Nahezu glücklich
Über Richard Fords gealterten Frank Bascombe
Von Peter Kock
Vor kurzem wurde der US-amerikanische Autor Richard Ford 80 und ist damit zur kleinen Gruppe älterer Kollegen dazugestoßen, die sich wie Thomas Pynchon und Don DeLillo in ihrem neunten Lebensjahrzehnt befinden. Andere wie Paul Auster brauchen noch zwei, drei Jahre, bis sie zu dieser Kohorte aufschließen. Der noch ältere Cormac McCarthy hingegen ist letzten Juni im Alter von fast 90 gestorben. Es ist zu erwarten, dass die Themen Alter und Tod im Werke Fords einen immer deutlicheren Niederschlag finden werden.
Wikipedia schreibt über Fords Werk: „Bekannt wurde er vor allem durch seine Romane über den Sportreporter und späteren Immobilienmakler Frank Bascombe: Der Sportreporter, Unabhängigkeitstag, Die Lage des Landes, Frank und Valentinstag.“ Das im letzten Jahr erschienene und auch rasch übersetzte Valentinstag gilt als Abschluss dieser lockeren Romanreihe, in der Ford seinem Protagonisten, dem Ich-Erzähler Frank, seit 1986 die Treue hält. Wer sich für den Inhalt interessiert, sei zunächst auf die Rezensionen von Süddeutscher Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen verwiesen – die stehen, und das ist vielen Literaturinteressierten nicht bekannt, ohne jede Bezahlschranke im Volltext im Portal „bücher.de“, unter der „Produktbeschreibung“ und vor den „Kundenrezensionen“ – ein schätzenswerter Service.
Valentinstag ist nach meinem Eindruck der vielleicht „amerikanischste“ dieser Romane. Frank tritt mit seinem unheilbar an ALS erkrankten 47-jährigen Sohn Paul eine Autoreise zum Mount Rushmore an, also dem Felsenmonument mit den Köpfen der vier berühmten US-Präsidenten. Es geht damit um eine Art Death Road Movie ins Herz des amerikanischen Mythos, wozu vor allem auch kommt, dass der relativ kurze Roman von Anspielungen auf die Welt der US-Kultur und des Kommerzes nur so wimmelt. Der wie immer flüssig und packend übersetzende Frank Heibert sah sich gezwungen, mehrere Seiten von Anmerkungen zu etlichen der names hinzuzufügen, die Ford für sein heimisches Publikum gedropped hat.[1] Das stört jedoch keinesfalls bei der Lektüre; man ertappt sich dabei, erst mal neugierig geworden, weitere der zahlreichen Anspielungen im Internet nachzuschlagen: wie hat man sich die Comicfigur des Roadrunner vorzustellen, wie sieht der „Maispalast“ in Mitchell (South Dakota), eine Art Riesenrummelpark wie Disneyland, eigentlich aus – was ist der Internationale Sprich-wie-ein-Pirat-Tag usw.?
Endspiel als Road Movie
Der Roman zerfällt in zwei etwa gleich große Teile. Der erste umspannt Franks Vorgeschichte und die von Pauls Krankheit sowie ihrer beider Besuch in der Mayo-Klinik, die einen Ruf als weltbeste Klinik genießt, ein Riesenbetrieb mit jährlich über einer halben Million Patienten, in dem Paul an einer Modellstudie für ALS-Patienten teilgenommen hat. Teil II beschreibt die eigentliche Fahrt in drei Tagen Mitte Februar 2020 zum Mount Rushmore nach ihrem fast fluchtartigen Aufbruch aus der Klinik – Paul sollte wegen seines hervorragenden Mitwirkens als Studienteilnehmer geehrt werden; die damit verbundenen Lobhudeleien sind ihm und Frank ein (vermeidbarer) Gräuel. Vor und nach den beiden Hauptteilen sind ein wenige Seiten umfassendes Vor- und ein Abspiel mit dem gleichlautenden Titel „Glück“ geschaltet.
Die beiden Bascombes mieten sich ein Oldtimer-Wohnmobil und brechen zu Pauls vermutlich letzter Reise auf.[2] Frank nimmt die Betreuung seines Sohnes dabei auf sich, um gemeinsam noch einmal etwas Schönes zu unternehmen. Die monumentalen Präsidentenköpfe am Mount Rushmore sind bekanntlich eines der in Stein gehauenen Herzstücke der amerikanischen Kultur wie sonst vielleicht nur noch die Freiheitsstatue in New York.
