genießen darf (es gibt Gegner der Revenants) oder wieder zum Geist der vor vierzig Jahren jung an einer Krankheit gestorbenen Saori werden muss, möchte er ihr möglichst viele schöne Erlebnisse verschaffen. In erster Linie gehört dazu die Lektüre des zweiten Teils der Fantasy-Story aus der Feder Mia Lis. Tatsächlich nötigt er die entlarvte Verfasserin, die Fortsetzung zu schreiben. Das Ferienprojekt endet damit, dass der anfangs nicht übermäßig selbstbewusste Junge es lernt, Handlungsfähigkeit zu erlangen und eigene Ansichten erfolgreich zu vertreten. Zwischenmenschliche Interaktionen inner- und außerhalb der Familie fallen ihm nun nicht mehr schwer. Kazu gewinnt eine Reihe von Erkenntnissen über den Wert des Daseins, über Mitgefühl, die Bewahrung von (historischer) Erinnerung sowie über ethische Dimensionen, Kommunikationsstrategien und die Freuden des Wissenserwerbs an sich. Er besteht seine Bewährungsprobe.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sachiko Kashiwaba: Sommer in der Tempelgasse.
Mit Illustrationen von Miho Satake.
Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz.
Limbion Verlag, Dießen 2024.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783910549043

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