Freiheit für die Andersdenkenden

In Jürgen Heimbachs neuem Roman „Waldeck“ weht in den 1960er Jahren ein frischer Wind durch die verkrusteten Strukturen der alten Bundesrepublik

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen 1964 und 1969 traf sich auf der im Hunsrück gelegenen Burgruine Waldeck eine neue Generation von Musikern mit ihren Anhängern. Von Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader, Fasia Jansen oder Reinhard Mey, die hier ihre ersten großen Karriereschritte unternahmen, hatte eine breitere Öffentlichkeit bis dahin noch wenig gehört. Initiiert von Mitgliedern des studentischen Kreises in der „Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck“ sollte das anfänglich infrastrukturell für größere Veranstaltungen kaum taugliche Burggelände zu einem Ort aufgebaut werden, von dem kulturelle Impulse ins ganze Land und darüber hinaus ausgehen sollten. Vor zuerst knapp 400 Besuchern, aus denen in den folgenden Jahren bis zum sechsten und letzten Festival 1969 einige Tausend wurden, etablierten die Macher vor Ort und die von ihnen eingeladenen Gäste eine linksorientierte, kritische Szene, die ihre Wurzeln in der amerikanischen Folkmusik und der damit verbundenen Protestkultur hatte.

Jene Burg Waldeck und das vom 15. bis zum 21. Mai 1964 dort unter dem Motto „Chanson Folklore International – Junge Europäer singen“ stattfindende erste der schnell überregional bekannt werdenden Festivals zum Hintergrund seines neuen Kriminalromans zu machen, war eine kluge Idee von Jürgen Heimbach. Dem 1961 geborenen, heute mit seiner Familie in Mainz lebenden Schriftsteller und Fernsehredakteur gelingt es durch diese Ortswahl nämlich vorzüglich, das Konfliktpotential, an dem sich die Figuren seines neuen Romans abarbeiten, deutlich zu machen. Denn so wie sich rund um die Festival-Bühnen vor allem junge Menschen versammelten, miteinander diskutierten und damit einen Geist repräsentierten, der jenem vieler ihrer Eltern und Großeltern diametral entgegengesetzt war, wartet auch der Roman mit einer Reihe von Vertretern einer Generation auf, die sich nicht mehr in die erstarrten Strukturen der Nachkriegszeit pressen lassen wollen und andere Lebensinhalte suchen als jene, die ihnen in ihrem familiären Umfeld angeboten werden.

Zu diesen jungen Menschen gehört etwa Wilhelmine Karges. Mit zwei älteren Brüdern und einer kleinen Schwester in einem winzigen Hunsrückdorf aufgewachsen, scheint der Lebensweg der aufgeweckten jungen Frau von Beginn an vorgezeichnet. Da der älteste Bruder eines Tages den Hof der Familie übernehmen wird und die Eltern „Mines“ Wunsch nach dem Besuch einer Handelsschule und dem damit verbundenen Erwerb einer höheren Bildung ablehnen, läuft es offensichtlich und damit ganz der Tradition entsprechend darauf hinaus, dass sie dem Werben eines gutsituierten Mannes aus der Gegend nachzugeben hat.

Doch daran ist Wilhelmine nicht interessiert, denn sie hat schon hinter dem Rücken von Eltern und Freundinnen ihren Mann fürs Leben gefunden. Matthew fällt allerdings als in der Nähe stationierter Schwarzer amerikanischer Soldat gänzlich aus dem Muster, nach dem man sich seit jeher in Mines Welt die Zukunft junger Frauen vorstellte. Und da sie überdies noch schwanger ist und das immer weniger verbergen kann, droht ihr wohl dasselbe Schicksal wie ihrer Tante Ilse. Die wurde von Vater und Großvater einst wegen der Schande, die sie über ihre Familie gebracht haben soll, verstoßen.

Auch Silvia Fischer sehnt sich nach Unabhängigkeit. Die Tochter eines Münchener Zahnarztes, der die bald Volljährige seit dem Tod der Mutter vor zehn Jahren allein aufzieht, hat ebenfalls nicht vor, den Mann, den der Vater für sie ausgesucht hat, zu heiraten. Stattdessen zieht es die zeichnerisch Begabte zu Joseph Beuys an die Düsseldorfer Kunstakademie und in Liebesdingen zu einer während eines Frankreichaufenthalts gemachten Urlaubsbekanntschaft. Dass sie just in dieser Zeit noch einen gefährlichen Fund macht, in einer von ihrem Vater sorgfältig verborgenen Aktentasche auf Beweise dafür stößt, dass Ulrich Fischer nach dem Krieg wie viele andere NS-Täter eine neue Identität angenommen hat und die Frau, die sie als ihre Mutter kannte, gar nicht ihre Mutter war, macht die Situation für Silvia nicht einfacher.

Fluchtpunkt beider ihr Leben selbst gestalten wollender junger Frauen ist die Burg Waldeck. Dort will Wilhelmine den Amerikaner Matthew wiedersehen. Dorthin flieht Silvia nach einer letzten, tragisch endenden Auseinandersetzung mit dem vom Vater für sie bestimmten Mann, um sich mit ihrem Urlaubsflirt Martin zu treffen und anschließend zum Kunststudium nach Düsseldorf zu gehen. Und dort spielt auch das erste Kapitel des Romans von Jürgen Heimbach, das mit Burg Waldeck, 16. Mai 1964 überschrieben ist.