Nicht nur Paul leidet unter erheblichen Einschränkungen seiner Mobilität (ist schon auf einen Rollstuhl angewiesen) und an Artikulationsschwierigkeiten wie Schluckbeschwerden – immer den bevorstehenden Erstickungstod vor Augen. Auch der (spiegelbildlich zu Pauls Alter) 74-jährige Frank[3] bewegt sich mitunter reichlich mühsam, hat bereits einen „kleinen“ Schlaganfall (TIA) hinter sich, erfährt gelegentlich bedrohlich wirkende Wortfindungsschwierigkeiten, leidet unter morgendlichen Schwindelanfällen, hat oft Schulterschmerzen und ist überhaupt von einer gewissen Wackeligkeit, von Problemen mit der Prostata und seiner Potenz ganz zu schweigen. Nicht ganz zu schweigen allerdings, denn immer noch hat er, nach zwei gescheiterten Ehen, den Versuch nicht ganz aufgegeben, mit Frauen in näheren, erotischen Kontakt zu kommen. So fühlt er bei seiner Uraltfreundin Catherine, einer Ärztin, die ihn immer auf Distanz gehalten hat und jetzt bei der Vermittlung in die Mayo-Klinik gute Dienste geleistet hat, bei Telefongesprächen unverblümt und doch nicht aufdringlich vor, ob sich noch etwas Verbindlicheres ergeben könnte. Oder er besucht während Pauls Klinikaufenthalten eine charmante vietnamesische Masseurin, in die er sich ein bisschen verliebt – allerdings ebenfalls ohne Erfolg, sie ist zu allen Kunden ganz reizend, verfolgt aber ihren eigenen Weg. Auf der Fahrt selbst kommt er gern mit attraktiven weiblichen Hotelgästen in näheren Kontakt.
Von diesen Techteleien und wenigen ihn nervenden Telefonaten mit Pauls besorgter Schwester abgesehen, widmet sich Frank aber ohne Einschränkungen seinem Sohn. Nun ist ihrer beider Verhältnis alles andere als unkompliziert. Durch das Bewusstsein von Pauls bevorstehendem Ende werden alle Konflikte, die die beiden im Laufe des Lebens hatten, auf die Spitze getrieben. Verschärft wird dies noch dadurch, dass Paul ein notorischer Witzbold ist, ganz anders als sein lakonischer, zurückhaltender und stets freundlicher, um nicht zu sagen höflicher Vater. Die in den USA ohnehin, wenn wir den Filmen und Romanen glauben wollen, verbreitete Tendenz zu schlagfertigen, gern auch leicht grobianischen Dialogen wird in dieser kammerspielartigen Situation im Führerhaus des Autos noch zugespitzt durch Pauls verzweifelte Versuche der Provokation seines bis zu einem gewissen Grad sehr nachsichtigen Vaters. Und da ist es sehr interessant zu verfolgen, wie die Dialoge der beiden immer wieder auf den Tod nur anspielen, obwohl die Direktheit ihres Redestils eine umfassende Offenheit zu suggerieren scheint.
Rededuell in der Fahrkabine
Paul, auch wenn er auf Frank angewiesen ist, rebelliert permanent gegen seinen Vater, dessen Schutzmechanismen genau wie seine Reserviertheit; einmal wirft er ihm vor, er hätte „Professor für unpersönliche Beziehungen“ werden sollen. Pauls wütende, oft sarkastische, ja zynische Spitzen gegen Frank werden von diesem so gut es geht entschärft und versucht, in einen ehrlichen Dialog umzuleiten, ohne mit allzu großer Nachsicht noch mehr Wut hervorzurufen. Frank hatte vor der Fahrt gehofft, über die Blödelebene hinaus gute Gespräche über Pauls Leben oder vielmehr über das Leben selbst zu führen. Paul hatte vor seiner Krankheit eine desolate bis prekäre Existenz geführt und lebte allein. Vor der ALS-Diagnose hatte er einen Job als „Human Relations Logistiker“ an einem theologischen Seminar, also als eine Art besserer Wachmann.
Paul lehnt es zu Beginn schroff ab, ernsthafte Gespräche über Leben und Tod zu führen – über das Sterben gebe es nichts zu bereden, er mache lieber Witze. Dennoch stoßen beide unvermeidlich an manchen Punkten auf diese Themen, müssen aber feststellen, dass sie sich nicht schlüssig beantworten lassen. Kurz vor dem Ende verschiebt sich das. „‚Ein tolles Leben hab ich nicht hingelegt, oder, Frank?‘ Er sieht mich nicht an. ‚Nein. Aber du hast dich ordentlich geschlagen.‘ So bringt er die schweren Themen für uns aufs Tapet – als etwas, das wir auf dem Weg zu etwas Wichtigerem nicht sagen.“
Auch Frank stößt, vor allem in seinen bilanzierenden Selbstgesprächen, mehr und mehr auf die Erkenntnis, dass sich „das Eigentliche“ im Blick auf das Leben nicht oder nur partiell und in immer neuen Anläufen, in zum Teil paradoxen Formulierungen umkreisen lässt oder er sich pauschaler Phrasen bedienen muss. Aus der Hospizarbeit mit unheilbar erkrankten Menschen ist bekannt, dass sehr tiefschürfende Gespräche über Lebensbilanz und den Umgang mit dem Tod eher selten oder nebenbei vorkommen. Viel wichtiger sind die Präsenz im Kontakt mit den Sterbenden und das gemeinsame Ausschöpfen dessen, was es an Lebensmöglichkeiten noch gibt. Und genau diese, um ein pathetisches Wort zu verwenden, liebende Präsenz bringt Frank auf und erduldet so auch manche Unverschämtheit seines leidenden Sohnes, der ihn „Lawrence“ nennt (nach Lawrence Nightingale).
Präsenz und Beobachtung
Paul hatte seine Arbeit als Wachdienstler übrigens als diskrete „Vor-Ort-Überwachung“ charakterisiert und postuliert: „Wir sind eine Präsenz. Per se.“ In Franks scharfer Sicht zählt Paul zu den oddments, Restposten, „Restexemplaren“, wie Heibert übersetzt; Sonderlinge, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, an Kiosken und in Bibliotheken herumhängen, immer grimmig beschäftigt wirken; alles Leute, die Frank als „wässrige Präsenzen am Rande unseres Blickfelds“ bezeichnet, die sich aber niemals Schnellfeuergewehre kaufen und das Feuer auf Unschuldige eröffnen. Dieser fast unerbittliche, soziologische Blick auf Randexistenzen, an deren oberen Rand sich eben auch Paul gesellschaftlich bewegt, ist typisch für Frank in seiner Rolle als genauer Beobachter. Zugleich bringt er in der Beziehung zu seinem Sohn seine ganze, unmittelbare Präsenz ein, konzentriert und mit vollem Einsatz, im klaren Bewusstsein ihrer unterschiedlichen Rollen und Positionierungen.
In diesen stets knappen Dialogen mit Paul, die mehr einem Florettfechten ähneln als langatmigen Auseinandersetzungen, eher einem kurzen Abgleich von Positionen als endlos mäandernden Streitgesprächen wie auch in dem konzentrierten Wahrnehmen der Realitäten um die beiden herum, in Malls, Motelrezeptionen, Restaurants hat Frank einen äußerst scharfen Blick auf manche Vulgarität – in alteuropäischer Sicht! – der US-amerikanischen Alltagskultur und auch ein Sensorium für ihre Abgründe. Er, der schon einmal mit einer Schusswaffe verletzt worden ist, hat bei Menschenansammlungen immer das ungute Gefühl, gleich könne irgendjemand auf ihn schießen, und auch unter den Köpfen der vier ikonischen Präsidenten beschleicht ihn die Vorstellung, irgendwo könne ein Scharfschütze lauern und das Feuer eröffnen.
Mit schonungslosem Blick beschreibt er auch diesseits solch drohender Einbrüche brutaler Gewaltakte manch groteske Szenen, sei es in dem gutgeölten Krankenhausbetrieb, sei es in den leerlaufenden Aufdringlichkeiten der grellen Konsumwelt, sei es in den menschliche Zuwendung versprechenden Etablissements von Massagesalons. Wenn Frank an einem perfekt organisierten, auf empathische Unterstützung abzielenden Kurs der Mayoklinik für pflegende Angehörige von ALS-Patienten teilnimmt, nimmt er sofort die von Paul zuvor treffend kritisierte Rolle des „positivistischen Jedermanns“ ein, der sich alles anhört, notiert, nickt, ein wenig herumwitzelt und blinzelnd fördernde Fragen stellt („Verstehe ich das richtig…?“). Diese Fähigkeit zum selbstkritischen Blick des Ich-Erzählers auf das eigene Verhalten und Denken mildert die mitunter fast sarkastisch anmutende Schilderung der Außenwelt.