Es führt mitten hinein in jene Aufbruchsstimmung junger Menschen, die gerade dabei sind, sich von den überkommenen Werten ihrer Eltern- und Großelterngeneration zu verabschieden. Dabei hilft die Musik – „Gestern Abend, plötzlich im Gewühl/ Kam abhanden mir mein Nationalgefühl“ zitiert der Autor gleich auf Seite eins des Romans einen der Barden jener Protestgeneration, die sich hier erstmalig unter freiem Himmel den aus allen Richtungen zusammengeströmten, wissbegierigen jungen Menschen präsentiert –, ist aber unter dem Strich nur ein Aspekt des Blickes junger Menschen auf eine Welt, die sie nach ihren eigenen Vorstellungen einzurichten gedenken.

Leserinnen und Leser werden allerdings schnell merken, dass die den Roman einleitenden ersten drei Seiten nicht aus der Perspektive von aufbruchswilligen jungen Frauen und Männern formuliert sind. Stattdessen schaut man mit den Augen eines Mannes auf die Veranstaltung, der die hier Zusammengekommenen als „Gammler“ bezeichnet und für ihre Ideen und Sehnsüchte nur Verachtung übrig hat. Und in der Tat hat sich Edgar Winter zur Burg Waldeck aufgemacht, weil er als enger Vertrauter von Ulrich Fischer verhindern will, dass die Dokumente, die Silvia in der Aktentasche ihres Vaters gefunden und auf ihre Flucht mitgenommen hat, in die Öffentlichkeit gelangen. Denn auch er, der nach dem Krieg für die Organisation Gehlen und später den BND gearbeitet hat, besitzt keine Vergangenheit, die bekannt werden sollte. Und im Gegensatz zu seinem Freund Fischer ist er nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel, um das zu verhindern.

Es ist ein raffinierter Kniff, dass Jürgen Heimbach seine Geschichte praktisch vom Ende her erzählt, dann noch einmal eine gute Woche zurückblendet und in einem letzten Abschnitt einen Blick voraus, ins spätere Jahr 1964 wirft. Das schafft Spannung, weil die ersten Seiten auch noch nicht verraten, wie die Konfrontation eines neuen Weltgefühls mit den dunklen Schatten der Vergangenheit denn letztlich ausgeht. Und von Anfang an wird klar, dass der Geist einer neuen Zeit nicht widerstandslos von einem Land Besitz ergreifen konnte, in dem sich noch – teils sorgfältig versteckt und nur darauf wartend, wieder die Macht ergreifen zu können – genug von jenen Kräften tummelten, die die Deutschen einst in einen verheerenden Krieg getrieben und aus der Katastrophe von 1945 nichts gelernt hatten.

Einer, der sich beruflich mit jenen Zeiten auseinandersetzt ist der Journalist Ferdinand Broich. Wer Jürgen Heimbachs Bücher kennt, wird sich noch an den Investigativreporter erinnern, der sich in seinem vorletzten Roman Die Rote Hand, ausgezeichnet mit dem Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Kriminalroman 2020, mit den Umtrieben einer Unterorganisation des französischen Geheimdienstes auseinandersetzte und dabei sein Leben riskierte. In Waldeck ist er nun – neben den beiden jungen Frauen Wilhelmine und Silvia – die dritte Hauptperson. Durch eine KZ-Überlebende auf den Lagerarzt Gernot Tromnau, der sich nach dem Krieg Ulrich Fischer nannte und mit Hilfe alter Kameraden in den Behörden eine bürgerliche Karriere einschlug, aufmerksam gemacht, begibt er sich auf die Suche nach dem Mann. Nachdem sein letzter Artikel ein Fehlschlag war, hofft er, durch die Enthüllungsstory über den an Kriegsverbrechen beteiligten Zahnarzt seinen ramponierten Ruf wieder aufzupolieren.   

Auch Broich verschlägt es schließlich auf die Burgruine Waldeck, wo Jürgen Heimbach seinen Kriminalroman spektakulär enden lässt. Es ist unterm Strich ein Buch, das sein Autor geschickt komponiert hat und das sich sehr gut lesen lässt. Bis in die zahlreichen Nebenfiguren hinein hat Heimbach interessante, die verschiedenen Aspekte der Zeit verkörpernde Charaktere erschaffen. Dass ihm Wilhelmines Turntrainer Otto Schunk dabei an einer Stelle zum Otto Schenk verrutscht ist, soll dem Rheinhessen Heimbach – oder besser: seinem Lektorat – gern verziehen sein. Wartet er doch dafür an anderer Stelle augenzwinkernd mit einem Wachtmeister Studer auf, wohl einem kleinen nachträglichen literarischen Dank für den 2020er Glauserpreis. Und ob sich nicht hinter dem Schriftsteller Meinhard Sandig, den Silvia in Frankfurt trifft, wo gerade der erste Auschwitz-Prozess die Gemüter erregt, ein bisschen auch Jürgen Heimbach selbst versteckt, darf man nur vermuten.       

Titelbild

Jürgen Heimbach: Waldeck. Kriminalroman.
Unionsverlag, Zürich 2024.
352 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783293006072

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