In deren wertende Tonlagen mischen sich sicherlich Erzählerwahrnehmung und Autorenkommentar – dennoch ist Frank alles andere als eine Puppe des Bauchredners Ford.[4] Er ist auch kein Schwadroneur, wie der FAZ-Rezensent meint, der zu allem seinen Senf dazugebe. Franks erlebte Rede changiert zwischen Selbstgespräch, also innerem Monolog, und Erzählerbericht und tritt in den Dialogen mit Paul, in den Gesprächen mit Vermietern oder Hotelpersonal, auch in den Gesprächen mit Tochter, Freundin und Masseurin nach außen, sozial gefiltert und abgedämpft. Wenn Frank ein Schwadroneur ist, dann müsste auch jemand wie Leopold Bloom, der doch nach außen hin den Tag über nur wenige kurze Unterhaltungen hat, als bodenloser Schwätzer gelten.
Zur Geilheit alternder Männer
Speziell seine nicht endenden Anstrengungen auf dem Gebiet des Erotischen, die halbwegs ernst gemeinten, wenn auch telefonisch geäußerten Heiratsanträge gegenüber seiner Freundin wie auch gegenüber der Masseurin – beide lassen ihn ins Leere laufen –, die Flirtversuche mit Zufallsbegegnungen – all das in diesen zwei oder drei Handlungstagen: ist das nun fast peinlich, wie Frank zunächst selbst auch der Besuch des Massagesalons peinlich ist? Ist das gar der Ausdruck einer Sexbesessenheit angesichts der schwindenden realen Potenz?[5]
Nun ist es einfach, angewidert über die ungebremste Geilheit alter weißer Männer den Stab zu brechen. Auch ich war unangenehm berührt, als ich mich bei einem Besuch in einem Pflegeheim um einen alten dementen Mann kümmern sollte und mir die Wohnbereichsleiterin mitteilte, sie hätte den Kontakt von Pflegerinnen zu ihm reduzieren müssen, weil er die Schwestern aufgefordert habe, zu ihm ins Bett zu kommen.
Ein paar Jahre später las ich das Buch Unzertrennlich. Über den Tod und das Leben (2021), das der mittlerweile 92jährige amerikanische Psychoanalytiker und Autor populärer Philosophie- und Psychotherapieromane (Die rote Couch, Das Spinoza-Problem, Die Schopenhauer-Kur, Und Nietzsche weinte) Irvin D. Yalom gemeinsam mit seiner Frau Marilyn nach ihrer Krebsdiagnose verfasst hatte. Sie verstarb über diesem gemeinsamen Briefwechsel mit ihrem Mann. Er schrieb es fertig und reflektierte auch über seine Anstrengungen, weiterzuleben. Entsetzt und zutiefst beschämt stellte er kurze Zeit nach ihrem Tod fest, wie obsessiv er von sexuellen Vorstellungen heimgesucht wurde, wie manisch er auf den Anblick der Brüste von gemeinsamen Freundinnen fixiert war, die ihn zum Trost besuchten. Als er sich entschloss, das Thema Sex und Trauer ernsthaft zu verfolgen, musste er feststellen, dass es in der Fachliteratur so gut wie keine Untersuchungen gibt. Irgendwann fiel ihm dann der Artikel einer praktizierenden Ärztin aus einer Zeitschrift in die Hände, in dem es heißt: „Aber wenn Menschen taub vor Schmerz sind, kann Sex ihnen dabei helfen, wenigstens irgendetwas zu fühlen. Wenn die Bewältigung des Todes Teil des täglichen Lebens ist, stellt dies auch etwas Lebensbejahendes dar.“ So können die Taubheit in der Trauer oder die Angst vor dem Tod in dieser verzerrten Form zu einem letzten verzweifelten Aufflackern des Lebenswillens führen. So nahe können Leben(slust) und Tod(esfurcht) oder Trauer liegen.
Zurück zu unserem Ich-Erzähler Frank. Meines Erachtens sprechen seine Offenheit und sein Respekt für die Frauen, mit denen er seine Beziehungen vertiefen will, eher für ihn.
Glück und Sterbebegleitung
Im etwas umständlichen Vorspann verteidigt Frank seine vorläufigen, etwas improvisiert wirkenden Überlegungen zum Themenfeld Glück und gutes Leben damit, er habe vor Pauls Krankheit sich durchaus als glücklich bezeichnen können: „Und so würde ich über den Daumen gepeilt schon sagen, ich bin glücklich gewesen.“ Das mag als der bekannte US-amerikanische Pragmatismus durchgehen, als robuster, gut geerdeter Optimismus.
Aber jetzt sei er einfach gezwungen, sich den Themen Lebenssinn und Tod, beides zwei Seiten derselben Medaille, gründlicher zuzuwenden. Das lässt einiges befürchten; Frank wird zwar rasch als scharfer Beobachter erkennbar, aber nicht unbedingt als philosophischer Kopf. Er geht zumindest erfrischend unkompliziert mit der Philosophie um, die ja, als Wissenschaft, in den universitären Elfenbeintürmen weitgehend vor sich hindämmert, und klopft sie energisch auf Antworten zu seinen Fragen ab. Es muss uns ohnehin nicht verwundern, dass die alte philosophische Frage nach dem guten Leben in den Vereinigten Staaten, in denen der pursuit of happiness gewissermaßen Verfassungsziel ist, so unverblümt aufgeworfen wird.[6]
In den Hauptteilen kommt Frank immer wieder, aber eher nebenbei, auf diese Grundfrage zurück. Während der Reise führt er eine Taschenbuchausgabe von Heideggers „Sein und Zeit“ mit sich, die er vor dem Schlafengehen durchblättert und einige Fundstücke kommentiert.
Im Schlussteil, der in der Zeit nach dem Oktober 2020 angesiedelt ist, erfahren wir, dass Paul schließlich am 19.9.2020, also ein halbes Jahr nach der Fahrt, nicht ALS, sondern dem Coronavirus erlegen ist.[7] Der Name der „völlig neuen Krankheit“ wird in Valentinstag nicht erwähnt, ist aber eindeutig.
Nach der ersten Phase der Trauer schließt sich Frank keiner Trauergruppe „aus trübsinnigen Jammerlappen und Klageweibern“ an – durchaus ein typisch männliches Verhalten[8]. Zu diesem Vorurteil mag beigetragen haben, dass sich Franks zweite, von ihm geschiedene Frau beruflich als Trauerbegleiterin betätigt. Er hält sich fürs erste in einem Gästeappartement im Haus seiner alten Freundin auf, die ihn großherzig aufnimmt, aber deutlich auf Distanz hält. Und da hat Frank dann genügend Zeit, Bilanz zu ziehen, entdeckt überrascht, dass er trotz des Todes seiner beiden Söhne und seiner ersten Frau kein trauriger Mann ist, sondern eben doch „so befriedigt und nahezu glücklich wie kaum je zuvor“.
Zu dieser Bilanz kann er kommen, weil er während der letzten Reise mit seinem Sohn seine väterliche Rolle als Sterbebegleiter des todgeweihten Sohnes trotz aller Streitigkeiten mit Bravour und ohne übertriebenes Pathos ausgefüllt hat.[9]
Existenzialismus ohne Großdenker
Es ist interessant, sich die expliziten Bezüge auf Heidegger, der Frank als philosophischer Sparringspartner dient, einmal genauer vorzunehmen. Das erste Mal taucht „der gute alte Heidegger“ als unverdächtiger Stichwortgeber auf, als Frank beschreibt, wie er als junger Englischlehrer seinen Student:innen beizubringen versucht hat, wie man mit Sprache, mit Wörtern, den Dingen permanent Sinn verleiht. Heidegger umschrieb diesen Prozess mit den Worten, alles sei „unterwegs“, also wohl unter Verzicht auf den von Adorno gegeißelten „Jargon der Eigentlichkeit“. Frank wird übrigens als sehr sprachsensibel beschrieben. Er sagt von sich selbst, er hasse Ausdrücke wie „am Ende des Tages“ und notiert selbstkritisch, wenn er sich doch einmal des allgegenwärtigen I guess (Ich vermute/nehme an) bedient. Von hier wäre es ein naheliegender Weg, zu Wittgenstein abzubiegen und zu seinem Begriff der Sprachspiele zu greifen.[10]
Als er, noch vor Antritt der Fahrt, Catherine im Telefongespräch beiläufig von seiner Heidegger-Lektüre erzählt, stutzt sie kurz „War der nicht ein Nazi?“ Frank entgegnet: „Nicht in allem. Er hat viel über das menschliche Dasein nachgedacht.“ In der nächsten Erwähnung des sich gern als knotenstockbewaffneter Schwarzwaldschrat inszenierenden Philosophen kommt es aber zu einer ersten, deutlichen Distanzierung von dem „ranzigen alten Heidegger“. Und zwar nicht wegen seiner Parteimitgliedschaft oder der „Schwarzen Hefte“, sondern in scharfer Kritik des Begriffs vom „Sein zum Tode“. Das Konzept, allein das Bewusstsein vom Ende des Lebens ermögliche es, dessen Fülle und Geheimnis auszuschöpfen, tut er als Blabla ab. Während der Reise selbst versetzt die abendliche Heideggerlektüre Frank, wie er erzählt, unweigerlich nach fünf Minuten in den Tiefschlaf.
Als Paul und Frank abends im Hotelzimmer in einem weiteren Anlauf auf das Thema Tod zu sprechen kommen, gibt Frank seiner Hoffnung Ausdruck, das Sterben sei gar nicht so schlimm, „wie eine Glühbirne, die einfach ausgeht.“ Das hofft er, den Gedanken an Pauls drohenden Erstickungstod im Hinterkopf, sagt dem aber nur, man solle „es als befreiend denken. Das habe ich alles in einem Buch gelesen.“ Und Ford setzt als Autor hinzu: „Sein und Zeit, Seite 263.“ Dieses genaue Zitieren mag belegen, dass es sich hier nicht um ein Spiel mit Assoziationen handelt, mit zufälligen Fundstücken aus Angelesenem, sondern um eine ernsthafte Auseinandersetzung.
Kurz danach kommt es zum Tiefpunkt während der immer wieder von Momenten wütendender Streitsucht (Paul) und mühsamer Beherrschung (Frank) geprägten Reise, als der Vater seinen Sohn zur Abwechslung auch einmal ihren Oldtimer fahren lassen soll und es ihm, bei bitterer Kälte, auf einer kleinen Landstraße nicht gelingen will, Paul auf den Fahrersitz zu hieven und er dabei fast selbst stürzt; sie brechen den Versuch ab. Dann aber erfährt Frank einen der Glücksmomente, die es auf ihrer Fahrt eben auch gibt, als Paul angesichts des ganzen „Mumpitz mit Maisbezug“ im „Maispalast“ des Städtchens Mitchell, kurz vor dem Mount Rushmore, vor Begeisterung schier ausrastet. Erleichtert vermerkt Frank: „Vorläufig bin ich erlöst.“
Als er, zum Auftakt des nächsten Kapitels, in der folgenden Nacht neben Paul nicht in den Schlaf finden kann und wieder in „Sein und Zeit“ blättert, zitiert er eine Stelle daraus (sie findet sich auf S. 384 – das wird diesmal nicht angegeben, aber dafür der ganze Satz wiedergegeben): „Die ergriffene Endlichkeit der Existenz reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden nächsten Möglichkeiten des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück.“ Diese pseudoheroische Geste des Zurück- oder Herausreißens hat Heidegger schon in der ersten zitierten Passage als Mittel empfohlen, sich der „Alltäglichkeit des Man-selbst“ zu entziehen, in dem „jedes Mitsein mit anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht“.[11] Frank weist diese Haltung intuitiv zurück und plädiert geradezu dafür, sich angesichts der Zumutungen von Alter und Tod bei „Leichtnehmen“ und „Sichdrücken“ auszuruhen.
Je näher sie dem Ziel der Reise kommen, desto mehr stellen sich solche von beiden erlebten Glücksmomente ein. Es kommt zu entspannten Witzeleien während der Fahrt – ein altes Ritual zwischen beiden, sie tauschen sich über Homonyme aus: „Mäkelt ein Makler an jedem Makel herum? Kann eine Taube wirklich nichts hören?“ „Sind tolle Hechte wirklich Hechte?“ Als Paul schläft, seufzt Frank innerlich auf: „Und ich werde, nur diesen einen Augenblick lang, unerklärlich glücklich.“ Auch den Besuch der Köpfe, die Paul komplett lächerlich und sinnlos, aber super findet, können sie gemeinsam genießen.
Im Anschluss folgt der Abspann, obwohl die Reise noch einige Tage weitergeht. Wir erfahren von dem Coronatod seines Sohnes – die Angehörigen dürfen wie bei uns nicht bei den Sterbenden weilen.[12] Paul und Frank tauschen sich noch über Notizzettel aus. Franks Antworten auf Pauls Fragen nach einer Arbeitsdefinition eines „guten“ Lebens müssen vom Pflegepersonal desinfiziert werden, bevor sie Paul vorgelesen werden können.
Ein halbes Jahr später zieht Frank bei aller Trauer illusionslos Bilanz des Lebens seines Sohnes, weist heroisierende Phrasen wie „er hätte einen starken Lebenswillen“ gezeigt, zurück und setzt sich von Pauls Schwester ab, die behauptet, erst gegen Ende seines Lebens habe sie begriffen, was ihr Bruder für ein komplexer, vollständiger Mensch gewesen sei – was er für Frank schon immer gewesen ist. Als Frank über seine jetzige Tätigkeit als Vorleser für Blinde erzählt, berichtet er auch von dem endgültigen Bruch mit „dem alten Nazi Heidegger“. Der mache das Leben, das schon schwer genug sei, noch ein kleines bisschen schwerer, indem er die Momente von Freiheit, Leichtheit und Klarheit immer gleich wieder einschränke und zubaue.
Die Frage nach unserem Wesenskern
Frank bringt seine eigene Lebensphilosophie so auf den Begriff, dass er eine Mischung von Beobachtung und Selbstbeobachtung nahelegt. Seine vorsichtige, immer verbindliche Distanziertheit schafft die Möglichkeit zur Kritikfähigkeit seines sich abschirmenden Ich, das sich zugleich auch immer selbst in Frage stellt. „Sorgfältiges Betrachten aus nicht allzu großer Nähe“ bringt er diese Haltung auf den Punkt. Was den Kern seines Ichs ausmacht, hat sich das Erzähler-Ich auch in den vorhergehenden Bascombe-Romanen gefragt. Auch in Valentinstag wird die Frage nach dem „essenziellen Selbst“ gestreift, als Paul von einer behandelnden Ärztin berichtet, die ihn damit zu motivieren versucht habe, dass er sein „wesentliches Ich“ gerade erreiche. Auch Pauls Schwester wird sich später dieser Denkfigur bedienen. Frank erwidert, als Paul ihm das erzählt, nur halb ironisch, er sei für sich „nie davon ausgegangen, dass so was in mir schlummert.“
Im direkt vorhergehenden Band der Bascombe-Reihe, dem vor zehn Jahren erschienenen Erzählungsband Frank hatte sich dieser mit der Kritik seiner ersten Frau Anne an seiner Reserviertheit auseinandersetzen müssen.[13] Er hatte die Sterbende in der Klinik besucht und setzt sich rückblickend mit ihrer essenzialistischen Haltung auseinander, wir alle hätten ein festes Ich, einen unveränderlichen Charakter, einen Persönlichkeitskern. Er hingegen entwirft das Konzept eines default self,[14] welches die Camouflage erlaubt, also die Verhüllung dessen, was ich „eigentlich“ denke, um erträglich mit den anderen auszukommen. Zugleich gestattet es, dass, wenn wir so tun, als ob wir „gute“, sittlich handelnde Persönlichkeiten wären, dies ja dann vielleicht im Ergebnis tatsächlich eintrete! Und, diesen Gedanken noch weiter auf die Spitze getrieben, wenn ich meinen guten Kern sozusagen irgendwo wahrnehme, als getrennt von und eben nicht identisch mit mir, dass ich mich dadurch vielleicht wirklich moralisch einwandfrei verhalten könnte?
Ganz am Ende von Valentinstag greift der Ich-Erzähler die Frage ein letztes Mal auf: „Ich glaube ja nach wie vor nicht, dass ich ein essenzielles Selbst habe, aber falls doch, so liegt es immer offen da.“ Wahrnehm-, aber nicht greifbar, offen und verhüllt in einem. Frank bleibt seiner Position des Nicht-Identitären und seiner Moral, die ein „gutes“ Handeln erlaubt, trotz ihrer paradoxen Fundierung treu: dadurch, dass ich so tue als ob, tritt das gewünschte Ergebnis möglicherweise wirklich ein. Es gibt keinen Kern, kein Selbst, das das Ich sozusagen zu erreichen hätte – aber wenn ich mich so verhalte, entwickle ich mein Ich auf dieses Ideal hin. In seinem Verhalten gegenüber seinem todgeweihten Sohn verzichtet er, in dieser nicht risikofreien Autotour, auf seine Schutzmechanismen und setzt sich vorbehaltlos aufs Spiel, indem er seine Auffassung vom richtigen Leben diesem Praxistest unterwirft.
Das Buch endet mit einer kurzen Schlusssequenz über einen weiteren Anfall von Amnesie, den Frank erleidet – eine Szene, die ihm wie wohl auch der bevorstehende eigene Tod keine Angst macht. Aber wäre sein genaues Hinschauen und Beobachten nicht nur der anderen, der Mit- und Umwelt allgemein, sondern auch des eigenen Verhaltens und Denkens nicht überhaupt eine bescheidene, für den Alltag taugliche Lebensphilosophie – was auch das entschiedene Handeln umgreift, wenn es darauf ankommt? Ohne großen Anspruch, ohne hohles Pathos, ohne Essenzialismus oder Heroismus? „Tun, was zu tun ist“, wie die Zen-Leute nüchtern sagen, ganz ohne Ausrufungszeichen.
[1] Nur die Übersetzung von bucks (umgangssprachlich für „Dollar“) mit „Schleifen“ will mir nicht einleuchten.
[2] Wer will, kann sich Fotos des Dodge RAM 1500 im Netz anschauen, auf den man sich noch ein Wohnwagenteil montiert vorstellen muss, das der alte Mann und sein malader Sohn allerdings überhaupt nicht nutzen. So ein Fahrzeug hat die ästhetische Anmutung eines SUV, deren aufgeblähte Dimensionen die FAZ einmal mit dem Eindruck eines in Wasser geworfenen Gummibärchens verglich. Mir unverständlich, wieso der Hanser-Verlag das Titelblatt mit dem Foto eines im Vergleich dazu zartgliedrigen Bullys (wenn es denn einer ist) verziert.
[3] Zufällig fast genau mein Alter! Ich teile auch einige von Franks Alterserfahrungen (TIA…)
[4] Ironischerweise versucht sich Paul immer wieder als Bauchredner und hat zu Franks Verdruss seine Puppe mit Namen „Otto“ dabei. Er hat aber auch hier nur mittelmäßiges Talent.
[5] Ich erinnere mich noch gut an die peinlich berührte Reaktion der in der Arno-Schmidt-Mailing-List versammelten Hardcore-Schmidtianer, als Susanne Fischer für die Arno-Schmidt-Stiftung im September 2021 die Notizzettel zu dem letzten, nicht mehr vollendeten Roman Schmidts veröffentlichte, über dem er 1979 verstarb – diese Zettel wimmeln offenbar von pornographischen Notaten, und manche der Experten waren spürbar froh, wenn sich darunter auch einige befanden, in denen es hieß, je mehr er, Schmidt, über Sexualität nachdenke, desto weniger könne er der Sache selbst abgewinnen.
[6] Möglicherweise wirkt das auch nur in deutschen Ohren so, weil bei unserem „glücklich“ immer das Zufallsmoment mitspielt, für das die Engländer/Amerikaner das Wort „lucky“ haben. Im Song Lucky Man (1970) von Emerson, Lake & Palmer, einem wahren Ohrwurm, handelt es sich um einen Götterliebling ohne einen Lebensweg mit Schlaglöchern und Fallen. Wenn Frank von sich als happy spricht, meint das, dass er im Großen und Ganzen zufrieden ist mit seinem Leben. Im Deutschen höre ich immer das „Glück gehabt“ mit.
[7] Eine meiner Schwestern, mit etlichen Vorerkrankungen geschlagen, erlag schon im April 2020, also noch bevor Impfstoffe entwickelt waren, dem Virus. Die Zeit der Epidemie erscheint, mir jedenfalls, wie etwas, was sich in grauer Vorzeit abgespielt hat.
[8] Nicht nur in Trauergruppen, sondern in der Hospizbewegung insgesamt bilden Männer eine nahezu exotische Minderheit.
[9] Vielleicht schwingt dieser Care-Aspekt fürsorglicher Unterstützung auch mit in dem Titel des Originals Be Mine, der sich nicht ins Deutsche übersetzen ließ, ohne merkwürdig (oder nach einer Liebesgeschichte) zu klingen.
[10] Dazu aktuell Martin Seel: https://literaturkritik.de/mueller-seel-spiele-der-sprache,30307.html
[11] Sartre, politisch der absolute Antipode Heideggers, teilt diese Geste des Losreißens von den Determinierungen der oder der Totalisierung durch die Gesellschaft. Das Individuum, das seine vielfältigen Prägungen abstreifen, wegschneiden, die Entfremdung „überschreiten“ müsse, zieht sich quasi selbst am Schopf aus dem Sumpf: „Der Mensch bestimmt sich also durch seinen Entwurf,“ so lautet das Postulat.
[12] Bei der Beerdigung meiner an Covid verstorbenen Schwester im Frühjahr 2020 war nicht einmal die Nutzung der Trauerhalle erlaubt. Maximal zehn Teilnehmer durften sich im Lockdown unter freiem Himmel versammeln.
[13] Im Original als Let Me Be Frank With You, also mit einem leider nicht übersetzbaren Wortspiel mit seinem Vornamen, das ungeschönte Ehrlichkeit verspricht
[14] Frank Heibert gibt diesen Ausdruck, den man auch als „Standardselbst“ übersetzen kann, mit „Elementar-Ich“ wieder. Default kann auch die mitschwingende Nebenbedeutung von Versäumnis, Verzug, Mangel haben, also semantische Schattierungen andeuten, die einer Vorstellung eines intakten Kern-Ichs gerade nicht entsprechen.
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